Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Eine Checkliste für Staatseingriffe
Melanie Häner, zvg.

Eine Checkliste für Staatseingriffe

Fleischkonsum, Altersvorsorge und Kinderbetreuung: Wo das Individuum alleine entscheiden und wo der Staat Einfluss nehmen soll.

 

Verantwortung bedeutet einerseits, die Aufgaben im jeweiligen Zuständigkeitsbereich ex ante nach bestem Wissen und Gewissen zu erledigen. Und andererseits, für etwas Geschehenes ex post einzustehen. Dabei stellt sich die Frage, wofür ein Individuum selbst verantwortlich ist und was in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft in der Verantwortung des Staates liegt. Ich veranschauliche dies anhand dreier konkreter Beispiele aus unterschiedlichen Lebensbereichen: anhand des Fleischkonsums, der Altersvorsorge und der Kinderbetreuung.

Der Instrumentenkasten der Ökonomen

Bevor ich mich den einzelnen Anwendungsfeldern widme, gebe ich einen kurzen Abriss über die Analyseinstrumente, die einer Ökonomin zur Verfügung stehen, um staatliche Verantwortlichkeiten festzustellen. Eines der wohl bekanntesten ökonomischen Konzepte stellt das sogenannte Marktversagen dar. Wie es der Begriff vermuten lässt, werden damit Situationen beschrieben, in denen der Markt – also das Spiel von Angebot und Nachfrage – nicht greift.

Ein Beispiel für ein Marktversagen sind die öffentlichen Güter. Sie zeichnen sich durch fehlende Ausschliessbarkeit und Nichtrivalität im Konsum aus. So ist es nicht möglich, Leute aus einem frei zugänglichen Stadtpark auszuschliessen (fehlende Ausschliessbarkeit). Gleichzeitig kann sich eine Person auch uneingeschränkt bewegen, wenn es noch andere Personen im Stadtpark hat (Nichtrivalität im Konsum).

Dies hat zur Folge, dass niemand bereit ist, für den Stadtpark zu bezahlen, weil er sowieso nicht von dessen Nutzung ausgeschlossen werden kann. Alle hätten aber für sich einen Nutzen, wenn der Stadtpark zur Verfügung gestellt würde. Mit anderen Worten: Der Marktmechanismus versagt, da sich niemand verantwortlich fühlt. Damit der Stadtpark dennoch gebaut und gepflegt wird, ist deshalb ein staatlicher Eingriff notwendig. Somit lautet eine ökonomische Grundregel: Die Bereitstellung öffentlicher Güter liegt in der Verantwortung des Staates.

Eine andere Form des Marktversagens stellen die externen Effekte dar. Darunter verstehen Ökonomen Kosten, die nicht beim Verursacher selbst, sondern bei unbeteiligten Dritten anfallen. Hier liegt die Verantwortung des Staates darin, eine Regulierung zu entwerfen, die diese externen Effekte internalisiert, also die Kosten dem Verursacher aufbürdet, da dieser wiederum nicht freiwillig bereit ist, Verantwortung für die externen Kosten zu übernehmen. Paradebeispiel dafür sind Regulierungen zur CO2-Kompensation.

«Verbote und Zwang führen per se zu Ineffizienzen,

weil sie alle Menschen über einen Kamm scheren

und eine differenzierte Regulierung verhindern.»

Nebst dem Beheben von Marktversagen kommt dem Staat auch die Verantwortung der Umverteilung zu, also in einem politisch bestimmten Rahmen einen Teil des Geldes jener, die viel verdienen oder haben, jenen zuzuleiten, die wenig verdienen oder haben. Die Umverteilung dient der gesellschaftlichen Kohäsion und sorgt dafür, dass alle Bürger am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Mittels dieser drei Werkzeuge aus dem Instrumentenkasten der Ökonomen lassen sich in unterschiedlichen Politikfeldern staatliche von individuellen Verantwortlichkeiten trennen. Aber was heisst das nun konkret?

Es geht um die Wurst

Kommen wir zum ersten Anwendungsfall: dem Fleisch­konsum. Die Ernährung wird derzeit hitzig debattiert. Man streitet darüber, was gesund, ökologisch und tiergerecht ist und was nicht. Umfragen zufolge sind die Bevölkerungsanteile der Veganer, Vegetarier und Flexitarier in den letzten Jahren stark angestiegen, auch wenn sie weiterhin eine Minderheit bilden. In der Schweiz wird zudem gerade ein Bürgerrat für Ernährungspolitik konzipiert – 100 per Los ausgewählte Personen sollen eine nachhaltigere und krisenresistentere Ernährungspolitik diskutieren. Gleichzeitig sorgte Volkswagen vor einem Jahr für Furore, weil der Konzern in seiner Kantine am Hauptsitz in Wolfsburg kein Fleisch mehr anbietet. So will das Unternehmen einen Beitrag zum Umweltschutz leisten.

Was liegt in der Verantwortung des Staates und wofür ist das Individuum selbst verantwortlich? Es ist empirisch erhärtet, dass die Fleischindustrie mit negativen Externalitäten auf die Umwelt verbunden ist. Sie verursacht Treibhausgasemissionen, hat einen hohen Flächen- und Wasserverbrauch. Entsprechend liegt ein Marktversagen vor, das einen Staatseingriff legitimiert. Aber gewusst wie: Für eine Internalisierung des externen Effekts braucht es nicht etwa ein Fleischverkaufs- oder Konsumverbot. Stattdessen liesse sich der Umwelteffekt mit einer Lenkungsabgabe in Höhe der negativen Externalität durch die Produzenten und Konsumenten abgelten. Konkret könnte dies über eine CO2-Bepreisung erfolgen. So bestünde weiterhin volle Konsumfreiheit, und jeder Konsument könnte eigenverantwortlich über das Ausmass seines Fleischkonsums entscheiden.

Sorgen um die Vorsorge

Auch beim zweiten Beispiel handelt es sich um ein Politikum. Im Sorgenbarometer der Credit Suisse belegt die Altersvorsorge seit Jahren einen Podestplatz.1 Am 25. September wird über einen nächsten Reformversuch der ersten Säule abgestimmt. International gilt das Schweizer 3-Säulen-Modell – trotz stets angeprangertem Reformbedarf – als vorbildhaft.2

Tatsächlich lässt sich darin eine bewährte und trennscharfe Zuteilung der Verantwortlichkeiten erkennen: Die erste Säule, die staatliche AHV, dient der Existenzsicherung. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen, als die Pro­bleme der Altersarmut und die Existenzsicherung von Witwen und Waisen offenkundig wurden. Bis heute hat sie sich erhalten, um allen ein würdevolles Leben im Alter zu garantieren.

Die zweite Säule, die berufliche Vorsorge, wird von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Sie entstand als Initiative einzelner Unternehmen, die ihren Arbeitern auch ein Auskommen im Alter sichern wollten. Seit 1985 ist sie obligatorisch.

Die dritte Säule appelliert an die Eigenverantwortung der Individuen, wobei steuerliche Vorteile einen zusätzlichen Anreiz zur privaten Vorsorge schaffen. Was liegt also bei der Altersvorsorge in der Verantwortung des Staates und wofür ist ein Individuum selbst verantwortlich?

Der staatliche Eingriff sollte sich auf die erste Säule, die existenzsichernde und umverteilende Säule, fokussieren. Der Rest kann durchaus den Individuen überlassen werden, damit diese ihre Alterssparpläne an ihre eigenen Bedürfnisse anpassen können.

Ein Negativbeispiel eines überdehnten, bereits existierenden Staatseingriffs ist die politische Festlegung des Mindestumwandlungssatzes in der zweiten Säule. Der Umwandlungssatz ist der Zinssatz, der bestimmt, wie viel Prozent des angesparten Altersguthabens jährlich ausbezahlt wird. Er ist mit seinen aktuellen 6,8 Prozent viel zu hoch, weil die Lebenserwartung gestiegen ist und sich an den Finanzmärkten längst nicht mehr hohe risikoarme Renditen erzielen lassen. Der überhöhte Umwandlungssatz ist massgeblich mitverantwortlich für die finanzielle Schieflage der Altersvorsorge.

Extreme Dänen

Wechseln wir für das letzte Beispiel von den Ältesten zu den Jüngsten unserer Gesellschaft. Aktuell läuft die Vernehmlassung zur parlamentarischen Initiative, welche die Überführung der Anstossfinanzierung zur familienexternen Kinderbetreuung in eine stetige Unterstützung fordert.3

Ein Marktversagen ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Es gibt einen Markt für familienexterne Kinderbetreuung. Worin liegt hier also die staatliche Verantwortung? Sie liegt darin, zu gewährleisten, dass die Angebote auch von Geringverdienern genutzt werden können. Familienexterne Betreuungsmöglichkeiten haben gemäss empirischer Evidenz nämlich das Potenzial, die gesellschaftlichen Aufstiegschancen der Kinder und die Arbeitsmarktpartizipation von Frauen zu erhöhen. Daraus ergeben sich positive Externalitäten für die Gesamtgesellschaft, was ein Eingreifen des Staates rechtfertigen kann.

Aber auch hier gilt: gewusst wie! Analog zum Fleischkonsum sollte Zwang in einer Gesellschaft, die sich als freiheitlich und demokratisch versteht, verhindert werden. Ein extremes und negatives Beispiel stellt die Ende 2018 in Dänemark verabschiedete Regulierung dar. Sie verpflichtet Familien in bestimmten Gegenden, ihre Kinder ab dem ersten Lebensjahr während 25 Stunden pro Woche extern betreuen zu lassen.4 Diesen Familien wird die Verantwortung abgesprochen, für das Wohlergehen ihrer eigenen Kinder zu sorgen.

«Was nützt eine von 8 bis 18 Uhr

geöffnete Kita den Familien,

die im Schichtbetrieb arbeiten?»

Gemäss empirischer Evidenz aus der Schweiz5 eignen sich demgegenüber Betreuungsgutscheine besonders gut, um den Zugang zur familienergänzenden Kinderbetreuung auch Geringverdienern zu ermöglichen. Die Eltern entscheiden selbst, welches Betreuungsangebot sie wahrnehmen, weil sie ihre Bedürfnisse am besten kennen. Die Betreuungsgutscheine führen zu einem Wettbewerb zwischen den verschiedenen Anbietern und bringen deshalb ein effizientes, den Kundenbedürfnissen entsprechendes Angebot hervor. Denn: Was nützt eine von 8 bis 18 Uhr geöffnete Kita den Familien, die im Schichtbetrieb arbeiten?

Verantwortlichkeiten klar zuteilen

Was also zeigen uns diese drei Beispiele aus unterschiedlichen Politikbereichen? Erstens, dass bei der Entscheidung über staatliche oder private Verantwortlichkeit der ökonomische Instrumentenkasten dienlich ist, um die Verantwortungsbereiche abzugrenzen. Zweitens, dass viele Politikbereiche eine Koexistenz von privater und staatlicher Verantwortung erfordern, diese Verantwortlichkeiten aber umso klarer zugewiesen werden müssen. Und drittens, dass im Falle einer staatlichen Verantwortlichkeit die Wahl eines effizienten Instruments entscheidend ist. Verbote und Zwang führen per se zu Ineffizienzen, weil sie alle Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen über einen Kamm scheren und eine differenzierte Regulierung verhindern.

Die Erkenntnisse lassen sich in einer stichwortartigen Checkliste zusammenfassen; sie kann der Politik als Hilfe dienen, um staatliche und private Verantwortlichkeiten zuzuteilen:

  • Als Daumenregel: Staatliche Verantwortlichkeit besteht im Falle von öffentlichen Gütern, externen Effekten oder bei Umverteilung.
  • Es braucht eine klare Abgrenzung privater und staatlicher Verantwortlichkeiten innerhalb eines Politikbereichs.
  • Falls eine staatliche Verantwortlichkeit besteht, muss ein effizientes und differenziertes Instrument gewählt werden. Pauschalverbote sind zu vermeiden.

  1. Credit Suisse (2021). Sorgenbarometer 2021. Die Pandemie in der ­zweiten Phase. Resilienz und Rückzug in individuelle Lebenswelten.

  2. OECD (2019). Economic Surveys: Switzerland 2019.

  3. 21.403 PA.IV. Überführung der Anstossfinanzierung in eine zeitgemässe Lösung.

  4. Witcombe, N.A. (2019). Compulsory childcare in socially marginalised areas in Denmark. nordics.info. http://www.nordics.info/show/artikel/­compulsory-childcare-in-socially-marginalised-areas-in-denmark (­Zugriff vom 31.05.2022).

  5. Ramsden, A. (2014). Betreuungsgutscheine in den Gemeinden Luzern, Emmen und Kriens. Eine ökonomische Analyse der Nutzen für Haushalte und Gemeinden im Rahmen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!