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Eine bequeme politische Sackgasse
Eine Strasse in Arzachs Hauptstadt Stepanakert, fotografiert von Lukas Rühli.

Eine bequeme politische Sackgasse

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan behindert den sozialen und wirtschaftlichen Wandel und zementiert die bestehenden Machtverhältnisse in der Region. Eine historische Einführung in die verzwickte Lage.

Der Konflikt um Bergkarabach/Arzach bleibt auch 25 Jahre nach dem Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan ungelöst; und es ist unwahrscheinlich, dass sich dar­an in naher Zukunft etwas ändert. Einerseits bietet die permanente Nichtlösung ausländischen Mächten die Möglichkeit, Einfluss auszuüben. Zum anderen hält sie die politischen Systeme in der Region stabil. Die Verlierer in diesem Machtkampf sind die jüngeren Generationen in Armenien und in Arzach, denen bisher nur die Wahl blieb, sich der herrschenden Ordnung anzudienen oder aber das Land zu verlassen. Um diese politische Sackgasse zu verstehen, müssen wir zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurückkehren.

Eine vergiftete Geschichte

Im April 1915 beschloss die osmanische Regierung im Zuge des Ersten Weltkriegs die Vernichtung der armenischen Bevölkerung in Ostanatolien. Mehr als eine Million Armenier starben infolge von Massakern und Deportationen. Die Überlebenden waren oftmals schwer traumatisiert. Später wurden diese Ereignisse unter den Begriff «Genozid» gefasst und zu einer der zentralen Säulen der armenischen nationalen Erzählung sowohl in der armenischen Diaspora als auch in Sowjetarmenien.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten zudem viele Armenier im Südkaukasus, der damals zum Russischen Reich gehörte. Nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches in den Jahren 1917/18 erklärten Georgien, Armenien und Aserbaidschan ihre Unabhängigkeit. Die armenische Republik war jedoch mit unlösbaren Schwierigkeiten konfrontiert. Sie hatte nicht nur keine definierten Grenzen, sie befand sich auch im Kriegszustand mit dem Osmanischen Reich. Besonders umstritten war die Region Bergkarabach, ein von sesshaften Armeniern und turksprachigen Viehhirten besiedeltes Hochland im Süden des Kleinen Kaukasus zwischen Armenien und der neugebildeten Republik Aserbai­dschan, dem östlichen Nachbarn. So wurde der Südkaukasus zur Bühne ethnisierter Gewalt. Die Pogrome gegen die armenische Bevölkerung in Baku im Jahr 1918 und in Schuschi/Şuşa 1920 gehören zu den schrecklichsten Beispielen. Die genauen Opferzahlen sind nicht bekannt, die Angaben variieren zwischen jeweils 10 000 und 30 000 Personen.

Angesichts einer Invasion der türkischen Nationalisten unter Mustafa Kemal (später bekannt als Atatürk) bat die armenische Regierung Moskau um Beistand. Dies führte im Dezember 1920 zur Besetzung Armeniens durch die Rote Armee und dessen So­wjetisierung. In den Verträgen von Moskau und Kars von 1921 trat die Sowjetregierung wenig später bedeutende armenisch besiedelte Gebiete an die Türkei ab, darunter auch den Berg Ararat, das armenische Nationalsymbol: Zugeständnisse, die von vielen Armeniern als Beweis für Moskaus Verrat an ihren Interessen betrachtet werden. Bis heute.

Mit der Etablierung der Sowjetmacht im Südkaukasus endete die Unabhängigkeit Georgiens, Aserbaidschans und Armeniens. Dabei fand aber auch die offene ethnisierte Gewalt ein Ende. Die Sowjets akzeptierten die Existenz von national definierten Republiken als solche. Aus armenischer Sicht traf die Kommunistische Partei 1921 aber noch eine weitere verhängnisvolle Entscheidung, als sie Bergkarabach zu Aserbaidschan schlug. Die Bolschewiki dachten nicht in erster Linie in nationalistischen, sondern in ökonomischen Kategorien. Nach dieser Logik sollte die Verbindung von Bergkarabach mit Aserbaidschan der Region wirtschaftliche Prosperität bringen, da sie viel besser mit Baku als mit Jerewan verbunden war. Es war eine Entscheidung, die bei der armenischen Bevölkerung eine anhaltende Opposition auslöste, insbesondere in Bergkarabach selbst, und obwohl die Sowjetregierung das Gebiet 1923 zu einer autonomen Region innerhalb von Aserbaidschan erklärte.

Die Karabach-Frage der Neuzeit

Die sowjetische Führung versuchte lange, die Karabach-Frage und das Gedenken an den Völkermord kleinzuhalten. Die von Michail Gorbatschow propagierte Politik der Perestrojka (Umgestaltung) und der Glasnost (Transparenz) eröffnete aber Mitte der 1980er Jahre neue Möglichkeiten für die offene Artikulation nationaler Anliegen. Die armenische Nationalbewegung mit ihrer Forderung nach einer Revision des territorialen Status von Bergkarabach stand am Beginn des nationalen Erwachens in der Sowjetunion.

Gorbatschows Regierung zeigte sich nationalistischen Forderungen aus der Peripherie nicht gewachsen. Moskau lehnte einen Transfer von Bergkarabach zu Armenien ab, da dieser Öl ins Feuer anderer Konflikte wie auf der Krim oder in Abchasien zu giessen drohte. Doch das Pogrom in Sumgait am 27. Februar 1988 setzte eine fatale Eskalationspirale in Gang. In dieser aserbaidschanischen Stadt in der Nähe von Baku wurden armenische Einwohner brutal niedergemetzelt. Die aserbaidschanische Polizei griff nicht ein. Mindestens 28 Armenier wurden getötet.

Das Ereignis führte auf der armenischen Seite zu einer starken öffentlichen Mobilisierung. Aktivisten nahmen es zum Anlass, um weitergehende Forderungen zu stellen. Das zögernde Verhalten Moskaus und die schleppende Untersuchung der Ereignisse in Sumgait fachten die nationalistische Stimmung unter den Armeniern noch zusätzlich an. Das Karabach-Komitee, eine Gruppe armenischer Intellektueller, welche die Wiedervereinigung von Armenien und Bergkarabach forderten, fand in der Folge eine immer breitere öffentliche Unterstützung. Wie in anderen Teilen der UdSSR gelang es Aktivisten wie Lewon Ter-Petrosjan, auf der Grundlage nationalistischer Narrative eine neue politische Legitimität zu etablieren.

«Nach dem August-Putsch in Moskau 1991 erklärten Armenien und Aserbaidschan ihre Unabhängigkeit und beide beanspruchten das Gebiet von Bergkarabach für sich. Als die UdSSR im Dezember 1991 endgültig zerbrach, standen beide im Krieg.»

Der Oberste Sowjet Armeniens – kontrolliert von der Kommunistischen Partei – erklärte im Juni 1988 einseitig die (Wieder-)Vereinigung von Bergkarabach mit Armenien. Als Antwort darauf verhängte die aserbaidschanische Regierung eine Wirtschaftsblockade. Diese Massnahmen gingen einher mit Massendeportationen von in Aserbaidschan lebenden Armeniern und in Armenien lebenden Aserbaidschanern. Viele Armenier waren nun davon überzeugt, in der Frage von Bergkarabach keine Kompromisse einzugehen. Es sollte keinen «zweiten Genozid» geben – auch wenn das bedeutete, in den Krieg gegen Aserbaidschan zu ziehen.

Letztlich trug auch noch eine Naturkatastrophe zur weiteren Eskalation des Konflikts bei. Am 7. Dezember 1988 erschütterte ein Erdbeben den nördlichen Teil Armeniens. Das Epizentrum lag in Spitak bei Leninakan (heute Gjumri). Die Zahl der Opfer ist nicht klar, aber mindestens 25 000 Menschen starben; viele mehr wurden obdachlos. Da die sowjetische Hilfe als zu langsam und zu bürokratisch empfunden wurde, fiel das Ansehen der Regierung von Gorbatschow auf den absoluten Nullpunkt. Aufgrund ihrer Unfähigkeit, humanitäre Hilfe zu leisten und die Katastrophe zu bewältigen, sowie der mangelnden Bereitschaft, militärische Gewalt einzusetzen, um die Ordnung wiederherzustellen, verlor Moskau letztlich die politische Kontrolle über Armenien.

In dieses politische Vakuum trat die Nationalbewegung unter Lewon Ter-Petrosjan, die durch ihre Arbeit im Karabach-Komitee bekannt geworden war. Die Nationalisten gewannen die Wahlen zum Obersten Sowjet Armeniens im Sommer 1990 und Ter-Petrosjan wurde wenig später Präsident der armenischen Teilrepu­blik. Gleichzeitig begannen sich Milizen zu organisieren, um die armenische Bevölkerung zu «schützen». Nach dem August-Putsch in Moskau 1991 erklärten Armenien und Aserbaidschan ihre Unabhängigkeit und beide beanspruchten das Gebiet von Bergkarabach für sich. Als die UdSSR im Dezember 1991 endgültig zerbrach, standen beide im Krieg.

Zauberlehrlinge der armenischen Nation

Obwohl die Türkei zur Unterstützung Aserbaidschans ab 1993 die Grenze zu Armenien blockierte und sich die armenische Wirtschaft in einer desolaten Lage befand, gewannen die armenischen Streitkräfte den Krieg um Bergkarabach. Diaspora-Organisationen, insbesondere in den USA, spendeten wertvolle Hilfsgüter. Obwohl Aserbaidschan mehr Waffen und einen besseren Zugang zum Weltmarkt hatte, setzte sich die armenische Seite aufgrund ihrer organisatorischen, logistischen und strategischen Überlegenheit durch. Als entscheidend gilt die Eroberung des damals aserbaidschanischen, hoch über Stepanakert gelegenen Schuschi, von wo aus die Aseris die Hauptstadt über lange Zeit aus sicherer Lage wirkungsvoll hatten unter Beschuss nehmen können. Die armenischen Milizen vertrieben die aserbaidschanische und kurdische Bevölkerung in den besetzten Gebieten und begingen dabei zahlreiche Kriegsverbrechen. So hatte die aserbaidschanische Stadt Agdam 1989 noch rund 28 000 Einwohner. Als armenische Truppen sie 1993 besetzten, deportierten sie zunächst die verbleibenden Bewohner und zerstörten anschliessend systematisch ihre Gebäude und Infrastruktur. Heute ist Agdam eine Ruinenstadt.

Um sich international nicht weiter zu isolieren, betrachtet Armenien Bergkarabach offiziell nicht als Teil seines Territoriums. Seit 1991 bildet letzteres daher einen De-facto-Staat, der sich seit 2017 «Arzach» nennt und von keinem anderen Staat anerkannt wird. Dieser Staat umfasst etwas mehr als 11 000 Quadratkilometer mit einer Bevölkerung von rund 150 000 Personen; er ist also knapp doppelt so gross wie der Kanton Bern, während seine Bevölkerungszahl ungefähr derjenigen der Stadt Bern entspricht. Obschon Armenien Arzach offiziell nicht anerkennt, sind die inoffiziellen militärischen, politischen, wirtschaftlichen und personellen Verbindungen sehr eng.

«Ähnlich wie in Israel erzeugen die kollektiven Erfahrungen von Viktimisierung angesichts der äusseren Bedrohungen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl.»

Der gemeinsame Krieg gegen Aserbaidschan zwischen 1991 und 1994 ermöglichte kometenhafte politische Karrieren. Die Kämpfe gegen die «Türken» boten beispielsweise für Robert Ko­tscharjan und Sersch Sargsjan Gelegenheit, über Bergkarabach hinaus Bekanntheit zu erlangen. Kotscharjan war bis zu seinem Wechsel nach Jerewan Präsident der Republik Bergkarabach. Sargsjan leitete die Armee der Karabach-Armenier von 1991 bis 1993, bis er zum armenischen Verteidigungsminister ernannt wurde. In den 1990er Jahren gelang es diesem Karabach-Netzwerk, das im Krieg gewonnene Prestige in politischen und wirtschaftlichen Einfluss in Jerewan umzuwandeln. Sowohl Kotscharjan als auch Sargsjan sollten später nacheinander das Präsidentenamt der Republik Armenien bekleiden.

Die Macht armenischer Politiker ist begrenzt. Der erste Präsident Armeniens, Lewon Ter-Petrosjan, hatte zwar auch sein politisches Kapital im Karabach-Komitee gewonnen, war aber 1998 bereit, einen Kompromiss mit Aserbaidschan und der Türkei zu finden. Als er öffentlich ein Friedensabkommen ankündigte, das aber keine Garantien für die Armenier in Bergkarabach enthielt, führte dies umgehend zu seinem Sturz. Robert Kotscharjan wurde von 1998 bis 2008 sein Nachfolger. Seit dieser Zeit scheint es an politischen Selbstmord zu grenzen, sich einer Einigung zu Karabach mit einer offenen Agenda zu nähern.

Massendemonstrationen in Jerewan im April und Mai 2018 führten zwar zum Sturz von Sargsjan und brachten Nikol Paschinjan an die Macht, sie bewirkten jedoch nur eine Machtverschiebung innerhalb der herrschenden Eliten. Die internationale Lage Armeniens bleibt unverändert. Ähnlich wie in Israel erzeugen und reproduzieren die kollektiven Erfahrungen von Viktimisierung in Kombination mit einer vergleichsweise starken Armee angesichts der äusseren Bedrohungen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Dies sind wichtige Faktoren, welche die armenische Bevölkerung einen, aber Armenien und Bergkarabach paradoxerweise sehr anfällig für Einmischungen von aussen machen.

Möglichkeiten für Einmischungen von aussen

Verglichen mit dem anhaltenden Konflikt in Syrien hat der Südkaukasus auf der Agenda regionaler Akteure wie der Türkei, des Irans sowie globaler Mächte wie der USA, Russlands und der EU eine weitaus geringere Priorität. Obwohl die Türkei, der Iran, Russland, die EU und die Vereinigten Staaten bestimmte Interessen im Südkaukasus haben und grundsätzlich Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan fördern, wenden sie doch nur begrenzte Mittel dafür auf. Die Initiative für Veränderung liegt letztlich in Jerewan, Baku und Stepanakert. So versuchte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), ein Format für eine Konfliktbeilegung mit der 1992 gegründeten Minsk-Gruppe unter Beteiligung von 13 Staaten zu formulieren. Dort wurde ein Plan zu einer friedlichen Lösung entworfen und Überwachungsmissionen in die Region entsandt. In diesem Rahmen kommen die armenischen und aserbaidschanischen Staats- und Regierungschefs regelmässig zu Gipfeltreffen zusammen, doch über die Lippenbekenntnisse beider Seiten hinaus haben sie bisher keinen grundlegenden Durchbruch erzielt.

Trotz der Erfolge im Krieg ist die Stellung Armeniens und Bergkarabachs fast in allen Bereichen schlechter als diejenige Aserbaidschans. Die aserbaidschanische Regierung unter der Aliev-Dynastie, die über grosse Öl- und Gasvorkommen verfügt, bemüht sich mit Ausnahme besonderer Beziehungen zur Türkei um Äquidistanz zu allen grossen Mächten und versucht insbesondere, ein Gleichgewicht zwischen dem Westen und Russland zu halten. In der Karabach-Frage ist die aserbaidschanische Position seit 1991 strikt: Aus Sicht von Baku gehört die Provinz zu Aserbaidschan und ist derzeit lediglich von Armenien besetzt. Die aserbaidschanische Regierung lehnt die Teilung zwischen Armenien und dem De-facto-Staat Arzach ab. Die Regierung in Stepanakert wird von Aserbaidschan nicht als gleichrangiger Verhandlungspartner akzeptiert.

«Trotz der Erfolge im Krieg ist die Stellung Armeniens und Bergkarabachs fast in allen Bereichen schlechter als diejenige Aserbaidschans.»

Das Handeln aller in der Region involvierten Mächte ist vor allem ein Produkt aserbaidschanischer Entscheidungen. Auch der Iran versuchte, den Karabach-Konflikt zu nutzen, um Einfluss auf den Südkaukasus zu gewinnen. Dabei schwankte die iranische Führung unter Ali Chamenei zwischen den beiden Seiten. Zunächst versuchte man sich Aserbaidschan anzunähern. Nach dem Sturz der Regierung von Abulfas Eltschibej im Juni 1993 nahm der iranische Einfluss in Aserbaidschan ab, als die Regierungen unter Heidar Aliev und seinem Sohn Ilham iranische Appelle an die gemeinsame Geschichte und die schiitische Tradition ignorierten und sich für engere Beziehungen zur Türkei entschieden, mit der Aserbaidschan eine gemeinsame Sprache teilt. Da die iranische Regierung die Türkei als Hauptrivalen im Kampf um Einfluss im postsowjetischen Südkaukasus sieht, bemühte sie sich in der Folge um engere Beziehungen zu Armenien.

Bahnstrecken und Pipelines

Aus armenischer Perspektive sind die engen wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran von essenzieller Bedeutung. Angesichts einer Blockade im Westen und Osten und neben Verbindungen nach Georgien im Norden ist der Handelskorridor zum Iran über Meghri im Süden lebenswichtig. Aus diesem Grund hat die armenische Regierung zwischen 2005 und 2016 keine Sanktionen infolge des iranischen Atomprogramms mitgetragen. Die Regierung in Teheran ist sich bewusst, dass Armenien sich niemals westlichen Sanktionen anschliessen würde, so dass die aktuelle Situation in Bergkarabach in dieser Hinsicht ein strategisches Plus für den Iran darstellt.

Die EU hat ein Interesse an den Erdöl- und Erdgasvorkommen in Aserbaidschan und deren sicheren Transfer über Georgien in die Türkei. Die Baku–Tiflis–Ceyhan-Pipeline wurde 2006 fertiggestellt. Die Bahnstrecke Kars–Achalkalaki–Tiflis–Baku wurde 2017 eingeweiht und im Mai 2018 für den Personentransport freigegeben. Die transanatolische Gaspipeline soll noch 2019 ihren Betrieb aufnehmen. Der sichere Transport von Ressourcen aus Aserbaidschan und Zentralasien nach Europa ausserhalb russischer Zugriffsmöglichkeiten stellt die wichtigste Priorität dar. Für Aserbaidschan generieren sie einerseits ein stabiles Einkommen und sorgen andererseits für die wirtschaftliche Isolation der armenischen Nachbarn. Im Vergleich zu Aserbaidschan hat Armenien auf ökonomischem Gebiet wenig zu bieten, mit Ausnahme des florierenden Internet- und Offshore-Bankensektors sowie der Produktion von exzellentem Cognac.

«Russland wollte nach dem Zerfall der Sowjetunion seinen Einfluss im Südkaukasus nicht verlieren.»

Aus militärischer Sicht spielen die EU und die Nato im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt eine untergeordnete Rolle, der «Westen» hat in der Region auch nur wenig wirtschaftlichen oder moralischen Einfluss. Die Situation ist seit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, dessen einseitige Abspaltung von Serbien die Mehrheit der westlichen Staaten anerkannt hat, noch komplizierter geworden. Dies ist ein Präzedenzfall, auf den sich armenische Vertreter gegenüber westlichen Staaten gerne beziehen.

Russland wollte nach dem Zerfall der Sowjetunion seinen Einfluss im Südkaukasus nicht verlieren. Nachdem Aserbaidschan nach 1991 alle russischen Militärbasen geschlossen hat und die Beziehungen zwischen Russland und Georgien aufgrund der russischen Unterstützung für Südossetien und Abchasien stark unterkühlt sind, sind die Militärstützpunkte in Armenien die letzten russischen Aussenposten in der Region. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ist dabei auch für Moskau günstig. Die russische Militärindustrie kann Waffen an beide Seiten verkaufen, und Armenien hat mangels Alternativen keine andere Möglichkeit, als das zu akzeptieren. Moskau ist aber keinesfalls an einer erneuten Eskalation interessiert. Das ist auch der Grund, warum Russland so schnell und entschlossen intervenierte, als armenische und aserbaidschanische Truppen im April 2016 gegen den Waffenstillstand verstossen hatten. Am Ende würde ein grösserer Krieg Russland dazu zwingen, sich für die armenische Seite zu entscheiden, während die Türkei als Nato-Mitglied höchstwahrscheinlich Aserbaidschan unterstützen würde. Ein solcher Konflikt könnte schnell ausser Kontrolle geraten, was aber wie­derum von keiner der beteiligten Parteien gewünscht wird.

Ein Stillstand und seine Vorteile

Die armenische Regierung unter Nikol Paschinjan muss eine Balance zwischen der Europäischen und der Eurasischen Union finden, aber letztendlich hantiert sie mit ungleichen Gewichten. Auch wenn die Regierungen in Jerewan und Stepanakert öffentlich gerne gemeinsame Standards mit dem Westen unterstreichen, bleibt ihr Handlungsspielraum letztlich gering. Sie könnten niemals riskieren, Russland zu brüskieren. Aus armenischer Sicht garantiert Russland den territorialen Status quo und die Unmöglichkeit eines «zweiten Genozids». Das Gedenken an den Völkermord und die Erinnerungen an den Karabach-Krieg halten das armenische Zusammengehörigkeitsgefühl stets wach. Den herrschenden Eliten verleiht das zwar Legitimität, es beschränkt aber auch ihre Handlungsspielräume. Um an der Macht zu bleiben, dürfen die Politiker Armenier niemals als Opfer erscheinen lassen. Wer solche Tabus in Frage stellt, riskiert sein Ansehen, so wie Ter-Petrosjan 1998.

Angesichts aller Herausforderungen bietet der Stillstand zahlreiche Vorteile sowohl für die herrschenden armenischen Eliten als auch für die umgebenden Mächte. Er führt aber auch dazu, dass viele Menschen in Armenien und Arzach keine Perspektive sehen und nach Russland, Europa oder Amerika auswandern. Dabei wären junge, gut ausgebildete Menschen ideale Akteure für Veränderungen. Doch diejenigen, die bleiben, müssen sich an den geltenden Konsens halten, wenn sie ihre Karriere in der staatlichen Verwaltung oder in einem von den nationalistischen Oligarchen kontrollierten Privatunternehmen beginnen wollen. Die Abwanderung der gebildeten Bevölkerung und der Opportunismus der Verbleibenden tragen letztlich zur Aufrechterhaltung des nationalen Konsenses in Armenien und Arzach bei. Massendemonstrationen können zwar für den Austausch einzelner Protagonisten sorgen, sie vermögen aber kaum, die herrschenden Eliten als Ganzes zu stürzen oder politische Tabus an sich in Frage zu stellen.

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