Ein Werkzeugkasten für die Migrationspolitik
Der Umgang mit Zuwanderung erfolgt immer noch mehrheitlich mit planwirtschaftlichen Instrumenten. Zeit, das zu ändern!
Es ist ein trauriges Bild: Überfrachtet mit Emotionen und Existenzängsten, konfrontiert mit strukturellen Faktoren wie Demografie, technologischem Wandel und grossen institutionellen Unterschieden auf der Welt, vernichtet die aktuelle Migrationspolitik der Schweiz und Europas mehr potentiellen Wert als jedes andere Politikfeld, produziert menschliches Leid, zahlreiche Fehlversuche und leidet an systematischen Durchsetzungsdefiziten. Es wird Zeit, das zu ändern.
Verwalter, Nostalgiker und Utopisten
Die gegenwärtige Debatte über Migrationspolitik wird – grob vereinfacht – von drei Gruppen dominiert: den Verwaltern, den Nostalgikern und den Utopisten. Die Verwalter werden in der Schweiz am besten verkörpert durch die Migrationsministerin, Simonetta Sommaruga (SP). Gefragt, welche Vision sie für die Regulierung der Migration der Zukunft habe, zitiert sie Helmut Schmidt: «Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen.» Sie dreht hier eine Schraube und da ein Schräubchen, macht hier ein Verfahren etwas zügiger, entfernt dort einen Stein aus dem Weg von Migrierenden. Im grossen Ganzen ist das so verdienstvoll wie uninspiriert.
Die Nostalgiker werden in der Schweiz idealtypisch verkörpert durch den zuständigen Luzerner Regierungsrat Guido Graf (CVP), der aus eigenem Antrieb ein Positionspapier zur Migrationspolitik geschrieben und privat veröffentlicht hat. Darin postuliert er, die Welt sei «aus den Fugen geraten» und der gesellschaftliche Zusammenhalt gehe verloren, wenn es nicht gelinge, die Migration in den Griff zu bekommen. Nostalgiker wie er sind fixiert darauf, den «Geist zurück in die Flasche» zu bekommen. Eine Welt, in der sich Zugehörigkeit nicht in erster Linie aus geografischer Herkunft ergibt und wichtige Lebensbereiche nicht mehr nur durch Nationalstaaten reguliert sind, können sie sich nicht vorstellen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Migration durch mehr Regulierung in den Griff bekommen möchten – im Falle von Graf z.B. mit Geburtenkontrollen in Afrika.
Die dritte und kleinste Gruppe sind die Utopisten. Die publizieren, wie Reiner Eichenberger oder Pierre Bessard, auch in dieser Zeitschrift. Ihnen fehlt es nicht an Visionen oder Ideen. Sie denken über eine grundlegend andere Migrationspolitik nach, in der Regel über eine sehr viel liberalere als die heutige. Oft sind sie aber früh auf einen Soll-Zustand fixiert (z.B. auf ein grundsätzliches Recht auf Migration oder auf Steuern zur Regulierung von Migration) und haben nicht nur keinen Blick für mögliche Alternativen (z.B. die Leistung von Sicherheiten anstelle von Steuern oder die demokratische Beteiligung von Migrierenden, damit deren Interessen mit einfliessen), sondern auch keinen Plan, wie man vom Ist- zum Soll-Zustand gelangen könnte – geschweige denn, wie man dafür politische Mehrheiten findet.
An Meinungen, Haltungen, Wünschen, Visionen und Forderungen mangelt es also nicht. Woran es mangelt, ist Koordination und Systematik. Und genau hier muss angesetzt werden, wenn es um Realpolitik und die Lösung von Problemen gehen soll statt um Selbstvergewisserung und Profilierung. Wir brauchen einen regulativen Werkzeugkasten.
Ziele formulieren, Mittel auslegen
Ein solcher Werkzeugkasten beinhaltet Regulierungsziele und Werkzeuge, mit denen diese Ziele erreicht werden können. Ein Ziel lautet beispielsweise «Internalisierung externer Effekte von individuellem Verhalten», ausformuliert: die Einpreisung von Effekten, die das Verhalten einzelner Migrierender, einzelner Arbeitgeber oder einzelner Staaten auf Dritte haben. Werden externe Effekte weit genug verstanden, so ist deren Internalisierung nicht bloss ein Ziel, sondern das zentrale Ziel des Migrationsrechtes (wie des Verwaltungsrechtes überhaupt). Zu den externen Effekten von Migration gehört in diesem weiten Verständnis dann nicht nur Lohndruck, sondern etwa auch der Stress für das Wir-Gefühl, der durch Zuwanderung bei manchen entsteht. Zu den externen Effekten der Restriktion von Migration zählt dann nicht nur der Verlust an potentiellem Einkommen, das durch den Ausschluss aus einem Arbeitsmarkt entsteht, sondern auch die entgangene Lebenserwartung, die mit diesem Einkommen möglich geworden wäre.
Mittel oder Werkzeuge zur Internalisierung wären dann etwa Lenkungssteuern oder Kontingente, um nur zwei von vielen zu nennen. Auf der einen Seite des möglichen Spektrums steht ein komplettes Migrationsverbot, auf der anderen Seite ein kategorisches Recht zu migrieren. Oder anders ausgedrückt: Auf der einen Seite ist der Preis, um migrieren zu können, für alle unendlich hoch angesetzt, so dass er mit Sicherheit von niemandem je erbracht werden kann, auf der anderen Seite ist der Preis dafür, jedes Migrationsereignis verhindern zu dürfen, unendlich hoch angesetzt, so dass mit Sicherheit nie eines verhindert werden kann. Alles, was dazwischen liegt, kann danach geordnet werden, wie hoch der Preis ist, zu dem Zuwanderung entweder erkauft oder unterbunden werden kann, und in welcher Form er erbracht werden kann – Abgaben werden mit Geld bezahlt, Investments in Sprachkenntnisse, Qualifikationen usw. durch Zeit und Aufwand, mitunter durch Schlangestehen.
Der Vorteil dieses Werkzeugkastens ist, dass wir Zugang erhalten zu allen Werkzeugen in diesem Spektrum, auch zu jenen, die im Migrationsrecht bisher nicht zur Anwendung gelangt sind, aber in anderen Bereichen des Verwaltungsrechts, in denen vergleichbare Ziele verfolgt werden. Etwa im Umweltrecht, wo es um ganz andere externe Effekte (Abwasser oder Abgase etc.) geht, aber ebenfalls um deren Internalisierung. Einen solchen Werkzeugkasten kann man öffnen und alle Werkzeuge auslegen. Wir werden im Hinblick auf die Migration nicht alle Werkzeuge brauchen, können aber zur Nutzung alle in Betracht ziehen.
Von Marx zu Pigou zu Coase
Die Auslegeordnung erlaubt es uns dann in einem nächsten Schritt, die Werkzeuge in drei Kategorien einzuteilen: in planwirtschaftliche (Karl Marx hätte seine helle Freude an Kontingenten), in Lenkungsinstrumente (der neoklassische Ökonom Arthur Cecil Pigou hätte diese vorgeschlagen) und in Instrumente, die eine Maximierung individueller Präferenzen durch Verhandlung erlauben (der Wirtschaftsnobelpreisträger Ronald Harry Coase hat auf diese Gruppe von Instrumenten hingewiesen). Die planwirtschaftlichen Instrumente zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht über den Preis gestalten, sondern über die Menge. Dass sie also festlegen, wie viel Migration erlaubt ist, wie viel vom Produktionsfaktor Arbeit importiert werden darf und wer diesen bekommt. Der Preis ist 0 innerhalb der festgelegten Menge, danach steigt er auf unendlich. Kontingente, das zentrale Werkzeug, mit dem die Schweiz Zuwanderung aus Drittstaaten steuert, gehören in diese Marx-Sektion des Werkzeugkastens. Eine zentralisierte Bürokratie legt hier fest, wie viel Arbeit dem Markt zugeführt werden darf.
Pigou’sche Instrumente hingegen steuern über den Preis statt über die Menge. Sie belegen entweder die Migration oder die Verhinderung von Migration mit einem Preis, der Lenkungswirkung haben soll. Eine Steuer, die nur von Migrierenden geschuldet ist (wie sie Reiner Eichenberger und David Stadelmann in der Septemberausgabe des «Monats» vorgeschlagen haben), wäre ein Beispiel dafür (andere Beispiele wären Kautionen oder eine Pflicht für Migrierende, sich gegen die Risiken ihrer Migration zu versichern). In der umgekehrten Konstellation wäre ein Beispiel dafür die Pflicht, Migrierende, die an der Migration gehindert werden, dafür zu entschädigen; vergleichbar einer Enteignung, wo ebenfalls in einen privaten Produktionsfaktor eingegriffen wird, was ebenfalls öfter passieren würde, wenn es nicht entschädigt werden müsste. Der Preis kann in verschiedenen Formen erbracht werden – in Geld oder in spezifischen Investitionen –, er ist aber nicht unendlich hoch.
Coase’sche Instrumente wiederum gehen von der Einsicht aus, dass sowohl das Migrierendürfen als auch das Migration-verhindern-Dürfen mit einem Preis belegt sein könnte und dass es in einer Welt ohne Transaktionskosten egal wäre, wer was vom jeweils anderen kaufen müsste. Am Ende würde das passieren, was gesamtgesellschaftlich wertvoller ist: entweder die Migration oder die Verhinderung der Migration. Diese Werkzeuge legen daher keinen Preis fest, sondern konzentrieren sich darauf, Verhandlungen über den Preis zu ermöglichen, indem sie Transaktionskosten für diese Verhandlungen möglichst senken. Sie versuchen, die wichtigsten Betroffenen einer spezifischen Migrationsentscheidung zusammenzubringen – die Migrierenden, den Zielstaat (als Vertreter der Zielgesellschaft), den Herkunftsstaat (als Vertreter der Zurückgebliebenen), den Arbeitgeber usw. –, und lassen diese in einer Verhandlung klären, welche Zuteilung von Rechten betreffend die Migration einer bestimmten Person das optimalste Ergebnis erzielt. Solche Verhandlungen scheitern bislang an hohen Transaktionskosten. Coase’sche Instrumente sind darum technische Hilfsmittel, die es erlauben, diese Transaktionskosten zu überwinden. Sie schaffen eine Börse, an der Verhandlungen möglich sind. Solche Hilfsmittel dienen dazu, die Identität der Beteiligten zu sichern, Informationsasymmetrien zu reduzieren und die Durchsetzung eines Verhandlungsergebnisses sicherzustellen. Entsprechend zählen zu diesen Instrumenten potentiell alle Technologien zur sicheren Kommunikation, zur Feststellung und Sicherung von persönlicher Identität, zur Beglaubigung von Informationen, zur Absicherung von Transaktionen und zur Feststellung des Aufenthaltes von Personen. In anderen Bereichen haben solche Technologien zu einer starken Senkung von Transaktionskosten geführt. Es spräche nichts grundsätzlich dagegen, sie im Bereich der Zuordnung von Rechten über Migration anzuwenden, wenn wir diese Lösungen überhaupt auf dem Radar hätten.
Das Erste, was der neu gewonnene Überblick über die zur Verfügung stehenden Werkzeuge also hervorhebt, ist die Gegenseitigkeit möglicher externer Effekte: Es wird klar, dass Einwanderer der Gesellschaft, in die sie migrieren, Effekte aufbürden können, dass aber umgekehrt auch die Verhinderung und Erschwerung von Migration Effekte hat auf die potentiellen Einwanderer (und deren Umfeld und deren Herkunftsstaaten). Es rückt dann ins Bewusstsein, dass unsere Diskussionen über Migration meist von einem fiktiven «Urzustand» ausgehen, in dem die relevanten Güter – Zutrittsrechte zu attraktiven Arbeits- und Dienstleistungsmärkten – in einer bestimmten Weise in der Gesellschaft verteilt sind. Wir haben eine Tendenz anzunehmen, dass diese Verteilung der Güter «natürlich» (und gerecht) sei, ohne dass wir begründen müssten, warum eigentlich.
Auf wen beziehen wir uns überhaupt?
Wenn wir die Problematik des gedachten Nullpunktes im Kopf behalten, macht es das einfacher, alle interessierten Akteure im Blick zu haben und zu beurteilen, inwiefern sie im Status quo oder durch dessen Abänderung externe Effekte zu tragen hätten. Insbesondere wird das verhindern, dass entweder nur die Position der Zielstaaten (wie im Beitrag Eichenberger/Stadelmann) oder nur die Position der Migrierenden und deren Arbeitgeber (wie im Beitrag Bessard) berücksichtigt wird und die Interessen sehr vieler anderer Akteure heimlich, still und leise unter den Tisch fallen. Die Interessen möglichst aller Beteiligten zu berücksichtigen ist nicht nur aus ethischen Gründen wichtig, sondern auch, weil das Risiko besteht, dass unberücksichtigt gebliebene Akteure einen Teil eines möglichen Schadens, den die eine oder andere Migrationspolitik ihnen auferlegt, weitergeben können – vielleicht auch an uns. Ein Beispiel? Die Drohung mit entzogenem Marktzugang. Das ist eine Form der Internalisierung des Schadens von Migrationsverhinderung, welche die EU im Falle der Schweiz erfolgreich durchgesetzt hat und im Falle von Grossbritannien wahrscheinlich ein weiteres Mal erfolgreich durchsetzen wird. Sie zwingt den Staat, der Zuwanderung andernfalls verhindert hätte, einen Teil des Schadens, den Migrationsverhinderung im Ausland verursachen würde, in seine eigene Erfolgsrechnung einzupreisen. Er müsste den Schaden in Form von entgangenem Marktzugang selber tragen. Im Fall der Schweiz ist uns die Migrationsverhinderung dadurch zu teuer geworden. Wir haben stattdessen nachgegeben und die Personenfreizügigkeit akzeptiert – trotz einer anderslautenden Volksinitiative.
Die Drohung mit entgangenem Marktzugang ist aber kein Trick, den allein die EU anwenden kann. Andere Herkunftsstaaten werden das zunehmend auch versuchen.
Vom politisch Möglichen zum politisch Gebotenen
Zu guter Letzt erlaubt die Auslegeordnung auch eine Orientierung auf dem Zeitstrahl. Wir können überlegen, welche dieser Werkzeuge wann auf der Zeitachse welche Rolle spielen könnten. Das erlaubt es einerseits, konkrete Utopien zu formulieren, so dass das politisch Mögliche allmählich dem ethisch Gebotenen angeglichen werden kann. Insbesondere erlaubt es uns, jene Werkzeuge zu identifizieren, die graduell und reversibel wirken. Zum Beispiel eine Steuer, die anfangs sehr hoch wäre, dann aber allmählich gesenkt wird. Oder eine Versteigerung, in der zu Beginn nur sehr wenige Eintrittstickets versteigert würden, aber jedes Jahr etwas mehr. Das erspart uns, auf dem Reissbrett grosse Konzepte entwerfen zu müssen, die auf diskutablen Annahmen beruhen (wofür wir Utopisten anfällig sind). Stattdessen können wir kleine Schritte versuchen. Wenn sie funktionieren, können wir einen weiteren kleinen Schritt wagen und dann noch einen – oder sie rückgängig machen, wenn sie nicht funktionieren.
Roadmap für mehr Autonomie und individuelle Verantwortung
Der Werkzeugkasten, der uns eine Auslegeordnung aller Optionen erlaubt, weist also auf ein breites Spektrum an heute unversucht gelassenen Möglichkeiten im Umgang mit Migration hin. Aber zu welchem Vorgehen rät er uns denn dann?
Mit grosser Wahrscheinlichkeit entsteht durch die Auslegeordnung eine Skizze für einen Weg, auf dem sich der Staat graduell aus der Übersteuerung von Migration zurückziehen kann. In einem ersten Schritt, indem er von Planwirtschaft zu Lenkungsmassnahmen wechselt. Ein Wechsel zu einer Beeinflussung der Zuwanderung über Preisgestaltung statt durch die Festlegung von Mengen. Ein zweiter noch wesentlicherer Fortschritt wäre dann aber der Ersatz von Lenkungsmassnahmen durch die Ermöglichung einer Verhandlungslösung (oder deren Simulation durch das Recht). Entweder würde also ermöglicht, dass Staaten und potentielle Einwanderer miteinander darüber verhandeln können, wer das Recht, über die Migration der betreffenden Einwanderer zu disponieren, höher bewertet, oder (wenn sich Transaktionskosten als zu hoch erweisen) das Ergebnis dieser Verhandlung würde durch die Rechtsordnung so gut wie möglich abgeschätzt und das Verfügungsrecht über Migration entsprechend zugeteilt.
Mit dem Recht über jemandes Einwanderung ist es wie mit dem Recht über jemandes Körper: Es ist ausgesprochen unwahrscheinlich, dass es von jemand anderem höher bewertet wird als von der betroffenen Person. Eine Verhandlungslösung würde daher je eher zu einem Recht auf Migration führen, desto besser sie funktioniert. Aber sie würde Migrierende auch zwingen, die externen Effekte, die ihr individuelles Verhalten verursacht, so gut als möglich zu internalisieren.
Die effektivsten, aber auch die am stärksten vernachlässigten Werkzeuge im Werkzeugkasten zur Regulierung von Migration sind also jene, die Menschen ermöglichen, mehr Verantwortung, aber auch mehr Autonomie über ihre eigene Migration zu erlangen. Würden Menschen, die sich selber als «liberal» bezeichnen, der Regulierung von Migration die gleiche Skepsis entgegenbringen wie anderen Bereichen der Regulierung und würden sie auf staatliche Eingriffe in die Positionen von Migrierenden gleich empfindlich reagieren wie auf Eingriffe in ihre eigene Freiheit, stünden diese Werkzeuge im Zentrum der politischen Debatte; genau dort, wo heute noch immer mit planwirtschaftlichen Werkzeugen hantiert wird.