Ein Verteidiger der Marktwirtschaft gegen den Zeitgeist
Ludwig Erhard hat die Bundesrepublik nach dem Krieg auf den Pfad der freien Wirtschaftsordnung geführt und so in den schweren Nachkriegsjahren wieder Zuversicht geschaffen.
Christoph Schaltegger kommentiert «Marktwirtschaft und individuelle Freiheit» von Ludwig Erhard.
Als Ludwig Erhard 1977 verstarb, würdigte ihn der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt mit den Worten: «… ihm [haben] die Deutschen jene Hochachtung erwiesen, die sein Lebenswerk verdient – ein Werk, dessen Wirkungen über seinen Tod weit hinausreichen.» Der Sozialdemokrat, in parlamentarischen Debatten nie um eine polemische Spitze auch gegen Erhard verlegen, wusste um die Verdienste seines prinzipienfesten Vorgängers im Kanzleramt und im Wirtschaftsministerium. Ohne den Staatsmann und klassisch-liberalen Marktwirtschafter Ludwig Erhard wäre der schnelle wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands nach 1948 so wohl nicht möglich gewesen – und ohne die wirtschaftliche Basis ist es kaum denkbar, dass sich ein stabiles demokratisches Gefüge so schnell hätte etablieren können.
Im Rückblick verschwimmt die Leistung des «Vaters der sozialen Marktwirtschaft» in der Hektik des zeitgeistigen politischen Alltags, wo vieles als selbstverständlich gegeben erscheint und die damaligen Grundsatzdebatten um die marktwirtschaftliche Orientierung leichtfertig als dogmatische Ideologie abgetan werden. Wer im Konkreten richtig liegen will, sollte allerdings einen Kompass fürs Grundsätzliche mitbringen.
Wer in die Denkweise von Ludwig Erhard eintauchen möchte, findet in seinem Beitrag im «Schweizer Monat» von 1969 viel Substanz. «Marktwirtschaft und individuelle Freiheit» ist der Text eines Ordnungsökonomen und Wirtschaftspolitikers mit starken Überzeugungen und ungetrübtem Blick für die Gefahren eines überbordenden Interventionismus und Bürokratismus. Es ist der Text eines unabhängigen Denkers, dem es nicht um Markt und Wettbewerb um ihrer selbst willen ging, sondern um das grosse Ganze, um soziale Gerechtigkeit und sozialen Frieden auf Basis individueller Freiheit.
Erhards grosse Leistung als Politiker war zweifellos die Preisfreigabe im Juni 1948. Am Tag nach der von der britischen und amerikanischen Militärregierung angeordneten Währungsreform hob er als Direktor der bizonalen Wirtschaftsverwaltung kurzerhand über 400 Preisbindungen, Rationierungen und andere Kontrollen auf. Es war ein mutiger Schritt – er war nicht mit den Alliierten abgesprochen und wäre wahrscheinlich auch nicht bewilligt worden. Auch in der deutschen Bevölkerung war der Schritt nicht populär. Die Preisfreigabe fiel zusammen mit einer starken Verknappung lebensnotwendiger Güter und hatte kurzfristig massive Preiserhöhungen zur Folge. Der Zeitgeist war nicht marktwirtschaftlich gesinnt. Die promovierte Volkswirtin Marion Gräfin Dönhoff berichtete ihren Redaktionskollegen der «Zeit»: «Wenn Deutschland nicht eh schon ruiniert wäre, dieser Mann mit seinem absurden Plan, alle Bewirtschaftungen in Deutschland aufzuheben, würde das ganz gewiss fertigbringen.»
Und doch: Erhard sollte recht behalten. Was viele auch christdemokratische Politiker und Unternehmer als höchst riskantes Wagnis erachteten, wurde zur Sternstunde der Marktwirtschaft. Die Verkaufsregale füllten sich, die industrielle Produktion stieg und verschaffte breiten Kreisen Brot und Arbeit. Die Mangelwirtschaft war in kürzester Zeit überwunden – Mut und Vertrauen kehrten zurück. Die Episode ging als «deutsches Wirtschaftswunder» in die Geschichte ein. Ludwig Erhard mochte den Begriff nicht, suggeriert er doch, dass er als «Hasardeur» einfach auf der glücklichen Seite des Schicksals war. Für ihn war die Preisfreigabe vielmehr die logische Konsequenz aus der Währungsreform: stabiles Geld durch flexible Preise.
Ludwig Erhards Plädoyer für die freie Marktwirtschaft im «Schweizer Monat» ist Zeugnis seiner grossen Lebensleistung: Sie besteht darin, breiten Kreisen der Bevölkerung die Prinzipien der Marktwirtschaft nähergebracht zu haben. Seine Überzeugungen liessen insbesondere in den schweren Nachkriegsjahren wieder Zuversicht entstehen. Ideell stand Ludwig Erhard Walter Euckens ordoliberaler Freiburger Schule nahe. Sein Verdienst ist, dass die gegenüber planwirtschaftlichen Ansätzen offene deutsche Nachkriegsgeneration deutlich in Richtung Marktwirtschaft schwenkte. Das Argumentieren gegen interventionistische Reformen, die die Menschen in neue Abhängigkeiten von staatlichen Instanzen bringen, sah er als Daueraufgabe. Erhard zog später eine durchwachsene Bilanz: «Ich habe als Bundesminister 80 Prozent meiner Kraft dazu verwenden müssen, gegen ökonomischen Unfug anzukämpfen, leider nicht durchweg mit Erfolg.»