Ein Universum aus der Schachtel
Katharina Geiser beschwört die Geister von Wien
Bei diesem Buch die Gattung zu bestimmen, fällt schwer: «Vorübergehend Wien» ist wie ein historisches Sachbuch aufgemacht, mit Vor- und Nachrede, Abbildungen und einem Personenregister (ohne Seitenangaben), in dem reale Berühmtheiten, wie Arthur Schnitzler und Adolf Loos, auf die berühmte Fiktion Mary Poppins treffen und auf so manche unbekannte Zeitgenossen. Die Geschichte dieser Unbekannten, vor allem die der jüdischen Familie Bial, steht im Zentrum – insoweit man bei einem so mäandernden Erzählfluss, einem so feinteiligen Erinnerungs- und Beobachtungsmosaik überhaupt von Zentrum sprechen kann. An der Peripherie jener obskuren, vor allem durch die Naziherrschaft brutal unterbrochenen Lebensläufe bewegen sich unter anderen Gustav Klimt, Karl Kraus, Adolf Loos und Peter Altenberg, Persönlichkeiten also, denen ein kanonisches Nachleben vergönnt ist. Und so könnte angenommen werden, dass es der Autorin um eine historische Dokumentation und Würdigung der nichtprominenten Wiener Zeitgenossen geht: «Die einen sind unbeschreiblich viele.»
Dieser Ansatz wird jedoch von einem Ton konterkariert, der poetischer, assoziativer, subjektiver nicht sein könnte, wie gleich zu Beginn deutlich wird: «Leibhaftig will ich selber sehen und schmecken, als gelte es zu prüfen, nein, als müsste ich mich etwas versichern, was sich nicht einfach in Luft aufgelöst haben kann. Es reicht nicht, was in starren Buchstaben auf brüchig gewordenem oder langsam sich verfärbendem Papier steht.»
Angesichts des so gewaltsam Ausgelöschten ist es schon eine eigentümliche Euphorie, die diese Spurensucherin beseelt – im Text tritt sie nicht als Katharina Geiser in Erscheinung, sondern als Jula Fink, eine Erzählerin, die der Autorin allerdings sehr nahestehen dürfte. Schwärmerisch tritt die Schweizerin Jula Fink ihre zahlreichen Wienreisen an, die nur anfänglich durch die eigene Familiengeschichte motiviert erscheinen – es gibt da einen Grossonkel, Julius Fink, der aus der Schweiz nach Wien ausgewandert ist und dort als Schneider sein Glück gemacht hat. An einer Stelle hält die Erzählerin die Namen der vielen glücklosen Finks fest, die aus Wien in Vernichtungslager verschleppt wurden.
Nach und nach stellt sich heraus, dass der eigentliche Magnet, der die Erzählerin so unwiderstehlich oft nach Wien zieht, ein Exponat im Jüdischen Museum ist, eine Schachtel, die Franz und Anni Bial kurz vor der Deportation für ihre Tochter Lilli im fernen, sicheren England gefüllt haben, mit lauter Erinnerungsstücken, die ihre Bestimmung niemals erreichen sollten. Bis mehr als ein halbes Jahrhundert später Jula Fink, am Ende unermüdlicher, weitverzweigter Recherchen, die greise Lilli Bial ausfindig macht, die in England geblieben ist. Und da ist es verblüffend, erschütternd zu lesen, wie diese Schachtel, die von einer Fremden – Julia Fink – mit soviel Leidenschaft und Einsatz zum Leben erweckt, zum Sprechen gebracht wurde, die ursprüngliche Adressatin Lilli Bial eher ungerührt zu lassen scheint, als sie schliesslich von deren Existenz erfährt. Als könne die Erinnerungsarbeit getrost den Historikern und Dichtern überlassen werden. Und das verweist wiederum auf den Zeugenchor, den Jula Fink im Lauf ihrer Suche zusammenstellt, vom wortgewaltigen Karl Kraus über nicht einmal vergessene, sondern stets unbekannt gebliebene Schriftstellerinnen wie Jenny Fink und Grete Wolf, bis zu einem unerwartet selbstironischen Gustav Klimt.
«Vorübergehend Wien» ist ein tollkühnes Buch, seine Verfasserin wagt viel, sie kreiert gewissermassen ein eigenes Genre, das sich vielleicht als lyrische Dokumentation kennzeichnen liesse; doch im Grunde entzieht es sich jeder Charakterisierung. Bestimmt lesenswert, weil viel Kostbares darin enthalten ist, an Erkenntnissen, an Funden, an (Re-)Konstruktionen, die ein Historiker nicht vornehmen dürfte, eine Dichterin hingegen schon: «Im Sichtbaren von heute verbergen sich die Fragmente einer Epoche, die ich auch übergestern nennen könnte.» Zahlreiche Beobachtungen und Wendungen lassen auf Geisers genuine poetische Begabung schliessen. Es gibt allerdings auch, das darf nicht verschwiegen werden, einiges an kokettem Kitsch («Mein Wille zur Schönheit ist kümmerlich, aber ansehnlich will ich sein»), und zuweilen werden die Verbrechen der Nazis so lapidar abgehandelt, als sei der Dichterin siedendheiss eingefallen, dass sie ihre Spurensuche noch mit einigen historischen Zahlen, Fakten und Daten unterfüttern sollte. Das ist bei diesem Thema und bei dem Anspruch, den der Text erhebt, bei dem hohen Ton, der von der ersten bis zur letzten Zeile angeschlagen wird, nicht so leicht zu verzeihen. Allerdings verdient «Vorübergehend Wien» eine ernsthafte Auseinandersetzung; bei der bisherigen Rezeption hat es sich gezeigt, dass es ein stark polarisierendes Werk ist – und so sei die Lektüre durchaus empfohlen, nicht nur für Zeit- und Wien-Reisende.
Katharina Geiser, «Vorübergehend Wien». Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2006.
PATRICIA KLOBUSICZKY, geboren 1968, übersetzt literarische Werke und arbeitet als freie Lektorin in Berlin.