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Ein Tor für Waren und Ideen: Wie Odessa von einem staubigen Dorf zu einer «Stadt des Vergnügens und des Luxus» wurde

Im 19. Jahrhundert wurde Odessa dank offener Grenzen und eines Freihafens zu einer Enklave der Freiheit innerhalb des Russischen Reiches. Der Erfolg der Stadt spiegelt sich heute in Orten wie Hongkong oder Dubai, die ihre wirtschaftliche Freiheit nutzten, um zu den wohlhabendsten Städten der Welt aufzusteigen.

Ein Tor für Waren und Ideen: Wie Odessa von einem staubigen Dorf zu einer «Stadt des Vergnügens und des Luxus» wurde
Ansicht der Oper in Odessa im 19. Jahrhundert. Bild: Department of Image Collections, National Gallery of Art Library, Washington, DC.

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Odessa ist eine Stadt wie keine andere. Ihre Kopfsteinpflasterstrassen, ihre grossartige Architektur und ihr lebendiges kulturelles Erbe erinnern an Frankreich oder Italien. Strassennamen wie Langeron-Strand, Richelieu-Strasse und der Französische Boulevard verstärken ihren mediterranen Charme. Dabei liegt dieser bemerkenswerte Ort in der Ukraine – und er bietet Lektionen in Freiheit und Selbstverwaltung, die weit über seine Grenzen hinaus gültig sind und heute etwa freie Privatstädte inspirieren können.

Das letzte Mal, dass Odessa weltweit für Schlagzeilen sorgte, war aufgrund russischer Luftangriffe, die das historische, zum Unesco-Weltkulturerbe gehörende Stadtzentrum schwer beschädigten. Doch selbst während die Ukraine um ihr Überleben kämpft, bleiben Odessas Widerstandsfähigkeit und Kreativität bestehen, die in der Geschichte der Stadt verwurzelt sind. Im frühen 19. Jahrhundert, als autoritäre Reiche weite Teile Europas kontrollierten, war Odessa eine Oase, in der Kaufleute, Denker und Arbeiter zusammenkamen, angetrieben nicht von Zwang, sondern von Unternehmergeist.

Kosmopolitischer Charme

Noch vor zweihundert Jahren war Odessa kaum mehr als ein staubiges Dorf an der Grenze des Russischen Reiches. Doch innerhalb von zwei Jahrzehnten hatte sich die Stadt in ein geschäftiges Handelszentrum und einen der schicksten Ferienorte Europas verwandelt. Besucher waren von der europäischen Anziehungskraft und dem kosmopolitischen Charme der Stadt fasziniert – eine überraschende Entdeckung an den Ufern des Schwarzen Meeres. Der legendäre Mark Twain bewunderte den «mitreissenden Business-Look» der Stadt. Ein französischer Reisender beschrieb Odessa als «eine Stadt des Vergnügens und des Luxus», während der Diplomat Alexander Ribeaupierre sie als «einen höchst aussergewöhnlichen Ort» bezeichnete, «wie von Zauberhand erschaffen». Was ist die geheime magische Zutat, die diesen Wandel ermöglichte?

«Besucher waren von der europäischen Anziehungskraft und dem
kosmopolitischen Charme der Stadt fasziniert.»

Um eine Stadt von Grund auf neu zu errichten, braucht es mehr als nur Baumaterialien, einen Masterplan und finanzielle Unterstützung: Es braucht Menschen. In den Anfangstagen von Odessa besass fast ein Drittel der Bevölkerung nicht einmal einen russischen Pass. Diese Tatsache spricht Bände: Viele der Einwohner waren entweder Ausländer, die von den Versprechungen der Stadt angezogen wurden, oder Gesetzlose, die einen Neuanfang suchten.

Bemerkenswert ist, dass die Herrscher der Stadt oft selbst Ausländer waren: José de Ribas, der Gründer, war Spanier; Franz de Volan, der erste Architekt Odessas, war Holländer; der erste Bürgermeister, Duc de Richelieu, war Franzose. Diese Pioniere brachten eine Weltanschauung mit, die wirtschaftliche Freiheiten und offene Grenzen betonte.

«Nest von Verschwörern»

Odessa war nicht nur ein Zufluchtsort für Ausländer, sondern auch für Gesetzlose und Ausgestossene des Russischen Reiches. Viele der ersten Bewohner waren entlaufene Leibeigene, die sich aus der Knechtschaft der damals weitverbreiteten Leibeigenschaft befreien wollten. Die Stadtväter von Odessa trafen eine pragmatische Entscheidung: Sie brauchten fleissige Menschen, um die Stadt aufzubauen, und wenn jemand bereit war, einen Beitrag zu leisten, wurde über das Fehlen offizieller Papiere hinweggesehen.

Dank dieses Pragmatismus wurde Odessa zu einem Zufluchtsort für Menschen, die vor Unterdrückung aller Art flohen – religiöse Andersdenkende, jüdische Händler und kreative Köpfe. Ein englischer Reisender stellte fest, dass in Odessa «mehr politische Freiheit als irgendwo sonst im Reich» herrscht. Zar Nikolaus I., der diese Liberalität mit Argwohn betrachtete, bezeichnete Odessa als «Nest von Verschwörern». Aber da St. Petersburg weit entfernt war, liessen die örtlichen Machthaber die Stadt nach ihren eigenen Regeln gedeihen.

Handel ohne Grenzen

Zusätzlich zu seiner offenen Politik war Odessa ein Freihafen. Im Wesentlichen ist ein Freihafen ein Ort, an dem Waren ohne drückende Zölle und Abgaben importiert, gelagert und exportiert werden können. Dieses Konzept gewann im Mittelalter im Mittelmeerraum an Bedeutung, wo italienische Städte wie Genua und Venedig zu wichtigen Handelszentren wurden. Diese Häfen wurden nicht nur von Handelsgütern passiert, sondern auch von Ideen, Kunst und Literatur.

Andere europäische Städte bieten ähnliche Beispiele. Triest, dem der Status eines Freihafens gewährt wurde, wurde zum grössten und wohlhabendsten Hafen des österreichisch-ungarischen Reiches. Hamburg, dessen Status als Freihafen bis ins 12. Jahrhundert zurückreicht, spielte eine zentrale Rolle in der Hanse und war zeitweise der drittgrösste Hafen Europas. Diese Freihäfen waren nicht nur Tore für Waren, sondern auch für kulturellen Austausch und Kreativität.

Die Ernennung Odessas zum Freihafen markierte den Beginn eines neuen Kapitels in seiner Geschichte. Die Zollgebühren wurden um den Faktor zehn gesenkt. Das Ergebnis war beeindruckend: Odessa wurde schnell zu einer der am schnellsten wachsenden Städte Europas. Sie wurde als «Instant-Stadt» beschrieben, die «wie ein Pilz nach einem starken Regen aus dem Boden schoss». Ein deutscher Ingenieur nannte das schnelle Wachstum der Stadt «in Europa beispiellos».

In modernen Begriffen ausgedrückt war Odessa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere Wirtschaftszone. Heute haben diese Zonen viele Namen: Freihäfen, Wohlstandszonen, Wirtschaftsstädte und andere. Odessa konkurrierte erfolgreich mit türkischen und griechischen Häfen am Schwarzen Meer dank einer klaren Formel: niedrige Zölle, starke Eigentumsrechte und minimale Regulierung.

«Odessa konkurrierte erfolgreich mit türkischen und griechischen Häfen am Schwarzen Meer dank einer klaren Formel: niedrige Zölle,
starke Eigentumsrechte und minimale Regulierung.»

Neues Jahrhundert, altes Rezept

Das Modell wurde im 20. Jahrhundert von Stadtstaaten wie Hongkong und Dubai aufgegriffen, wo die wirtschaftliche Freiheit bescheidene Siedlungen in einige der reichsten Städte der Welt verwandelte. Auch Dubai war einst ein kleines Fischerdorf und wurde innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem Handelszentrum und einem Ziel von Luxusreisen. Wie Odessa ist auch Dubai auf eine internationale Bevölkerung angewiesen: Heute sind 85 Prozent der Einwohner Expats. Ob griechischer Kaufmann im 19. Jahrhundert oder digitaler Nomade im 21. Jahrhundert: Menschen sind schon immer an Orte gezogen, an denen sich Chancen und Freiheit verbinden.

Die Erfolgsgeschichte von Odessa spiegelt die Worte des verstorbenen Scheichs Rashid aus Dubai wider: «Was gut für die Kaufleute ist, ist gut für Dubai.» Dieselbe Philosophie galt auch für Odessa. Der von den Kaufleuten der Stadt erwirtschaftete Reichtum wurde in die Entwicklung der Stadt reinvestiert. Privates Kapital finanzierte öffentliche Güter wie Abwassersysteme und Strassenbeleuchtung, unterstützte die Armen und pflasterte die Strassen. Es waren Unternehmen und nicht staatliche Eingriffe, die den Grundstein für eine blühende Metropole legten.

«Der von den Kaufleuten der Stadt erwirtschaftete Reichtum wurde in die Entwicklung der Stadt reinvestiert.»

Gustavo de Molinari, einer der Gründerväter des Anarchokapitalismus, besuchte Odessa zweimal und war von dem einzigartigen Modell der Selbstverwaltung beeindruckt. Er hob den starken Kontrast zwischen der restriktiven Umgebung in anderen Teilen des Landes und der Freiheit, die er in Odessa sah, hervor. «Russland leidet unter einer Fülle von Verwaltungs- und Regulierungsvorschriften.» Es sei «alles verboten, ausser was das Gesetz erlaubt». Odessa habe einen anderen Weg eingeschlagen: «Unter den grossen Städten des Russischen Reiches hat Odessa das Modell der Dezentralisierung erfolgreicher als andere umgesetzt.» Molinari sah in Odessa ein bemerkenswertes Beispiel für eine weniger bürokratische, offenere Gesellschaft.

Ein Modell für moderne freie Städte

Odessa war nicht nur ein Handelszentrum, sondern auch eine Enklave der Freiheit innerhalb eines der repressivsten Regime seiner Zeit – des Russischen Reiches. In vielerlei Hinsicht war Odessa der «Wilde Westen» seiner Zeit und Region. Hier konnten entlaufene Leibeigene – Menschen, die einigen der härtesten Formen der Unfreiheit entkommen waren – zu einigen der reichsten Kaufleute der Stadt aufsteigen. Die Stadt bot einen sozialen Aufstieg, der innerhalb der Grenzen des Imperiums unvorstellbar schien.

Zeiten wie unsere, die von politischen Turbulenzen und wirtschaftlicher Unsicherheit geprägt sind, scheinen für visionäre Projekte wie selbstverwaltete Städte denkbar ungeeignet. Aber die Geschichte von Odessa weist auf das Gegenteil hin. Odessa florierte gerade deshalb, weil es eine Ausnahme von den strengen Regeln und Kontrollen Russlands war.

Heute, da die globale Freiheit auf dem Rückzug ist, bieten freie Städte mehr als nur wirtschaftliche Möglichkeiten; sie bieten Zufluchtsorte. Die Geschichte von Odessa erinnert uns daran, dass es selbst in den dunkelsten Zeiten eine Chance gibt, Orte zu schaffen, an denen die Menschen frei atmen können. Die Frage ist nicht, ob die Welt zu turbulent für freie Städte ist, sondern ob wir genug davon schaffen können, um die wachsende Nachfrage nach Freiheit zu befriedigen.

Dieser Essay basiert auf einem Vortrag an der «Liberty in our Lifetime»-Konferenz in Prag im November. Aus dem Englischen von Lukas Leuzinger.

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