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Ein Schweizer Staats- und Völkerrechtler der Krisen- und Kriegszeiten: Dietrich Schindler (sen.) 1890-1948

Zürich: Schulthess, 2005

Die schweizerische Rechtswissenschaft ist in Bewegung. Äusserlich fallen die grossen Studenten- und die wachsenden Professorenzahlen auf. Wo früher nur einige wenige Professoren das Privat-, das Straf-, das Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, die Rechtsphilosophie und die Rechtsgeschichte vertraten, lehren und forschen jetzt parallel gleich mehrere Lehrbefugte. Schleichend verschieben sich zudem die Akzente von der Lehre auf die Forschung – die Einheit von Lehre und Forschung schwindet. Einbussen betreffen vor allem die einst umfassende Wahrnehmung der Verantwortung für ein Rechtsgebiet.

Zum Kreis der bedeutenden Lehrer- und Forscherpersönlichkeiten im Bereich des öffentlichen Rechts – wir beschränken uns vorweg auf jene von Zürich – zählen die unvergessenen Namen von Fritz Fleiner, Max Huber, Zaccaria Giacometti, Dietrich Schindler (sen.), Hans Nef und Werner Kägi, die alle, jede auf ihre Art und zu ihrer Zeit, vor die Öffentlichkeit traten. Ihre Verantwortung für das Recht lebten sie sowohl an der Hochschule als auch inmitten des politischen Geschehens – Distanz nehmend, kritisch, differenziert, stets mit Nachdruck. Für Bern, wenn wir Parallelen ziehen, waren dies unter anderem Walther Burckhardt und Hans Huber, für Basel reihten sich, etwas später, Max Imboden und Kurt Eichenberger ein. Ob es die Zeitumstände oder ob es die Menschen waren, die solche Persönlichkeiten hervorbrachten, mag unterschiedlich beurteilt werden. Fest steht, dass sie sich für die Gesellschaft engagierten, der das Recht verlässlicher Massstab sein sollte.

Einer dieser bedeutenden Lehrer war Dietrich Schindler (1890­–1948), Staats- und Völkerrechtslehrer, aktiv in einer für das Land, das Gedeihen der Rechtsordnung und die internationalen Kontakte äusserst heiklen Periode, von der Wirtschaftskrise bis in die unmittelbare Nachkriegszeit. In seiner Person und durch seine Person hat sich Entscheidendes ereignet. Sein Sohn, Dietrich Schindler (jun., emeritiert und nicht minder bedeutsamer Professor für das gleiche Lehrgebiet), widmet ihm eine Darstellung besonderer Prägung. Sie zielt auf den Lehrer des Staats- und Völkerrechts, sie erhellt das familiäre Umfeld als prägend für seine Persönlichkeit, führt hin zum wissenschaftlichen Grundlagenwerk, dann hinüber zu den Herausforderungen der Krisen- und Kriegszeit (Nationalsozialismus, 2. Weltkrieg) mit ihren vielschichtigen sowie fatalen Fragezeichen zu Demokratie und Rechtsstaat, zur Souveränität der Staaten, zur schweizerischen Neutralität, zuletzt sogar hin zu Einblicken und Einsichten aufgrund von Beratungsfunktionen, zum Beispiel gegenüber dem Bundesrat mit Blick auf die Verhandlungen zum sogenannten «Washingtoner-Abkommen». Nicht weniger spannend sind die subtilen und informativen Beschreibungen der leitenden Mitwirkung im Verwaltungskomitee der «Neuen Zürcher Zeitung» – in den bedrängenden und bedrängten Jahren des 2. Weltkrieges noch kein breit gefächertes Unternehmen, sondern eine anspruchsvolle Zeitung mit einem selbstgewählten politischen Sinn für Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie. Die freie Presse hatte sich zu bewähren.

Es wäre aufregend und einladend genug, Unbekanntes und Akzentverschiebungen zu Bekanntem aufgrund der Biographie zu unterstreichen. Erstaunlich: in einem einzigen Menschen, mit all seinen mitmenschlichen nationalen und internationalen Querbezügen und seinem Verantwortungssinn für Recht, Rechtsstaat, Demokratie sowie für die Substanz des Völkerrechts, trifft zusammen, was Schindler (sen.) als wache Person zugleich zu bedenken und zu durchdenken vermochte. Der Autor verweist auf das breit gefächerte und dann doch wieder konzentrierte Schriftwerk. Der zweite Kristallisationspunkt des Buches liegt im mutigen Zutritt zu den von aussen an den Rechtslehrer herangetragenen materiellen Themata. Kein Ausweichen ist feststellbar. Der Rechtslehrer geht die zeitgenössische Traktandenliste an, von der Neutralität bis zum Dringlichkeitsrecht, von der Theorie des Rechts bis zur politischen Rechtfertigung der Demokratie. Ein Beispiel: der virulente Konflikt zwischen den Professoren Schindler und Giacometti über das Notrecht (1942!) ist sowohl als wissenschaftlicher Disput als auch als öffentliche Auseinandersetzung, mitten im Krieg, ein Ereignis – kaum vorstellbar, aber dennoch so geschehen. Die Debatte war notwendig. Nicht bei einem Artikel und einer Entgegnung blieb es, Replik und Duplik folgten sich. Die Ernsthaftigkeit des Rechts und des Rechtsstaates gebot dies. Ein drittes Merkmal: die Publikation erschliesst über eine einzige Person Einsicht in historische Quellen mit Zeitzeugencharakter – und dazu in das Denken eines kompetenten Akteurs mit exakt jenem Wahrnehmungsfeld, das für jene Zeit im Zivilen und im Öffentlichen, im Nationalen und im Internationalen entscheidend war: dem Staats- und Völkerrecht.

Das Wirken seines früh verstorbenen Vaters sichtbar zu machen, stellte an den Autor hohe Anforderungen. Sachlichkeit herrscht vor, weder Überhöhungen noch Unterbewertungen, keine falsche Scheu und kein blindes Akzeptieren, keine fragwürdigen Kontrastbilder, keine künstlichen Auseinandersetzungen mit irgendwelchen Verlautbarungen zur gleichen Periode. Dietrich Schindler jun. entwirft aufgrund klärender Quellen ein lebendiges Bild einer problemwachen und problemsensiblen Persönlichkeit, beseelt vom Recht in seinem normativen Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit – und dies für eine Zeit, die mehr als Klugheit, eben Verantwortung, gebot.

besprochen von MARTIN LENDI, geboren 1933, emeritierter Professor für Rechtswissenschaften an der ETH Zürich.

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