Ein Ort, ein Garten, etwas Zeit
Der Dichter Durs Grünbein polarisiert: seine Gedichte werden von Kritikern ebenso oft ausgezeichnet wie der altertümelnden Gelehrsamkeit bezichtigt. Auf dem Monte Verità gibt er sich entspannt, kritisiert den heisslaufenden Literaturbetrieb – und plant die eigene Künstlerkolonie.
Herr Grünbein, wir sitzen auf einer noch sonnenwarmen Granitbank unter Tessiner Palmen auf dem Monte Verità. Hier probten Lebensreformer vor 100 Jahren den Aufstand gegen Kommerz und Industrialisierung: der Dichter und Anarchist Erich Mühsam verfluchte beim Nacktgärtnern die «verkommenen» Grossstädte, Hermann Hesse kurierte in einer Waldhöhle sein Zivilisationsleiden, bald drauf revolutionierte Rudolf von Laban von Ascona aus den Ausdruckstanz, ehe Eduard von der Heydt ein Bauhaus-Hotel errichten liess und Deutsche seit den 70ern mit dem Opel Ascona in Richtung Süden brausten. Kurz: wir hocken auf einer Endmoräne deutscher Südsehnsuchtsgeschichte. Was sagt Ihnen der «Berg der Wahrheit» heute noch?
Ascona war ein Laboratorium neuer Lebensformen, der Monte Verità ein Magnetberg für einige der wildesten Geister Europas am Anfang des 20. Jahrhunderts, ein Pionierprojekt. Man kann solche Aussteigerkolonien heute als lächerlich empfinden, man kann sie von ihrem Scheitern her betrachten, aber auch als Neubeginn verstehen. Seit den Kommunen der 68er sieht man das allgemein eher ironisch. Alles, was ich darüber höre, klingt aber ungemein interessant, vor allem, weil ähnliches heute kaum mehr denkbar ist ausser vielleicht am Rand, irgendwo in Island. Ich frage mich: Warum gibt es keine solchen Künstlerkolonien mehr mitten in Europa?
Ich bin Journalist, kein Künstler. Sagen Sie es mir!
Weil wir alle inzwischen zu busy sind, vielbeschäftigte Individualisten, in tausend Projekte verstrickt, immer im Terminstress. Ich selbst bin das beste Beispiel dafür. Zurzeit tue ich fast nichts anderes, als umherzureisen. Eigentlich wollte ich mich am Schreibtisch festketten. Aber die Fliehkräfte sind jedes Mal stärker.
Da habe ich schon von schlimmeren Nöten gehört.
Ich reise von Festival zu Festival, nicht von Strand zu Strand, wie ein EU-Kommissar aus dem Amt für Lyrik. Und das, weil ich muss, nicht weil ich es unbedingt will. Erst schreibe ich meine Bücher, da bin ich dann tatsächlich das zurückgezogene, in sich verkrochene Individuum. Aber danach werde ich veranstaltet und komme gar nicht mehr zu mir, geschweige denn dazu, mit Gleichgesinnten eine Künstlerbewegung zu gründen. Heute schreibt man auch keine radikalen Manifeste mehr, die das Publikum schockieren könnten. Das weiss das Feuilleton-Kleinbürgertum zu verhindern, das die Konventionen einer breiten Leserschaft bedient. Wer kann es sich leisten, die Zeitungsleser vor den Kopf zu stossen? Das fängt schon bei der Sprache an. Wer schreibt schon noch dunkel und schwerverständlich? Alles muss komfortabel, unterhaltsam und bieder informativ sein, gern auch ein wenig frech. Aber nur so sehr, dass es am Ende von irgendeinem Kulturjournalisten jovial aufgefangen werden kann. Gut gemacht, junges Talent, brav, darfst dich setzen.
Um eine künstlerische Gegenbewegung zu gründen, müssten Sie vielleicht mit gutem Beispiel vorangehen, sprich: aussteigen aus dem Betrieb. Ist das Interesse daran vielleicht doch nicht gross genug?
Doch, es ist sogar sehr gross. Schon deshalb, weil die vor Ort versammelte Künstlergruppe eine Art Souveränität verleiht gegenüber der überall um sich greifenden Medialisierung. Manchmal hat man den Eindruck, die Dinge im Kulturbetrieb werden abgesprochen und eine Sache wird zum Medienereignis, bevor sie überhaupt stattgefunden hat. Der Künstler muss sich erst selbst definieren, wenn er diesem gut geschmierten Betrieb entgehen will. Am besten, er erfindet sich seine Vita, lügt hemmungslos, streut widersprüchliche Aussagen usw. Sonst ist er schnell formatiert und erfüllt nur noch Aufträge. Nur wenige können es sich leisten, die Hausaufgaben zu verweigern, die öffentlich vorgegebenen Themen zu boykottieren, nicht durch den hingehaltenen Reifen zu springen. Auch ich beantworte hier gerade brav die Fragen, die Sie mir stellen.
Konkreter?
Das beste Beispiel ist der Literaturbetrieb. Ein Bassin voller Individualisten, wie es scheint, tatsächlich aber: Kleinkrämer ihrer eigenen Ware. Da hat der literarische Neuling gerade sein erstes Buch geschrieben, – zack! – kann er sein Privatleben eigentlich vergessen: Der Neuling wird von der Betriebsmaschine ganzjährig gebucht und über Kontinente verschifft, dann erhält er diverse Literaturpreise und hat für drei weitere Romane schon unterschrieben, bevor er überhaupt die Ideen dazu hat.
Nicht wenige Neulinge wollen ja genau das und wundern sich, dass sie ihr Ziel nicht erreichen. Mein Verdacht: der Frust, nicht im Betrieb zu sein, dürfte verbreiteter sein als der, im Betrieb zu sein. Stimmt’s?
Die Frage unterstellt, dass es gar keinen Ausweg gibt. Es geht aber nicht um Frustration, es geht um das Problem der Verwandlung von Leidenschaft in geschäftliche Routine. Was verlorengegangen ist, sagte Pasolini einmal, sei die Wertschätzung der Poesie selbst. Die Profession des Dichters als Dichter wird immer bedeutungsloser. Da ist etwas, das sich nicht verwerten lässt, also fliegt es auf den Müll. Ich wundere mich immer, wie schnell die Jungen sich heute einreihen, kaum dass ihr Talent entdeckt ist. Wenn sie wüssten, auf was sie sich da einlassen! Von allem Anfang an wird ihnen von Agenten oder Verlagen eingebleut: Behalt deine Träume für dich, lass dich nicht ein auf Spielereien. Was wir von dir brauchen, sind professionell gemachte Texte. Schau dir an, wie die Amerikaner das machen. Dort lernt man das übrigens wie das Autofahren in der Fahrschule. Wenn man die Verkehrsregeln kapiert hat, kann es losgehen. Es gibt damit eine Art Betriebszwang, das clevere Literaturerzeugnis zu verkaufen. Für die künstlerische Haltung können Sie sich nichts kaufen.
Zugestanden. Aber: wenn man das nicht will, darf man doch auch konkurrierenden Verlagen ein Mandat geben. Solchen, die anders mit ihren Autoren umgehen. Oder aber man verzichtet ganz drauf und veröffentlicht in Eigenregie online, wie das Elfriede Jelinek nun schon seit Jahren tut. Kurz: es gibt stets Alternativen, heute mehr denn je. Steigen Sie also demnächst bei Suhrkamp aus?
Ich habe Kollegen, die haben tatsächlich fünf- oder sechsmal den Verlag gewechselt. Oder Künstler, die von Galerie zu Galerie zogen und ihre Kunst nun im Eigenvertrieb machen, weil sie das Galeriegeschäftsmodell nicht mehr aushielten. Ich habe den «praktischen» Weg gewählt, sehr früh einen Vertrag geschlossen mit dem Suhrkamp-Verlag. Das ergab sich so, und dabei sollte es bleiben. Das ist mein Mutterschiff – mit dem ziehe ich durch die Meere. Man kann jetzt natürlich direkt ins Wasser springen, ich meine ins World Wide Web. Aber wenn man keinen Namen hat, ist es genauso, als wollte man allein nach Amerika schwimmen. Andererseits sitzt man bei einem Verlag, erst recht bei einem prominenten, schnell in der Markenfalle. Manche sind sehr angewiesen auf die mediale Wirkung, die ein Verlag entfachen kann. Es handelt sich dabei um eine Art lukrative Enteignung: gib du uns dein Ich, wir geben dir Aufmerksamkeit und Geld dafür. Die Leute hier am Monte Verità, von denen wir eben sprachen, die praktizierten das Gegenteil. Sie brauchten keine Interviews, Ausstellungen, Werkbeiträge, Photoshootings, nichts davon. Sie brauchten einen Ort, einen Garten und etwas Zeit.
Zu Beginn hatten die aber vor allem eins: reiche Eltern. Und später hätten sie mehr PR dann gern gehabt, die Gründer dieses Sanatoriums, denn ihnen gingen schon recht bald die tüchtigen Arbeiter und dann auch die zahlenden Gäste aus. Viele der sogenannten Aussteiger waren dann auch ruckzuck ernüchtert wieder zu Hause in der grossen Stadt – und die verbleibenden Möchtegernvegetarier trafen sich nachts beim Verzehr fettiger Würste im Tessiner Grotto. Ist der Rückzug in die Kargheit nicht vielmehr Topos als echtes Lebensmodell?
Es gab beides: diejenigen, die ihre Utopie bis zum bitteren Ende weiterverfolgten und auf irgendeiner Insel im Südpazifik verendeten, und den «Typus Charles Baudelaire», die Desillusionierten: den Grossstadtdichter, der sich mitten in der Gesellschaft gegen die Gesellschaft wendet und sich von ihr abspaltet. Baudelaires einziger grosser Versuch, in die Welt hinauszugehen, vielleicht sogar sein Indien zu finden, wurde auf halbem Wege schon abgebrochen. In La Réunion sprang er von Bord und bestieg das nächste Schiff, das ihn zurück nach Paris brachte. Es gibt diese wahnwitzige Szene: Er springt auf den Landungssteg, und der Hut segelt ihm vom Kopf und wurde – wie es so schön dramatisch heisst – eine Beute der Haie. Baudelaire suchte also den Exotismus als Gegengift gegen den heraufkommenden gusseisernen Kapitalismus. Er brauchte kein Utopia, kein Tropenparadies, keine Landkommune. Er war heilfroh, als er zurück in Paris war. Denn Paris war sein Ort. In Paris fing er an, seinen lyrischen Kosmos zu entwickeln. Es entstand das genaue Gegenmodell zum Aussteiger: der Künstler, der sich an die Grossstadt kettet, auch an die neuen sozialen Bedingungen, unter denen das Schreiben dort stattfindet, und den Kampf mit den «Dämonen der Moderne» aufnimmt.
Das scheint gewissermassen auch Ihr Modell zu sein: Sie lebten zuletzt in Berlin und Rom und zuvor in vielen Metropolen der Welt. Sind Sie ein «Typus Baudelaire»?
Nun, meine Künstlerkolonie wäre sicher keine, die sich in der Peripherie ansiedelt. Von der Devise «Ab aufs Land» halte ich nicht viel. Ich bin ein Liebhaber der Städte und fühle mich dort wohl, wo sich ein dichtes, sehr urbanes Leben abspielt. Einige Autoren auch meiner Zeit, mutige Geister, fliehen die Zivilisation. Sie wollen weit hinaus, an die äussersten Enden der Welt – ich bewundere das von fern. Schriftsteller wie Bruce Chatwin, der Erdenpilger, oder der Wanderer Peter Handke – ihre Bücher lese ich mit einem gewissen Herzklopfen. Aber mein Lebensweg ist das nicht. Ich schaffe es nicht bis nach Patagonien oder in die Einsamkeit der Südsee, ich war von Anfang an auf die Städte gepolt, auf ein grossstädtisches Leben. Und deshalb gibt es auch viele Gedichte von mir, die sich um das Leben in den Städten, in den Strassen drehen. Es gibt ja sogar so eine Art Echosystem der Städte untereinander – über die ganze Welt.
Ein Echosystem?
Ja. Achten Sie mal auf die Strassennamen in grossen Städten. Ein schönes Beispiel: Man ist in Los Angeles oder in Beverly Hills und sieht dort lauter italienische Strassennamen. Was haben die da zu suchen? Klar: sie sind die Ideen italienischer Auswanderer! Das finden Sie in allen grösseren Städten dieser Welt: die haben alle untereinander eine Art von Funkverkehr. In Italien ist das sehr auffällig, deswegen habe ich mal ein Gedicht darüber geschrieben: «Corse Triest», wo es darum geht, dass man in Venedig eine Piazzale Roma trifft und in Rom eine Piazza Venezia und so weiter. So geht es immer hin und her, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent, ja sogar von der Erde zum Mond. Und in dieses Echosystem habe ich mich irgendwann hineingehört. Ich empfange seine Signale.
Ihre Lyrik ist Teil dieses Echosystems, nicht? Viele Ihrer Texte drehen sich um das Weggehen und Wiederankommen. Ihrem neusten Buchtitel «Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond» ist diese Bewegung schon eingeschrieben…
Der Mond ist ein Abstraktum – weil niemand von uns da je hochkommen wird. Aber wir schauen immer wieder mal hoch. Und so hat es die Menschheit seit jeher gemacht und hat nicht Ruhe gelassen, bis sie irgendeinen da oben hingekriegt hat. Und dann? Was blieb? Fussabdrücke im Staub, eine Fahne in der Ödnis und – viel wichtiger – der Blick zurück auf die Erde! Seither sahen nicht nur Armstrong und Co., sondern sehen wir alle unseren Planeten mit anderen Augen. Der Blick zurück ist eine Bewegung, die wertvoll ist. Deshalb habe ich wohl auch begonnen, eine Art Erinnerungsprosa an meinen ursprünglichsten Ort zu schreiben: Dresden. Das war meine erste Stadt, hier bin ich geboren, hier komme ich her. Und auch sie entwickelt im Rückblick eine ganz eigene Faszination, die man nur sieht, wenn man einmal weg war. Ich verstehe deshalb heute, warum mancher sagt, Dresden sei die schönste italienische Stadt nördlich der Alpen. (lacht)
Können Sie bei so viel Rückschauemphase auch mit dem Begriff «Heimat» etwas anfangen?
Da frage ich zurück: Gibt es diesen Ort? Ist das dort, wo man geboren wurde? Oder dort, wo man aufwuchs? Kann man eine Heimat wählen? Ich bin in der Gartenstadtkolonie Hellerau im Norden Dresdens aufgewachsen, das ist eine Art Heimat, von dorther kommen meine frühesten Erinnerungen. Der Ort hat – als Künstlermagnet – gewisse Ähnlichkeiten mit dem Monte Verità. Das Festspielhaus mit seiner Tanzschule: da liefen etliche Inszenierungen, die damals ganz Europa angezogen haben, und das war der Grund, warum sich in diesem kleinen Ort Leute wiederfanden wie Rilke und Kafka; alle möglichen europäischen Schriftsteller pilgerten dorthin und trugen etwas bei.
Hellerau war eine Gartenstadt, 1909 gegründet im Dresdner Norden, gelagert um eine zentrale Produktionsstätte, nämlich die Dresdner Werkstätten für Handwerkskunst, eine Art Möbelfabrik für neues Wohnen. Das Unterfangen atmete damit auch das Ideal der Lebensreform, nicht?
Genau, die Idee dahinter – eine nicht bloss geistige Idee, sondern eine ganz praktisch gelebte – war die Frage: Wie wollen wir künftig wohnen und arbeiten? Wie sehen gesunde Wohnräume aus? Kann man nicht gleichzeitig draussen und drinnen leben, in einer Umgebung mit möglichst viel Grün, einem Wäldchen vor der Haustür? All diese Dinge wurden im Moment des Siedlungsbaus mit den künftigen Bewohnern abgesprochen. Ich bin also mit dem Geist der europäischen Reformbewegungen von Kind an vertraut. Ein Hauch vom Monte Verità war auch in der Gartenstadt Hellerau bei Dresden zu spüren. Auch wenn die grosse Zeit, als wir dort hinzogen, schon vorbei war, der Traum schon unter DDR-Denkmalschutz stand.
Max Frisch hatte so eine Idee einmal für die Schweiz: 1955 hat er gemeinsam mit dem Soziologen Lucius Burckhardt und dem Historiker Markus Kutter das Manifest «Achtung: die Schweiz» veröffentlicht. Sie schlugen die Planung einer Musterstadt für 30 000 Einwohner vor. Die Menschen, die dort wohnen wollten, sollten ihre Stadt gleich selbst entwerfen. Von der Mülltonne am Spielplatz bis zum Küchentisch. Die Idee wurde vom bürgerlichen Lager als «kommunistisch» bezeichnet und dann bald beerdigt.
Dabei hätte ja gerade die dicht besiedelte Schweiz solche Pilotprojekte gut brauchen können! Auch Dresden erweiterte sich ja damals immer weiter ins Umland – bald war es so weit, dass nur noch Grossinvestoren Bauland requirieren und erst mal festhalten oder als Spekulationsobjekt benutzen konnten. Als Normalsterblicher war man also aussen vor. In Hellerau konnte jeder mit relativ geringen Geldbeträgen einsteigen. Genossenschaftsideen – das war 1909 durchaus utopisch und auch kein kreativer Einzelfall: Sachsen wies bis in die 1920er Jahre die grösste Dichte an Patenten auf, auch die Freistaatsidee war und ist bis heute populär, bald sah es rund um Hellerau aus wie in den kanadischen Wäldern: Um die Fabrik bauten die neuen Bewohner erst einmal Holzhäuser, richtige Blockhäuser. Die standen dann ihrerseits wieder unter Fichten und Kiefern, und gerade im Winter war das ein eigentümlicher Eindruck, gerade so, als wären das wieder neue Siedler, aber in der «alten Welt». Da hege ich direkt wieder meine Indianerphantasien oder greife, wenn zuhanden, zu einem Buch von James Fenimore Cooper, dieser Schlüsselfigur der amerikanischen Literatur.
Was, denken Sie, hat Sie und Ihr Schaffen in Ihrer Kindheit schon beeinflusst?
Dresdens Barock, die dort ausgestellte Kunstgeschichte und die Besuche in der Gemäldesammlung – das waren, wiederum zurückgeschaut, die entscheidenden Impulse für meine Gedichte. Malerei! Für mich ist die Dichtung in hohem Masse weiterhin eine Form, Bilder zu erzeugen, Bilder zu verknüpfen. Horaz definierte: «Wie Bilder gemacht ist das Gedicht.» Das Malen selbst ist mir nicht gegeben, ich male nicht, ich photographiere nicht. Aber ich muss das alles kompensieren mittels Schrift.
Wie lernt man von der Malerei als jemand, der sich mit dem Evozieren von Bildern eben nicht über Gemaltes organisiert, sondern über Text?
Bilder geben Beispiele dafür, wie der visuelle Raum organisiert ist. Was sind Blickpunkte, was sind Achsen, wie funktionieren Perspektiven? Und wie werden Perspektiven innerhalb eines Bildes verknüpft? Ein Beispiel: gestern schaute ich mir die kleine Sammlung von Künstlern vom Anfang des 20. Jahrhunderts hier in Ascona an: zum Teil aus dem Worpswede-Kreis, aber auch Marianne Werefkin, August Macke. Ich kann mir da irgendein Bild heraussuchen und meditiere darüber, wie im einzelnen Bild die Motive organisiert sind. Davon lerne ich unmittelbar für meine Gedichte. Denn auch ein Gedicht konzentriert sich auf seinen Gegenstand, es gleitet dann vielleicht ein bisschen, macht eine ähnliche Bewegung wie das suchende Auge, das eine Leinwand betrachtet. Dieses Suchen und Finden gibt es in meinen Gedichten, auch und vor allem in denen über die Städte. Dresden, Berlin, jetzt Rom… Überall kam ich an, suchte, fand, dokumentierte, kam zurück.
Eine weitere Eigenart Grünbeinscher Lyrik ist das Verschachteln von eigenen Beobachtungen – oder Erinnerungen – mit geistesgeschichtlichen Verweisen. Da kombinieren Sie einmal Beobachtungen der New Yorker Skyline mit antiken Mythen und Geschichten, nicht selten übernehmen letztere dann inhaltlich gar das «Ruder»: Zuweilen habe ich den Eindruck, ich sollte bei der Lektüre Ihrer Gedichte stets ein Handbuch der Antike greifbar haben.
Ein Antike-Handbuch kann nie schaden! Die griechische und die römische Antike sind nun mal die Matrix, der Ausgangspunkt für Europa. Das reicht bis weit in den Norden hinein, von Deutschland bis zu den Britischen Inseln, in alle Teile Europas, die sich nicht als ursprünglich germanisch definieren wollen. Die Antike ist also prägend geworden und geblieben. Dass die Antike in meinen Texten immer wieder auftaucht, hat also einen einfachen Grund: Ich sehe sie weiterwirken! Sie gehört zum Echosystem unserer Kultur, wir finden sie überall. Sogar bei der Benennung der Raumfahrtprogramme in den USA, also nicht nur in Europa, finden wir sie: Apollo 11 bis 17. Warum Apollo? Wer Apollon, den Gott der griechischen Mythologie, einen recht treffsicheren Bogenschützen, auch einen Leuchtenden, nicht kennt, denkt sich ja nichts dabei. Wer ihn aber kennt, für den macht der Name doch durchaus Sinn! Und wenn wir schon in den USA sind: haben Sie mal den Grundriss der Stadt Washington gesehen?
Nein. Aber helfen Sie mir: worauf wollen Sie hinaus?
Die Gründerväter Amerikas haben dort mit dem Kapitol, dem Obelisken und mit dem Lincoln-Memorial lauter Referenzen zur politischen Stadt der griechischen Antike gesetzt. Und als ich das sah, war mir wieder klar: Auch dieser neue Kontinent hat sich aufgrund der europäischen Einwanderung an den europäisch-antiken Werten orientiert. Nicht nur von den physisch-architektonischen Grundfesten her, sondern auch von den ideell-kulturellen – also bis hin zur amerikanischen Verfassung. Sogar der Impuls, eines Tages die Sklaverei abzuschaffen, lässt sich von daher deduzieren. Man orientierte sich an den höchsten, hehrsten Modellen Alteuropas, die alle im weit entfernten Mittelmeerraum entstanden waren, und entwickelte sie weiter. Ja, vielleicht ist es das: dieser Mittelmeerraum als kultureller Resonanzraum – nicht nur als abstrakte Philologie der dort entstandenen Texte – beschäftigt mich bis heute.
Die griechische Antike hat als «eingeschönte Vergangenheit» ihren festen Platz im deutschen kulturkritischen Geistesleben, das die Moderne nicht selten ablehnte. Auch viele Ihrer Texte haben einen bedrohlichen Unterton.
Das ist eine Nebenwirkung, kein Programm. Die Zukunft ist für mich keine Dystopie, ich glaube also nicht an den drohenden Untergang unserer Kultur oder Welt. Es wird natürlich noch etliche Atomreaktorunfälle geben, aus denen die Menschheit immer ein bisschen schlauer hervorgeht – aber wir werden unsere Welt vorläufig nicht zerstören, davon bin ich überzeugt. Im Gegenteil: es wird alles besser. Viel besser.
Das vorliegende Gespräch mit Durs Grünbein fand anlässlich des Literaturfestivals «Eventi letterari» in Ascona statt. Wir danken den Presseverantwortlichen für die freundliche Organisation.