Ein Mehrzweckinstrument auf der Suche nach Sinn
Rückbesinnung auf die Gesamtverteidigungskonzeption Karl Schmids Es war vorauszusehen, dass das organisatorisch ausgerichtete Projekt der Armee XXI bei der Volks-abstimmung vom 18. Mai eine breite Zustimmung finden würde. Die Konzeption, in deren Rahmen dieses Instrument in Zukunft sinnvoll und in Übereinstimmung mit der Verfassung einzusetzen ist,muss in den nächsten Jahren erst noch erarbeitet werden.
Die «Armee XXI» ist eine komplexe Kombination von Verkleinerung, Professionalisierung und Anpassung an verschiedenste Strömungen. Sie hat, unterstützt durch eine massive Behördenpropaganda, eine grosse, wenn auch ziemlich heterogene Zustimmung gefunden. Für viele Stimmende war es wohl die Vorstellung von einem geordneten Rückzug aus den Beschwerlichkeiten und den finanziellen und sozialen Kosten des Milizprinzips, die den Ausschlag für ein «Ja» gaben, und nicht das Bekenntnis zu einer wirksamen Selbstbehauptung. Für eine vertiefte Diskussion über die Konzeption und über den Zweck des Instrumentes fehlte die Zeit und die Motivation. Kritiker wurden etwas vorschnell als unbequeme Dissidente, Ewig-Gestrige oder schlicht als Armeegegner abstempelt, und viele öffentliche kontradiktorische Veranstaltungen wurden von offizieller Seite boykottiert. Die Zeiten, in denen engagierte, aber durchaus geordnete Diskussionen zwischen aktiven Kommandanten innerhalb der Armeespitze mit unterschiedlichen konzeptionellen Vorstellungen armeeintern und -extern an der Tagesordnung waren, sind leider vorbei. Kreative Dissidenz gilt heute als Verstoss gegen die militärische Disziplin.
Vorrang der Autonomie
Auf der Seite der Referendumsbefürworter war man sich lediglich darin einig, dass man gegen die «Armee XXI» sein müsse. Mit reinem Strukturkonservatismus ist jedoch unter sich wandelnden Voraussetzungen und Lebensgewohnheiten weder die Milizidee zu retten, noch eine zukunftstaugliche sicherheitspolitische Konzeption zu erarbeiten. Was es jetzt braucht, sind kluge Köpfe, die in der Lage sind, ein Denken in grundsätzlichen sicherheitspolitischen Bereitschaftsgraden zu entwickeln, das die gemeinsame Sicherheitsproduktion im Sinn der Landesverteidigung lagegerecht und nachhaltig gewährleistet, ohne die öffentlichen Finanzen zu strapazieren. Das von einer Mehrheit befürwortete Instrument muss jetzt mit mehrheitsfähigen, grundsätzlichen Zielsetzungen verknüpft werden. Angesichts von grundsätzlich offenen aussenpolitischen Optionen muss von mehreren möglichen Szenarien der kollektiven Sicherheitsproduktion ausgegangen werden. Auch Kooperations- und Integrations- Szenarien sind auf ihre Kompatibilität mit dem bestehenden Verfassungsauftrag und möglichen zukünftigen Optionen zu überprüfen. Dabei könnte sich erweisen, dass eine relativ autonome militärische und zivile Verteidigung mit wenig Aufwand in einen grösseren Defensiv-Rahmen integrierbar ist. Eine auf Kooperation und Out-of-area-Intervention angelegte Sicherheitspolitik ist jedoch kaum wieder autonomisierbar. Die Autonomie-Konzeption muss daher aus entscheidungslogischen und nicht aus politischen Gründen Vorrang haben, weil sie polyvalenter bzw. multioptionaler ist, und nicht den wahrscheinlichsten, sondern den gefährlichsten Fall (nämlich das allseitige Im-Stich-Gelassen-Werden!) anvisiert. Ganz unwahrscheinlich ist dieser Fall des unfreiwilligen Alleingangs – historisch betrachtet – keineswegs.
Die im Bericht 2000 formulierte Doktrin. «Sicherheit durch Kooperation» ist im Jahre 2003 bereits weitgehend überholt. Schon nach drei Jahren stehen wir in Europa und weltweit vor einer stark veränderten Lage. Die Uno, die Nato, die USA und die EU vertreten divergierende Interessen, und innenpolitisch klaffen die jeweiligen Sympathien und Antipathien zu möglichen Kooperationspartnern auseinander. Es zeigt sich einmal mehr, dass die Kooperation zwar als mögliche Option unter anderen durchaus in Betracht gezogen werden kann und muss, dass sie aber als Ausgangsbasis einer Konzeption wenig taugt. Je kleiner ein Staat ist, desto robuster und immuner muss sein Sicherheitskonzept sein. Diese Robustheit gegenüber allem Möglichen und auch Unwahrscheinlichen muss jedoch mit einer grossen Zahl von möglichen Optionen kombiniert werden: Rundumverteidigung mit der Universalität und Flexibilität des Wachsamen, Weltoffenen und Lernfähigen mit einer tief verankerten überlebenswichtigen Bindungsangst, symbolisiert durch den Begriff «Gesamtverteidigung», den man zu früh zum «alten Eisen» warf. Wer klein ist und reich, riskiert in mehrerlei Hinsicht jeweils im falschen Lager zu sein. Aus dieser Sicht gewinnt die Neutralität an Bedeutung, entgegen allen Prophezeiungen von Integrationisten aller Couleurs.
Auslandeinsätze als Sündenfall
Bezüglich Armee, Wehrpflicht, Miliz und Landesverteidigung ist mit den Out-of-area-Einsätzen vor zwei Jahren ein fundamentaler Sündenfall von einer Mehrheit an der Urne abgesegnet worden. Man hat sich damals ohne Grundsatzdiskussion vom bewährten und zukunftsträchtigen Grundsatz der Nichtbeteiligung und der (auch von aussen) kontrollierten, transparenten Nicht-Angriffs- und Interventionsfähigkeit in Verbindung mit der Doktrin des möglichst hohen Eintritts- und Aufenthaltspreises für jeden Aggressor oder Erpresser, entfernt. Die verführerische und suggestive Frage lautete: Sollen unsere Out-of-area-Soldaten unbewaffnet in die Krisengebiete geschickt werden? Dabei hätten die Grundfragen etwa so gestellt werden müssen: Darf und soll es Schweizer Milizsoldaten ausserhalb unseres Landes im Auftrag eines fremden Kommandos geben? Ist das wirklich ein Beitrag für den Frieden oder nicht vielmehr ein Service an jenen, die gerade die Macht haben, zu definieren, was ein «gerechter Krieg» oder gar eine «humanitäre Intervention» sei?
Das Milizprinzip in Verbindung mit allgemeiner Wehrpflicht und dem Gedanken der Gesamtverteidigung des eigenen Territoriums durch eine vorbereitete Gesamtorganisation, bei der die Armee als ein Instrument von vielen integriert ist in andere Mechanismen und Organismen (kurz: die Konzeption Schmid!), ist damit leider ziemlich stark verwässert worden. Ein Kleinstaat kann sich eine teure, perfektionistische Organisation im Hinblick auf einen zur Zeit relativ unwahrscheinlichen Fall eines militärischen Angriffs schlicht nicht leisten. Das Milizprinzip muss deshalb im Umfeld der polyvalenten Nutzung von Humankapital und vorhandener Infrastruktur im Normalfall einerseits und im Kriegs-, Krisen- und Katastrophenfall andererseits gesehen werden. Hier mit massiv heruntergesetzten Altersgrenzen zu operieren ist eine gravierende Fehleinschätzung des Stellenwerts ziviler Erfahrung in Kombination mit möglichen Gefährdungen. Die Mobilisierbarkeit im Hinblick auf besondere Fälle kollektiver Gefährdung muss im Sinn von gestaffelten Bereitschaftsgraden und von verschiedenen Bedrohungsformen massgeschneidert für die gesamte Bevölkerung sichergestellt werden.
Dabei darf ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass es in ruhigen Zeiten für eine rein militärische Dienstleistung eben nur relativ wenige wirklich trifft und die anderen einfach entsprechend ihren beruflichen Qualifikationen selektioniert, eingeteilt, dokumentiert und eventuell – in Kombination mit bereits zivil vorhandenen Qualifikationen – zusätzlich trainiert sein müssen. Zivil- und Bevölkerungsschutz muss auf diesem Hintergrund nicht abgebaut, sondern aufgewertet und neu konzipiert werden. Man kann sich vorstellen, dass es aus dieser Sicht gegenwärtig für eine grössere Zahl der Bevölkerung «Dienstzeiten» von ganz wenigen Tagen gäbe, bei denen beispielsweise der Umgang mit Schutzanzügen und Schutzmasken oder mit Methoden der Seuchenprophylaxe trainiert und entsprechende Ausrüstungen dezentral verteilt würden.
Milizprinzip hat nichts mit Laieneinsatz zu tun, sondern mit einer raffinierten, massgeschneiderter Bewirtschaftung von zivil bereits vorhandenem oder mit wenig Aufwand durch Umschulung zu vermittelndem Fachwissen jener Vielzahl von Spezialisten, die es in einer arbeitsteiligen, technisch zivilisierten Zivilgesellschaft gibt. Neben dieser umfassenden Pikettstellung von Milizspezialisten braucht es auch noch einen Grundstock an polyvalent einsetzbaren Allroundern. Dass es zusätzlich auch noch eine beschränkte Anzahl von vollprofessionellen Sicherheitsproduzenten braucht, ist der Preis, den man für hochtechnisierte Bereiche der militärischen Landesverteidigung leider zu zahlen bereit sein muss.
Überschätzte Wehrgerechtigkeit
Der Einwand, dass damit das Problem einer «gleichmässigen Beanspruchung» nicht gelöst wäre, und «heilige Kühe» wie «Rekrutenschule» und «Wiederholungskurs» abgelöst würden durch andere periodische Pflichten im Rahmen der Gesamtverteidigung, ist berechtigt, aber nicht stichhaltig. Wehrgerechtigkeit ist kein Ziel an sich, und ungleiche Beanspruchungen müssten eben durch Ersatzabgaben abgegolten werden. Sie sind der Preis, den man in Zeiten relativen Friedens für ein gefährdungsgerechtes, massgeschneidertes System kollektiver Sicherheitsproduktion zahlen muss. Bei einer Chemiekatastrophe kämen eben vorwiegend Dienstpflichtige aus dem Chemiebereich zum Zug – was ist daran stossend oder ungerecht?
Karl Schmid wird zwar heute geehrt und gefeiert, aber die sicherheits- und friedenspolitische Aktualität seiner philosophisch fundierten, umfassenden Verteidigungs- und Sicherheitsdoktrin und die Übertragbarkeit auf andere kleinere Staaten (vor allem auch auf Entwicklungsländer oder kleine Länder mit mächtigen Nachbarn) und den Beitrag zum Weltfrieden, der damit verbunden wäre, hat kaum jemand aufgegriffen. Die Konzeption eines territorialen, nicht angriffsfähigen defensiven militärisch-zivilen Netzwerks ist weltweit einmalig und ohne Vorbild, wäre aber durchaus exportierbar. Man vergleiche die Originalität dieses Beitrags zum Weltfrieden mit der Originalität des Auslandeinsatzes eines leicht bewaffneten Milizsoldaten, der im entscheidenden Moment nicht einmal kämpfen darf.
Wer Sicherheit kollektiv und durch Bündnisse schaffen will, verrechnet sich, das heisst, er liefert sich dem jeweils mächtigsten Bündnispartner bzw. der tonangebenden Mehrheit auf Gedeih und Verderb aus und verliert damit die Handlungsfreiheit. Sicherheit entsteht aus lauter kleinen und kleinsten defensiven Sicherheitsinseln, die sich zwar nach Bedarf ad hoc vernetzen können, aber notfalls auch autonom (und intrinsisch motiviert!) Sicherheit produzieren, abwehren und vor Ort gegen Aggressoren kämpfen, indem sie ihnen zunächst den Eintritt verwehren und nachher den Aufenthalt vermiesen. Man kann die potenziellen Angreifer nicht ausrotten, speziell, wenn man ein reiches Land ist, man kann sich auch nicht so beliebt machen, dass man nur noch «von Freunden umzingelt» ist, aber man kann sich als Ziel so bewaffnen, vorbereiten und härten (immunisieren), dass Angriffe unwahrscheinlicher werden und, wenn sie trotzdem stattfinden, unschädlicher. Totale Sicherheit gibt es nicht. Gewaltsame Konflikte entstehen nicht nur durch ungezügelte Aggressionsgelüste, sondern auch durch mangelhaft verteidigte Reichtümer. Solche Erfahrungen gelten unabhängig von momentanen politischen und militärischen Konstellationen, deren künftige Entwicklung mittel- und langfristig ohnehin niemand prognostizieren kann.
Eigenständige Strategie des Kleinstaats
Das Ja zur «Armee XXI» ist mit guten Gründen auch von den Befürwortern nicht als Ja zu einer bestimmten Konzeption gedeutet worden. Eine Rückbesinnung auf die «Strategie des Kleinstaats», welche die Kommission Schmid bereits in den 60er Jahren erarbeitet hat, ist immer noch möglich. Es geht jetzt darum, jene globalisierbare, friedensfördernde Doktrin der konsequenten, autonomen Selbstverteidigung mit allen Mitteln weiter zu entwickeln. Sie hat ihre Wurzeln im Erlebnis der 1515 bei Marignano gescheiterten Expansionspolitik und der erfolgreichen Neutralitätspolitik im 30-jährigen Krieg und kann vermutlich bis auf den Niklaus von Flüe (1417-1487) zugeschriebenen Grundsatz der Nichteinmischung zurückgeführt werden. Der Einwand, die Konzeption Schmid sei auf die damalige Bedrohungslage im Kalten Krieg abgestimmt gewesen und daher heute nur noch historisch bedeutsam, ist unzutreffend. Es gibt für einen Kleinstaat sicherheitspolitische und strategische Randbedingungen, die ziemlich konstant auch in wechselnden Konstellationen gültig bleiben. Strategische Grundsätze müssen nicht von jeder Generation neu erfunden werden.
Es ist zu hoffen, dass sich nach diesem heterogenen Ja zu einem sicherheitspolitischen Mehrzweckinstrument nun genügend geschichtsbewusste und langfristig strategisch denkende sicherheitspolitisch Engagierte aus allen Lagern zusammenfinden, welche bereit sind, an das anzuknüpfen, was hervorragende Persönlichkeiten der Nach-Aktivdienst-Generation als Verteidigungs- und Eigenständigkeits-Doktrin formuliert haben, und das leider bisher häufiger gelobt als verstanden und umgesetzt worden ist.
Literatur:
Studienkommission für strategische Fragen. Grundlagen einer strategischen Konzeption der Schweiz, Bericht der Studienkommission für strategische Fragen, (Kommission Schmid), Schriften des SAD Nr. 11, Stäfa 1971
Kurt R. Spillmann und Hans Künzi (Hrsg.), Karl Schmid als strategischer Denker: Beurteilungen aus historischer und aktueller Perspektive, Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, No. 45, Zürich 1997