Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Ein Mann sieht bunt

Wie lebt es sich eigentlich in der selbstgezimmerten moralischen Parallelgesellschaft der grünen Städter? Eine literarische Milieustudie des Berliner Bionade-Ghettos.

Ein Mann sieht bunt
Illustration von Silvan Borer.

 

Zwischen Weltkrieg II und III drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Und sie nahmen das, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äusserst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Und Humanität schien ihnen jetzt der bessere Weg zu diesem Ziel.

Franz Werfel, Stern der Ungeborenen, 1945

 

Der 1. Januar 2016 begann für Grünchen mit einem Schock: In einer Erdnusstüte hatte er sich immer wieder über leere Hülsen empört und war dann, als er mit der Hand tiefer wühlte, auf eine pelzige Pampelmuse gestossen, an der er nach eingehender Inspektion vier Wichtelpfötchen entdeckte. Die stämmige, schwarzhaarige Maus hatte wohl da gelebt, wo die Nüsse laut Hersteller angebaut wurden, auf dem bitterkalten Hochplateau von Peru. Dem Umfang nach war der Nager an seiner letzten Mahlzeit erstickt. Die Entdeckung kam nicht ganz aus heiterem Himmel, denn schon beim Öffnen der Tüte, die noch vom Lichtermarkt stammte, hatte Grünchen – der eigentlich Harro Grunenberg hiess – den zarten Hauch von Tod und Verderben gewittert, wie ihn der treue Biomarktkunde von Konjakwurzelreis kennt.

«Es roch verdächtig, aber ich dachte, es wäre wieder nur der Kot eines unterprivilegierten Pflückers so wie neulich an der Maniokknolle, weisst du noch?»

«Ein Glück, dass es keine Spinne war», frotzelte Becki, die ihrem Mann bei der Mäusebestattung im Gartenbeet half. «Die hätte bestimmt noch gelebt und bei deiner Veranlagung wärst du jetzt ein Fall für den Leichenbeschauer.»

Mit zwei Spatenstichen war der kleine Kadaver unter die Erde gebracht. Rebekka Schrimpf, kurz Becki genannt, verkörperte den harten Kern ihrer Ehe, die noch immer – und darauf waren sie beide stolz – ohne Trauschein auskam. Sie ging selten einem Ärgernis aus dem Weg, und selbst die Begegnung mit einer Wanderspinne, die wohl einst in einem Bananenbüschel angereist war, hatte die äusserst sportliche Frau mit einem wohlgezielten Tritt für sich entschieden. Grünchen, eher der Federballtyp, kam damals mit Snappy, der «Fanghaube für achtbeinige Freunde», ein paar Sekunden zu spät. Seine Frau war ihm halt immer eine Nasenlänge voraus, mit ihrer Furchtlosigkeit hatte er ohnehin nie mithalten können. Als ehemalige Ärztin ohne Grenzen war sie aus dem Bosnienkrieg «schlimmeres Viehzeug» – gemeint waren hier serbische Tschetniks – gewöhnt.

Grünchen dagegen galt als Sensibelchen der Familie. Ikea-Eden, seine noch nicht ganz volljährige Tochter, pflegte ihn sogar als «legendarisches Sensibelchen» zu bezeichnen. Legendär deshalb, weil Grünchens Sensibilität etwas Traumhaftes hatte. Sicher lag das an seinem sehr speziellen Beruf, dem des ethischen Werbers, was einem gutbezahlten Bekehrungsauftrag aller gleichgültigen Menschen zum Guten entsprach.

Was war gut? – Bio war gut. Grüne Werbung war gut, Grünchen – gelernter Pharmatexter und mit fünfundfünfzig eigentlich ein klarer Fall für Hartz IV – galt sogar als Erfinder. Seit fast fünfzehn Jahren arbeitete er nun schon für eine Agentur namens Ethos Berlin. Obwohl er inzwischen zur Geschäftsleitung zählte, war sein Markenzeichen noch immer der schlichte Jutebeutel geblieben, Aufschrift: Plastic bags are for plastic people. Andere Seite: Aussen Jute, innen Geschmack! Damit waren in Grünchens Fall Bioremoulade, Algenaufstrich nach Landmannsart, Naturdarmknackwurst, Fair-Trade-zertifizierte Bananen, ein Pflanzendrinksortiment, Naturstrom, kubanische Ökohotels und veganes Katzenfutter gemeint. Aus der Hipster-Food-Schiene war inzwischen eine politische Plattform geworden. Ohne die Zurschaustellung eines hohen sozialen Bewusstseins liess sich nicht mal mehr ein Pfund Kaffee verkaufen. Es ging demnach nicht mehr um die Dinge an sich, um Verbesserung oder Innovation, es ging um den Weg zur sozialen Achtsamkeit einer Marke, ihre «sittliche und moralische Hebung» und Selbstempfehlung – Zitat Grünchen –, «die Sache des guten Menschen zu führen und allen Getretenen und Unterdrückten zu helfen». Grünchen hatte die letzten Jahre für nahezu alle Kunden «Leitbilder» verzapft, «um deren ethische Anliegen gewinnbringend» zu vermarkten. Das alles mochte merkwürdig klingen und doch war es nicht untypisch für eine Zeit, in der es möglich war, gefrorene Niveacreme als veganes Meersalzeis zu verkaufen, oder ein Feta-Hersteller seine Werbefotos «proaktiv entchristianisierte», um neue, muslimische Kunden nicht zu verprellen. Es war dieselbe Zeit, in der sich jeder Bericht des Weltklimarats wie ein von Papst Franziskus abgesegneter Hirtenbrief las und in der ein einziges #MeToo genügte, um einen Filmmogul oder Betriebsdespoten barfuss und ohne Wasser in die Wüste zu schicken. Die Zivilgesellschaft machte endlich klar Schiff und Grünchens Agentur ging mit gutem Beispiel voran. «Unsere Kampagnen sind klimaneutrale Projekte», so stand es in den Jahresberichten, «von erneuerbaren Energiequellen erzeugt. Bei der Produktion von Streuartikeln bevorzugen wir Biobaumwolle, FSC-Holz und Firmen in der Dritten Welt, die den zehn UNO-Prinzipien entsprechen.»

Grünchen kannte nur drei aus dem Kopf, das ethische Korrigieren nahm ihn einfach zu sehr in Beschlag. Ein lukratives Geschäft war das allerdings nicht, zumindest nicht im Vergleich mit der neuen, in der obersten Etage angesiedelten «Löschfabrik», die ebenfalls zu Ethos gehörte. Das Eliminieren von Hate Crimes auf Facebook wurde vom Staat vollfinanziert, selbst der Justizminister schaute ein-, zweimal im Monat vorbei. Das Netz-DG musste nun auch durchgesetzt werden, die «alten Feinde der Demokratie» griffen erneut nach der Macht und Grünchen glaubte manchmal, der Himmel über Berlin sei eine Spur brauner geworden. «Unsere Arbeit hier ist erst getan», hatte er einmal dem Minister gesteckt, «wenn der letzte rechte Gedanke verdunstet ist!» Der hatte ihm von unten herauf hochnotpeinlich auf die Schulter geklopft und anerkennend genäselt: «Na, na, mein Lieber, Sie ham ja ’ne heilige Wut…» –

Ja, das «Weichmaulen» von Unrecht – Grünchens Sache war es sicherlich nicht. Auch privat geriet er über vieles in Rage – Biosticker auf Kondensmilch («Har har, für wie dumm haltet ihr mich?»), Leugnen des Klimawandels vor Kindern («Wer das Schmelzen der Polkappen leugnet, bringt Nichtschwimmer in Lebensgefahr»), ausländerfeindliche Gebrauchsanweisungen («Und wo steht das jetzt auf Arabisch! Da muss man doch Dschihadist werden!»), dann das Logo von Uncle Ben («Hausnegerreis, boykottieren!»), chinesischer Kohl mit Pizzageschmack («Nieder mit dem Frankenfood aus der Volksrepublik!») und natürlich seine sprechende Schallzahnbürste, die ihn einmal die Woche zu erwürgen versuchte («Schweig endlich still, du untotes Ding!»). Härter noch rieb er sein Hirn an Pressemeldungen auf, wie damals im Sommer 2012, als «der Unmensch im Kreml» die starken Mädels von Pussy Riot aufs Schmählichste drangsalierte. Grünchen hatte das einfach nicht glauben wollen und nächtelang unter dem Twitter-Namen @greengenie Stimmung gemacht. In seinem weisslockigen Kopf, das darf man sagen, herrschte ein heilloses Durcheinander, ein Wirrwarr aller Ungerechtigkeiten der Welt, ein elendes, koboldhaftes Hin und Her war das, wie schnelle Reissschwenks über einem Katastrophengebiet, nicht um zu klären, sondern um neue Erregungsmöglichkeiten zu finden. Das ewige Unrecht – auch das lässt sich nicht anders sagen – hielt Grünchen auf Trab.

Schon als Student hatte er eine Shitlist geführt: Die Welt, ach ja, sie war nicht perfekt, Gott hatte in so vielem versagt, doch zum Glück gab es Grünchen, und der würde sein Möglichstes tun, um es besser zu machen! Vom Elan des Durchschnittsstudenten hatte er mindestens doppelt so viel abgekriegt, und normalerweise stürmte er frontal auf die Ungerechtigkeit los.

 

Die Welt, ach ja, sie war nicht ­perfekt, Gott hatte in so vielem versagt, doch zum Glück gab es ­Grünchen, und der würde sein Möglichstes tun, um es besser zu machen!

 

Am Ende gehörte er dann zu denen, die sich laut wünschten, dass alles endlich auf gute sozialistische Weise ins Lot kommen würde, alle Menschen Brüder wären, voller Heiterkeit und noch mehr Zuversicht für die künftigen Generationen. Becki, schon damals seine bessere Hälfte, hatte es nicht immer als sexy empfunden, wenn er beim Vögeln von der Weltverbesserung schwärmte. Doch statt ihm den Laufpass zu geben, hatte sie sich in ihren «Kleinrevoluzzer» verliebt. Vielleicht war es auch nur dieser Spitzname, der im Englischen noch erbärmlicher klang. Erst in den letzten Jahren hatte sie begonnen, an seinem Verhalten zu kritteln – er solle endlich erwachsen werden, die Welt sei trotz seines Engagements schlimmer und ungleicher geworden. Das liess sich nun wirklich nicht leugnen: Während die Konjunktur schwächelte und Krisen einander jagten, hatte sich das Nettoeinkommen der Reichen mehr als verdoppelt, die grössten Luxuskonzerne verzeichneten einen Zuwachs von satten neunundzwanzig Prozent. Eine Welt der Gleichheit und Toleranz war nirgends zu sehen. Nur Grünchens berühmte Liste – die Shitlist – hatte sich tatsächlich verändert: Aus Ökoverbrechen, Korruption und Trinkwassermangel waren auf unerklärliche Weise Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Nebenbei-Antisemitismus geworden. Ganz recht: Nebenbei-Antisemitismus… Solche Wörter waren im besten Berlin aller Zeiten selbst Vorschulkindern bekannt; sie wussten zwar nicht um die Bedeutung, doch dass sie damit Stress machen konnten – bei Erwachsenen –, war ihnen durchaus bewusst. Es zählte zu Grünchens geheimen Meriten, dass er an dem letzten, sperrig klingenden Nebenbei-Dingsda nicht ganz unschuldig war. Anlässlich einer der ersten Strassenumbenennungen – aus Treitschkestrasse war Goldschmidtstrasse geworden – hatte er auf einer Pressekonferenz zwei sich mokierende Lästermäuler mit Zwischenrufen – «Schnauze, ihr Nebenbei-Antisemiten!» zum Schweigen gebracht. Irgendein versprengter taz-Journalist griff das auf und danach hatte der Begriff sich wie ein Virus im Blätterwald der Deutschen verbreitet.

«Da ist die Andenmaus einmal um den halben Globus gereist … und nimmt so ein trauriges Ende.» Grünchen – noch immer auf Knien am Grab des verstorbenen Nagers – war fast zu Tränen gerührt.

«Trauriges Ende?» Becki warf ihre prächtigen, rostbraunen Korkenzieherlocken zurück. «Wegen einem gebietsfremden Schädling werde ich keine Träne vergiessen.» Und wie süsses Gift: «Du kannst das Ganze auch positiv sehen: Wir haben den Lebensraum unserer einheimischen Mäuse geschützt.»

«Vorsicht», warnte Grünchen, «das ist Nagerrassismus.»

«Eher Monsterrassismus, und das ist okay.»

«Ach was», beharrte Grünchen. «Hätte die Maus noch gelebt, wäre sie uns willkommen gewesen.»

«Dir vielleicht», erwiderte Becki, «ich hätte am Montag eine Katze gekauft.»

Illustration von Silvan Borer.

Wenn sie so redet, dachte Grünchen bei sich, klingt sie fast wie diese Rasseschwindlerin aus den Staaten; man weiss nie, ist sie schwarz, ist sie weiss … was zur Hölle? Aber vielleicht brauchte man wirklich ein zweites X-Chromosom, um weibliche Ironie zu verstehen. Andererseits kannte er auch den offiziell von der Regierung verabschiedeten Text, und der wies Becki als gesetzestreu aus: «Gebietsfremde Arten sollen nach EU-Willen frühzeitig erkannt und ausgerottet werden.» Ausgerottet – hallo, geht’s noch, ihr Spinner? Grünchen hatte schon wegen des Wortlauts auf der Brüsseler Website seinen Protest abgesetzt, allerdings ohne Erfolg. Dahinter steckten natürlich die Briten, diese letzten verkappten Faschos Europas. Sie verstanden unter Biodiversität eine Art Schutz ihrer einheimischen Arten – wie retro im neuen, bunten Europa, das der ganzen Welt Heimat sein wollte!

Während Grünchen noch grübelte, schleppte Becki den Spaten in die verwaiste, weil viel zu kleine Gartenblock­sauna. Das Häuschen hatte die letzten Jahre nur als Garage für Zweiräder wie Grünchens Roller gedient, die Tür liess sich zumeist erst nach ein paar Anläufen schliessen.

«Wenn das so weitergeht», rief sie und rammte ihre Schulter gegen die Tür, «dann brauchen wir doch noch ein Vorhängeschloss…»

«Oh bitte nicht», erwiderte Grünchen. «Du wärmst diese Geschichte wirklich bei jeder Gelegenheit auf…»

«Es ist leider keine Geschichte.» Becki rümpfte hörbar die Nase, vielleicht war sie auch nur erkältet. «Zwei junge Männer sind hier reinspaziert und haben dein Moped geklaut … Am helllichten Tag. Dass es Farbige waren, macht es nicht besser…»

«Aber die Rassifizierung von vermutlichen Tätern? Das macht es besser?» Eigentlich hatte Grünchen keine Lust, sich mit Becki zu kabbeln. «Das war kein Diebstahl, Becks, sondern die Art von Share Culture, die der Schutzsuchende aus seinem Elendsland kennt.» Und mit einer Sanftmut, die schon an seelische Grausamkeit grenzte: «Mich würde es nicht wundern, wenn die Ärmsten mir eines Tages meine Mühle zurückbringen würden…» Etwas veranlasste ihn aufzusehen und er erschrak vor dem mitleidigen Blick seiner Frau.

«Tröste dich», sagte sie mit spöttisch verzogenem Mund, «dein Roller steht immer noch da. Ikea meint auch immer, dass dieses Teil ganz gut zu deinem Jutesack passt…»

Grünchen, Becki und die ziemlich erwachsenen Kids Ikea-Eden und Frieder wohnten seit zehn Jahren in der Grünen Visitation, einem der besseren Bionade-Ghettos der Stadt und nicht unpassend für ein Paar, das seine Brötchen am Empörungs-Everest der Deutschen verdiente. Der hufeisenförmig gebaute Wohnkomplex inmitten eines buddhistisch anmutenden Parks verfügte über eine Waldorfschule, ein Yogazentrum, ein Dutzend exotischer Restaurants und eine auf Öko getrimmte Mall. Alles wirkte sehr offen, wie das Gegenteil dessen, was sich Gated Community nennt, die Bewohner bevorzugten es, von Lebensstilgemeinschaft zu sprechen, schliesslich gehörte man ja zu den Guten, die niemanden auf der Welt ausschliessen wollten.

Die Postleitzahl der Grünen Visitation galt dennoch als neues Berliner Statussymbol. Ihr beiläufiges Erwähnen war beinahe so versnobt, wie im KdW mit Fredus zu zahlen, der geheimen Währung der Hauptstadtelite.

«Halli-hallo, alter Mann…»

Ein Riese mit schulterlangem, aschblondem Haar und hängenden Schultern schlurfte quer über den Rasen. «Was tut er hier im Garten so früh auf Knien?»

«Frieder, Jungchen…», Grünchen rappelte sich auf und versuchte seinen Riesensohn zu umarmen. Für ein Inklusionskind hatte er sich prächtig entwickelt, vor allem seine Muskelmasse schien täglich zu wachsen. Die Lederjacke mit dem aufgesprühten A war inzwischen zwei, drei Nummern zu klein, doch sie hatte diesen vertrauten Geruch nach Brandbeschleuniger, Buntlack und Schnaps, wie es sich für einen Aktivisten gehörte.

 

Die Lederjacke mit dem aufgesprühten A war inzwischen zwei, drei Nummern zu klein, doch sie hatte diesen vertrauten Geruch nach Brandbeschleuniger, Buntlack und Schnaps, wie es sich für einen Aktivisten gehörte.

 

«Wo kommst du jetzt her? Deine Mutter und ich haben uns Sorgen gemacht…»

«Häh? Wieso – ich meine, echt jetzt?» Frieders Verhalten entsprach in etwa dem eines Lebewesens, dessen Motivation von seinem Instinkt gelenkt wurde; eine Frage nach der konkreten Ursache seines Tuns stürzte ihn oft in tagelange Verwirrung.

«Ja, echt jetzt», seufzte Grünchen. «Weil du uns sagtest, wir würden Silvester gemeinsam feiern. Aber dann warst du weg.»

«Hm. Wie kann man weg sein, wenn man nicht da war? Ich meine … Wann wa-war … war … war ich denn hier?»

«Schon gut», sagte Grünchen. Rösselsprünge und grosse Rochaden würden sich mit Frieders IQ wohl nie machen lassen.

«Klingt nach höherer Physik», rief Becki, «aber jetzt bist du wieder da, oder nicht?» Auch sie verpasste dem Riesensohn einen Schmatzer. «Hast du Hunger in der Jacke? Im Haus wartet schon ein Häppchen auf dich.»

«Gute Mam!» Frieder knutschte seiner Mutter den Scheitel. «Ich freu’ mich so auf mein Fleischsalatbrötchen!»

Frieder, der eigentlich Atomfried Ben Lennox Grunenberg hiess und während einer Sitzblockade des ersten Castor-Transports gezeugt worden war, hatte noch nie ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Hotel Mama den Rücken zu kehren. Irgendwie war das Beckis Schuld. Schon am Tag der Aspergerdiagnose hatte sie von einer lebenslangen Verpflichtung gesprochen. Es sei gut, dass es auch Heranwachsende gäbe, die eben nicht in null Komma nichts mit ihrem Innen- und Aussenleben ins Reine kämen, so wie Fertiggerichte, die man nur mal schnell aufbacken müsse. Bei manchen gäre es länger. Immerhin, dass er mit einundzwanzig sein drittes Praktikum als Kameramann mache, zeuge von Frieders Zielstrebigkeit. Eine reelle Chance gab es eigentlich nicht, doch Frieder hatte seine wahre Berufung ja längst in der Zerschlagung des deutschen Faschismus gefunden. Mehr als zwei Jahre spielte er jetzt schon den Spotser – oder Smartphone-Reporter – für eine lokale Dienststelle des neuen Radikalisierungs-Aufmerksamkeits-Netzwerks. Obwohl die offizielle Agenda von einer «vorbeugenden Strategie gegen christliche Fundamentalisten, Fremdenfeinde und Tierrechtsfanatiker» sprach, drehte sich alles um das Aufspüren von «rechten oder euroskeptischen Personen im Grossraum Berlin». Die meisten Spotser hatten einen Antifa-Verein auf der Vita und verdienten selten weniger als fünfhundert Euronen die Woche. Nacht für Nacht patrouillierten sie auf den Strassen Berlins, um Faschisten, Rassisten, Homophobe und andere Menschenfeinde bei einer Untat zu filmen. Die Clips wurden dann im Handumdrehen an die Medien verteilt, Bild natürlich bevorzugt.

Frieders Revier verlief zwischen drei Kebabkneipen und einem Kino, in dem türkisch synchronisierter Action-Mist lief. Die Gegend galt als Hochburg der Gang Osman United, infolgedessen war sie Nazi-freies Gebiet. Dennoch brachte es Frieder auf zwei, drei Swastika-Sightings die Woche. Um auf so eine Quote zu kommen, war klar, dass er auch mal selbst zur Spraydose griff. Einmal – und wirklich nur einmal – auf frischer Tat ertappt, hatte er sich auf die Schule eines «Stern»-Reporters berufen, der mit seiner Fantasie über einen Eifel-Klan wochenlang für Schlagzeilen sorgte. Inzwischen sehnten sich die Medien nach solchen Kalibern zurück, denn die Hakenkreuzritzerei von Mittweida und das Plagiat von Zürich hatten sich als Fake News entpuppt.

«He, Leute, wollt ihr mal sehen, wa-was … was richtig Cooles, meine ich?»

Frieder zückte sein iPhone und drückte auf Play. Die Bildqualität war gut und auch der Ton liess kaum zu wünschen übrig.

«Hab ich euch nicht schon mal … von dem Na-nazi-Bäcker erzählt, dem Typen … aus Reinickendorf, der Zu-zuckerschaumformlinge als … als Negerküsse vertickt?»

Wenn er einen längeren zusammenhängenden Satz sprach, klang es jedes Mal so, als fühle er sich erstmals in die Sprache hinein. «Wi-wir haben das Schwein abgepasst, gestern … als es aus der … der Christmesse kam. Passt mal auf…»

Im körnigen Halbdunkel sah man einen älteren Mann. Dem Anschein nach hatte man ihn schon eine Weile in der Mangel gehabt.

«Na, wie … wie hei-heissen die Dinger?», fragte jetzt eine Stimme, die verdächtig nach Frieder klang. Vom Rand her schob sich eine Lade mit Schokoküssen ins Bild, der weisse Karton sorgte für partielle Überbelichtung.

«Das sind nur Mohr’nköppe», ächzte der Mann, «das darf man sagen! Bei uns im Laufental – da, wo ich herkomm’ – werden Wildsäue Mohren genannt.»

«Oh, das … das glaub ich nicht. Der hat die People of Color gerade beleidigt…»

«Was? Ich verstehe kein Wort…» Die Panik in der Stimme des Alten klang so, als kündige sich ein Herzinfarkt an. «Hier … meine Geldkarte! Hebt ab, so viel ihr wollt, aber bitte hört damit auf…»

«Scheiss auf dein Nazi-Gold, Brownie!», zischte jetzt eine weibliche Stimme.

Die Lade mit dem Schaumgebäck kippte nach vorn und klatschte dem Mann ins Gesicht. Der brechende Schokoguss machte ein schlimmes Geräusch.

«Da hast du deine Negerkussparty für vier Euro neunzig!»

Die Handykamera filmte noch eine Zeit lang, wie der am Boden liegende Mann frisch gemacht wurde. Eine letzte Einstellung zeigte sein mit der weissen Füllung verschmiertes Gesicht: «Ich … entschuldige mich … bei meinen farbigen Mitmenschen für meine … meine rassistischen Auslassungen. Tut mir leid.»

Das Happy Slapping endete abrupt und Frieder versuchte mit seinem Vater zu fäusteln, doch der wirkte fast so verdutzt wie der Bäcker im Film.

«Wer … wer sind diese Barbaren?»

«Das sind Ultras, alter Mann. Und einige hatten auch ihre Bräute dabei…»

Natürlich wusste Grünchen, was der Aktivist unter Ultras verstand, in seinem Schädel ging es ja von Berufs wegen zu wie in einem Rudel wildgewordener Zeitungsverkäufer der Obdachlosengazette. Dass er in dieser Situation auf Nullchecker machte, hatte tatsächlich mit seinem intakten psychischen Filter zu tun: Hooligans kannte er prinzipiell nicht.

«Könntest du dich bitte etwas differenzierter ausdrücken?» Grünchen fragte sich, ob Frieder nur aufgetaucht war, um ihn in Gewissenskonflikte zu stürzen. «Ich bin vielleicht nicht mehr der Jüngste, aber ich mag keine Mobber und ich bin ein entschiedener Gegner von Videos, die Jugendliche dazu verleiten, Szenen des Schmerzes und der Demütigung mit ihren Handys zu produzieren und diese in den sozialen Medien zu posten. Das ist unethisch.»

Frieder nickte wie ein geprügelter Hund. «Bin wohl zu weit gegangen … wa?»

«Ja, das kann man so sagen.»

«Das ist aber jetzt irgendwie unfair…»

«Wie – unfair?»

«Dass du das sagst.» Die Augen des grossen Jungen begannen in ihren Höhlen zu rollen. «Es ist doch … Du sagst jetzt, das geht zu weit. Aber wieso ha-ha-hast du mir das nicht früher gesagt?»

«Wie früher?»

«Na, am Anfang. Wenn du jetzt so was sagst, da-dann ist das zu spät.»

Grünchen schüttelte lange den Kopf. «Junge, du sprichst in Rätseln.»

«Ich glaube», mischte Becki sich ein, «was Friederchen meint, ist, man sollte ein Schild mit der Aufschrift ‹Betreten des Rasens verboten› am Rand und nicht in der Mitte einer Wiese aufstellen. Hab ich recht?»

«Gute Mam», bestätigte Frieder. Und dann, als hätte sich ein Schalter in seinem Innern umgelegt: «Ist eh egal, was der alte Mann sagt. Auf YouTube geht der Spot gerade vo-voll durch die Decke. Ich denke, ich geh dann mal chillen…»

Einen sonnigen Ausdruck auf dem Gesicht, stampfte er in seinen Springerstiefeln davon, wobei er das frische Grab der Andenmaus um Zentimeter verfehlte.

Auf diesen Schrecken brauchte Grünchen einen kleinen, aber deftigen Bissen, und was gab es um diese Uhrzeit Besseres als ein dünnes Smørebrød mit Algenaufstrich nach schlesischer Leberwurstart? (Antwort: Natürlich sibirischen Eselsmilchkäse mit Tessiner Feigensenf, aber beide Delikatessen hatten die Weihnachtsfeiertage nicht überlebt.)

«Hätten wir den Jungen nur nie Atomfried genannt. Mit so einem Namen muss er ja ununterbrochen für den Weltfrieden kämpfen…»

Grünchen und Becki sassen inzwischen in ihrer afrokaribischen Küche. Der Used Look hatte was für sich: Mehrere angeblich im Senegal zusammengehämmerte, türkisfarbene Sideboards erweckten den Eindruck, ewig im Urlaub zu sein. Eine Fächerpalme, die man aus einer gewissen Entfernung für ein Schilfgebiet halten konnte, trug ebenfalls zum Tropenflair bei. Natürlich wurde auch unter diesen Umständen gluten-, laktose-, fruktose- und histaminfrei gekocht. Eine passende Upcycling-Lampe aus Dosenblech hatten sie allerdings vor kurzem verschenkt, schliesslich hatte sich die Putzhilfe damit einmal fast den Puls aufgeschlitzt.

«Sag mal, es klingt vielleicht komisch, aber hat Frieder da seine eigene Straftat gefilmt? Wenn er das postet, landet er vor Gericht.»

«Straftat?» Becki bugsierte aufgewärmtes Pitabrot an den Tisch. «Unser Junge? Wie kommst du denn da drauf?»

Grünchen sah sie nachdenklich an. «Bitte, wir beide wissen doch, dass er den Paragrafen 86a gelegentlich beugt und dass er am 1. Mai nach guter, alter Tradition zündelt. Aber dass er ältere Menschen vermöbelt…»

«Das war ein Nazi – okay?» Es hatte durchaus etwas von einer objektiven Beschreibung, wie Becki das sagte. «Ausserdem wurden doch nur ein paar Schokoküsse verteilt.»

«Für mich sahen die eher wie Kopfnüsse aus…»

«Du und deine Haarspalterei.» Becki setzte sich ihm gegenüber. Sie hatte den Morgen auf dem hauseigenen Mallorcatoaster verbracht, war dunkelbraun im Gesicht, was das eisige Blau ihrer Augen schrecklich betonte.

«Hm.» Grünchen nickte pikiert. Sein Blick wanderte hinaus in das allgegenwärtige, beruhigende Grün. «Das klingt so, als ob bestimmte Menschen neuerdings vogelfrei sind.»

«Ja, das heisst es dann wohl.» Fröhlich auflachend sah sie ihn an, als erwarte sie ein Signal. Als nichts kam, sagte sie nur: «Was willst du eigentlich, Harro? Der Kampf gegen den Faschismus ist unsere Existenzgrundlage geworden. Okay, Frieder ist nicht @greengenie und schlägt manchmal daneben, aber immerhin besser, als wenn er nicht schlägt.»

Es sollte ihm nicht gleich verdächtig erscheinen, aber so im Rückblick würde Grünchen den letzten Satz seiner Frau einmal als «Spitze eines befremdenden Fehlstarts ins Jahr 2016» empfinden. Erst das Begräbnis eines unter tragischen Umständen verstorbenen Nagers, dann der schockierende Einblick in Atomfrieds Arbeitswelt und nun dieser moralische Offenbarungseid einer Humanistin, die sich den Rückfall in die Barbarei schönreden wollte. Irgendwie war das zu viel und Grünchen zog sich in sein Refugium, das Mansardenzimmer, zurück.


Thor Kunkels Roman «Im Garten der Eloi. Geschichte einer hypersensiblen Familie» erscheint im Februar 2022 im Europaverlag. Wir danken dem Autor und dem Verlag für den Vorabdruck dieses Auszugs aus dem ersten Kapitel.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!