Ein Lenzburger in Tokyo
Im Sandgarten des Ryoan-ji, eines der ikonischen Tempel Kyotos, begegnet sich das Land der aufgehenden Sonne selbst. Dort hat der Zen-Buddhismus seinen idealtypischen Ausdruck gefunden, die Meditation ihren Gartenbezirk, in dem nichts wächst ausser dem Moos. Der Betrachter geht an fünfzehn Steinen vorbei, die auf fünf Moosinseln in dem Kiessand angeordnet sind. Von keinem einzigen […]
Im Sandgarten des Ryoan-ji, eines der ikonischen Tempel Kyotos, begegnet sich das Land der aufgehenden Sonne selbst. Dort hat der Zen-Buddhismus seinen idealtypischen Ausdruck gefunden, die Meditation ihren Gartenbezirk, in dem nichts wächst ausser dem Moos. Der Betrachter geht an fünfzehn Steinen vorbei, die auf fünf Moosinseln in dem Kiessand angeordnet sind. Von keinem einzigen Punkt aus kann er jedoch alle Steine gleichzeitig sehen. Immer bleibt mindestens einer den Blicken verborgen. Die Lehre daraus ist mit Bedacht zu ziehen, wie man überhaupt in Japan zwischen drastischer Verlangsamung und Hochgeschwindigkeit hin und her geworfen wird. Keine Perspektive kann alles erfassen; jeder Blick ist relativ. Umfassend ist nur die Andacht, die Reflexion des Fragmentarischen.
Daniel Bürgin, der Lenzburger in Tokyo, dem wir bereits subtile Kurzgeschichten aus Japan verdanken («Kwannon», 2006), hat nun Essays über dieses Land vorgelegt, die an Anschaulichkeit und Dichte nichts zu wünschen übrig lassen. Sie sind ein Dokument wortfälliger Kulturvermittlung, aber auch der Anverwandlung des Anderen, dessen Eigenwert er respektiert, ohne das Japanische zu verklären. Es sind lebensweltliche Essays über ein Land, weil sie mitten aus dem Leben geschrieben sind, auf dem Weg zum heiligen Berg, dem Fuji-san; als Augenzeuge einer Kirschblütenhochzeit; als Flaneur in den Konsumhöllen Tokyos; als Gast in Spezialrestaurants, die den lebensgefährlichen Kugelfisch auf der Speisekarte führen, wobei wir lernen, dass mehr alte Menschen an Reiskuchen sterben als an Kugelfischverzehr. Bürgin zeigt aber auch, wie der Raum, das kostbarste Gut im überfüllten Tokyo, in den Tempeln und riesigen Bürokomplexen, im Marunouchi-Distrikt etwa, einer Leere huldigt, nein, die Leere heiligt, die so zu einem «fünften Element» wird.
Bürgin nimmt uns mit zu Kabukiveranstaltungen (nie, nie kann man sie vergessen, diese oft ins Schrille umschlagende, meist klagende, das Geschehen wohl auch untermalende Stimme des epischen Erzählers auf der Kabukibühne), in denen traditionellerweise Männer Frauenrollen übernehmen, er nimmt uns mit in die Takarazuka-Revuen, in denen Frauen beweisen, dass sich die Männer neutralisieren lassen. Wir finden uns mit ihm in einer Schwertschmiede wieder und lüften das Geheimnis des japanischen Lächelns. Wir lernen von ihm das Wort ganbarimasho (durchhalten, sich durchbeissen, aber auch: auf die Zähne beissen), das viel über das japanische Ethos aussagt in einer Kultur, in der buchstäblich alles ein Zeichen ist, wobei nur der Kundige erkennt, ob es auf etwas hinweist, ein Anzeichen für etwas ist oder eine konkrete Bedeutung hat.
Bürgins Essays sind streckenweise poetische Exkurse («Die Kälte duscht mich», «Der Klang jedes einzelnen Glockenschlags, tief und laut, besitzt das Recht, ganz zu verhallen»). Es sind Texte, die ins Gepäck eines jeden Japanreisenden gehören, kleine Offenbarungen über das unergründliche Land der echten und künstlichen Kirschblüten.
Daniel Bürgin: «Auf der Suche nach Yamato». Eggingen: Isele, 2009