«Ein Leben, das kein Gott geschaffen»
Dichter und Denker samt Tondichter: Dieses Jahr war auch ein Hölderlin-, Hegel- und Beethovenjahr mit deren 250. Geburtstagen.
Friedrich Hölderlin, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ludwig van Beethoven: Hat dieser 1770 geborene flotte Dreier oder Hattrick aus dem deutschen Pantheon deshalb 2020 in unserer Wahrnehmung stimulierend aufgeleuchtet, eingeleuchtet? Oder wurde das Beethovenkonzert coronabedingt schon wieder abgesagt, blieb der Hölderlinband verschollen in der hinteren Reihe des Bücherregals und dispensierten wir uns salopper noch von Hegel, etwa mit Franz Grillparzer, der sich mit seinem Reim keinen Reim auf Hegel machen konnte: «Was mir an deinem System am besten gefällt? / Es ist so unverständlich wie die Welt.»
«Nur einer hat mich verstanden, und auch der hat mich nicht verstanden», soll Hegel auf dem Totenbett ausgerufen haben. Und dieser eine soll Karl Marx gewesen sein, der bei Hegels Ableben als 13-Jähriger noch nichts publiziert hatte und ihn also erst später angeblich vom Kopf auf die Füsse gestellt haben soll. Obiges Zitat ist vielmehr ein Streich von Heinrich Heine an Hegel und wohl auch an Marx. Echt wiederum ist Arthur Schopenhauers Breitseite gegen Hegel: «…ein platter, geistloser, ekelhaft-widerlicher Scharlatan, der, mit beispielloser Frechheit, Aberwitz und Unsinn zusammenschmierte.» Dabei hatte doch Aschenputtel Schopenhauer die dezidierte Frechheit, seine Vorlesungen just zum selben Zeitpunkt wie jene Hegels anzusetzen, nur um dann auf wenigen Studenten sitzen zu bleiben, während dieser Alte (18 Jahre älter), dieser Hegel, den Saal immer noch voll hatte. Warum so unduldsam-ungeduldig? Im «Grossen Zitatenschatz» des Weltbild-Verlags schlägt Aschenputtel-Hagestolz Schopenhauer den Hegel ja locker mit 31 zu 11 Einträgen und auf aphorismen.de gar mit 732 zu 147.
Noch nicht mal ein Zürihegel
Bringt uns vielleicht ein modernerer Denker den Hegel etwas näher? Wie etwa ahndet Sir Karl Popper mit seiner «offenen Gesellschaft» Schopenhauers Foul an Hegel? Auch Popper pfeift auf Hegel, pfeift gar einen oder mehrere Penaltys gegen Hegel, wenn er wettert1: «Es gibt eine Sprachverschmutzung, und zwar nirgends mehr als in Deutschland. Und niemand hat mehr dazu beigetragen als Hegel, und durch Hegel die deutschen Intellektuellen. … Haben Sie jemals Hegel gelesen? Furchtbar schwierig, grosse Worte, tiefe Wesenseinsichten, man versteht gar nichts…» Eine kritische Würdigung sähe Hegel dann vielleicht im Zentrum oder vielmehr Nervenzentrum jenes (deutschen) Idealismus, der entnervt genug (und wiewohl nicht singulär, monokausal) über den Marxismus in den kommunistischen Totalitarismus und über Nietzsche und Co. in den nationalsozialistischen Messianismus und Terrorismus geführt hat.
Und dieser Hegel taugte weiland noch nicht mal zum Zürihegel, anders als Georg Büchner, Richard Wagner oder Thomas Mann, die einstmals in Zürich ein und aus gingen. Hat Hegel vielleicht etwas, was Hölderlin nicht hat? Fehlanzeige, auch diese Frage kann gleich umgedreht bzw. auf den Kopf gestellt werden: Was hat Hölderlin, was Hegel nicht hat? Ein Hegel hat im Almanach der Dichter nichts zu bestellen, während Friedrich Hölderlin auch noch einen Eintrag im Denkerlexikon hat, etwa in der «Enzyklopädie der Philosophie» aus dem Sonzogno-Verlag. Hölderlin studierte gar mit Hegel und Schelling in Tübingen und war in Jena Hörer Fichtes. Und Hölderlin wird attestiert, dass er laut Sonzogno «damals den Schritt über die Reflexionsphilosophie Kants und auch Fichtes hinaus wagte, indem er die Beziehung des Ich auf sich selbst auf einer tieferen Ebene zu begründen suchte, auf der diese Beziehung erst entsteht». Hölderlin landet wie Hegel im (deutschen) Idealismus mit einer ästhetischen Vernunft als höchster Instanz, was immerhin auch für Hegels hohe Wertschätzung der Künste, eine Konstante deutscher Philosophie von Kant bis Nietzsche, ja bis Adorno und Heidegger, den Hölderlin-Verehrer, spricht.
Hölderlin gilt vielen als eine sehr alte, veraltete Rhetorik, und gleichwohl hat die NZZ recht, wenn sie schreibt: «Hölderlin bereitete die literarische Moderne vor.» Und darüber hinaus hat dieser zuweilen auch noch als evangelischer Theologe titulierte Dichter nichtsdestoweniger gar die agnostische Moderne (vor Büchner) antizipiert, wenn er sagt: «Ich fühl in mir ein Leben, das kein Gott geschaffen und kein Sterblicher gezeugt. Ich glaube, dass wir durch uns selber sind, und nur aus freier Lust so innig mit dem All verbunden.» – Kein Gott, durch uns selbst im All… dieser Hölderlin korrespondiert verblüffend mit dem Votum unseres Schweizer Physiknobelpreisträgers 2019 Michel Mayor, der seinerseits erklärte (aufklärte): «Es gibt für Gott keinen Platz im Universum.» Hölderlin spielte zwar allzu verspielt immer wieder mit der Göttermetapher; ob einen Denkerdichter wie ihn am Ende nicht auch dies närrisch, ja zum Psychiatriefall gemacht hat…
Vier Ouvertüren für ein Opernfinale
Laut Hölderlin soll sich der Mensch auch gegenüber irdischer Obrigkeit emanzipieren und das Leben in die eigenen Hände nehmen: «Euch ist nicht zu helfen, wenn ihr selber euch nicht helft!» – Und was hat Hölderlin, was Beethoven auch hat? Beiden eignet eine Heidenmühe, was die Bewältigung der grossen Form des abendfüllenden Dramas bzw. der Oper betrifft. Beide ringen unendlich um das Theatron und schaffen genau ein Drama bzw. eine Oper. Hölderlin beginnt sein einziges Drama dreimal, doch «Der Tod des Empedokles» bleibt unvollendet, Torso. Beethoven geht für seinen «Fidelio» sogar viermal an den Start, verliert sich fast schon in den vier Ouvertüren für diese seine einzige Oper.
Ludwig van Beethovens Oper beginnt ganz zaghaft (fast verzagt) als Singspiel, trumpft aber bald einmal mit einem Gefangenenchor auf, der sich vor Verdis «Va pensiero sull‘ali dorate» nicht zu verstecken braucht, Beethoven gelingen packende Arien für den politischen Gefangenen Florestan und seine inkognito in der Hosenrolle ihn last minute befreiende Gemahlin Leonore, wobei diese Oper dann im Finale sich selbst auch noch als Oratorium übertreffen (oder verfehlen?) muss. Es singt so grossartig in Beethovens einziger Oper, dass dann zuletzt auch die Symphonie noch ins Singen kommt, wenn Beethoven seine Neunte mit Chor und Gesangssolistenensemble krönt, auf Schillers «Ode an die Freude».
Friedrich Schiller hielt sein «Freude, schöner Götterfunke» übrigens nicht für durchweg gelungen, vielleicht auch deshalb, weil er neben den Göttern darin viel zu pathetisch (gar pietistisch?) auf einem Gott im Singular herumreitet, obwohl er wie «Heidenkönig» Goethe doch dem Christentum nicht viel abgewinnen konnte. Beethoven wiederum bedient darüber hinaus vielmehr einen Pantheismus, den Hölderlin, siehe oben, aber eigentlich auch schon früh im 19. Jahrhundert prophetisch genug bereits abgemeldet, ad acta gelegt hat…
Ganz ohne Epidemie kommen wir auch mit dieser Betrachtung nicht durch: Hegel fiel 1831 mit 61 Jahren einer Choleraepidemie zum Opfer, um den ertaubten Beethoven wurde es schon 1827 mit 57 Jahren ganz stille, totenstille, während Hölderlin als 73-Jähriger und nach 37-jähriger (mithin das halbe Leben währender) geistiger Umnachtung 1843 vollends das Zeitliche segnete. Er, der eigentlich keine Tragödie schreiben konnte, hat das halbe Leben in einer Tragik sondergleichen als Zombie seiner selbst zugebracht.
Die Weltwoche, Nr. 28/1987, Interview geführt von Volker Friedrich. ↩