Ein laues Plädoyer für die
Vernunft
Thilo Sarrazin: Die Vernunft und ihre Feinde. Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens. München: Langen-Müller-Verlag, 2022.
Thilo Sarrazin hat sich darauf spezialisiert, mit unbequemen Büchern in Deutschland Kontroversen auszulösen. «Deutschland schafft sich ab» postulierte, dass kinderreiche, bildungsferne Einwandererkulturen in Deutschland allmählich die Bevölkerungsmehrheit bilden würden. In «Europa braucht den Euro nicht» übte der Ökonom Grundsatzkritik an der europäischen Einheitswährung.
Das Thema seines jüngsten Buches, «Die Vernunft und ihre Feinde», scheint dagegen auf den ersten Blick gänzlich unumstritten. Zwar hält er sich auch diesmal nicht mit provokativen Aussagen zurück, etwa zur Genderideologie oder der Toleranz der Politik gegenüber islamischen Fundamentalisten. Doch vor allem widmet er sich dem rationalen Denken und der Bedeutung wissenschaftlicher Methoden für die offene, freiheitliche Gesellschaft.
Sarrazin unterscheidet zwischen «richtigem» Denken, das auf Vernunft basiert und Erkenntnis anstrebt, und «falschem » Denken, das auf Dogmen und Ideologie beruht. Dieses falsche Denken sieht er auf dem Vormarsch: einerseits durch den relativen Kinderreichtum streng religiöser Gruppen, andererseits durch eine zunehmende Verbreitung von Ideologien, die teilweise die Religion ersetzt haben. Dadurch sei die offene Gesellschaft bedroht.
Diese Gefahr möchte man nicht kleinreden, doch fragt sich, ob Sarrazin die Vergangenheit dabei nicht verklärt. Der Kinderreichtum religiöser Gruppen ist kein modernes Phänomen, und die von Sarrazin als goldene Ära beschriebenen 1950er- und ’60er-Jahre waren keineswegs Paradiese von Rationalität und offenem Denken, was etwa die Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten oder sozialen Aussenseitern angeht.
Was dem Buch aber vor allem schadet, ist, dass es sich in einer Vielzahl von Themen verheddert. Vom Ursprung des Universums über die biologischen Unterschiede zwischen Frau und Mann bis zum Koalitionsvertrag der Ampelregierung, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist: Zu allem hat Sarrazin etwas zu sagen. Doch die Breite geht auf Kosten der Tiefe. Damit verliert Sarrazins eigentlich wichtiges Plädoyer unnötig an Überzeugungskraft.