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Ein Land mit offenen Türen

Das Schweizer Bildungswesen zeichnet sich durch seine hohe Durchlässigkeit und seine Nähe zur Praxis aus – eine gute ­Mischung für die Herausforderungen der Zukunft.

Ein Land mit offenen Türen
Ursula Renold und Thomas Bolli, zvg.

 

Das Schweizer Bildungssystem gilt als eines der besten auf der Welt. Das verdanken wir auch den beiden Verfassungsreformen von 1999 und 2006: 1999 wurden beispielsweise die Gesundheits-, Sozial- und Kunstberufe der Bundesregelung unterstellt und standardisiert, während die Reform von 2006 die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen klarer regelte, den Hochschulbereich vereinheitlichte, die Durchlässigkeit förderte und die Weiterbildung als nicht formalen Bereich verankerte.

Heute zeichnet sich das Schweizer Bildungswesen vor allem durch zwei Dinge aus: einerseits die gute Einbettung der Berufsbildung, andererseits die hohe Durchlässigkeit im System. Wer in der Schweiz eine Bildungskarriere beginnt, dem verschliessen sich keine Türen: Das ganze Leben lang kann man hierzulande nämlich umsatteln. Das ist besonders entscheidend, wenn aufgrund von digitaler Transformation die Qualifikationsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt immer rascher ändern und alle Menschen so zu regelmässigen Weiterbildungen animiert werden – ob formaler oder nichtformaler Natur.

Vielfältige Bildungsmöglichkeiten

Abbildung 1 zeigt das formale Bildungssystem mit seinen Abschlussmöglichkeiten und – durch verschiedene Pfeile angedeutet – seinen Auf- und Umsteigemöglichkeiten. Nach der obliga­torischen Bildung haben Jugendliche verschiedene Optionen, um ihre Bildung auf Sekundarstufe II fortzusetzen. Den allgemein­bildenden Bildungsweg mit Gymnasium (akademische Matura) und Fachmittelschule (Fachmatura) schliessen in der Schweiz rund 27 Prozent der Jugendlichen ab. Rund 65 Prozent machen einen Abschluss in einer beruflichen Grundbildung. Dazu gibt es zwei­jährige Grundbildungen mit Attest oder drei- bis vierjährige Grundbildungen mit eidg. Fähigkeitszeugnis (EFZ). Parallel zu oder anschliessend an ein EFZ kann man die Berufsmatura absolvieren. Mit dem Zusatz einer Universitätseignungsprüfung (oft als Passerelleprüfung bezeichnet) können Absolventinnen und Absolventen einer Fach- oder Berufsmatura in eine universitäre Hochschule umsteigen – rund 7 Prozent aller Maturitätszeugnisse werden auf diesem Weg vergeben. Lediglich rund 8 Prozent aller Jugendlichen gelingt es nach dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit nicht, sofort Anschluss an eine nachobligatorische Bildung zu finden.

Auch im Anschluss an die Sekundarstufe II besticht das Schweizer Bildungssystem mit seinen vielfältigen Anschluss­möglichkeiten: Wer beispielsweise eine gymnasiale Matura erworben hat, kann nach einem einjährigen Praktikum in dem für das Studium einschlägigen Arbeitsgebiet ein Fachhochschulstudium beginnen. Wer sich beruflich spezialisieren möchte, kann einen Studiengang mit praxisnaher Qualifikation fortsetzen. Dazu stehen rund 1000 Angebote der höheren Berufsbildung zur ­Verfügung, also entweder ein Studiengang an einer höheren ­Fachschule (Diplom HF) oder ein Abschluss mit eidgenössischer Berufs- oder höherer Fachprüfung. Die Berufsbildung kommt gut an: Sie geniesst in der Bevölkerung einen hohen Stellenwert.1

Unterschiede in Kompetenzen und Präferenzen

Beim Stichwort der Durchlässigkeit gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass es zwischen der Wahl des Bildungsweges und den individuellen Kompetenzen eines Lernenden durchaus einen ­Zusammenhang gibt.

Die Abbildung 2 zeigt die Verteilung der PISA-Kompetenzen von angehenden Gymnasiastinnen und Gymnasiasten beziehungsweise Berufslernenden. Die Grafik macht deutlich: Die unterschiedliche Kompetenzverteilung beeinflusst die Bildungswahl. Der durchschnitt­liche Lernende an einem Gymnasium erzielt mehr PISA-Punkte, als es der durchschnittliche Berufslernende tut. Gleichzeitig ­erkennt man, dass es durchaus auch einige hochqualifizierte ­Berufslernende gibt – und einige Jugendliche mit der Aspiration, ein Gymnasium zu machen, obwohl ihre PISA-Kompetenzen vergleichsweise tief sind. In vieler Hinsicht ist das Gymnasium also nicht unbedingt als eine elitenbildende Hochleistungseinrichtung, sondern als eine gleichwertige Bildungsinstitution mit allgemeinbildender Kompetenzausrichtung zu betrachten.

Eine Studie hat gezeigt, dass Unternehmen Arbeitnehmern mit gemischtem Bildungshintergrund höhere Löhne zahlen, also jenen, die entweder auf dem akademischen oder dem berufsbildenden Weg der Sekundarstufe II beginnen und die tertiäre Ausbildung auf dem jeweils anderen Weg beenden.2 Zudem finden Leute mit einer Berufslehre als Erstausbildung nicht nur leichter den direkten Einstieg in den Arbeitsmarkt, sondern haben auch Vorteile, wenn sie auf dem zweiten Bildungsweg eine Hochschulausbildung absolvieren und anschliessend in den Arbeitsmarkt eintreten.3 Eine reine Akademikerkarriere, die vielerorts als Königsweg zum Durchbruch auf dem Arbeitsmarkt versprochen wird, ist also nicht zwingend das einzige Erfolgsrezept. Viel eher lässt sich der Erfolg des Schweizer Bildungssystems mit folgendem übergreifenden Motto einfangen: «Kein Abschluss ohne Anschluss».

Berufspraxis als A und O der Arbeitsmarktfähigkeit

Ein gutes Beispiel, das die hohe Durchlässigkeit im Schweizer Bildungssystem verdeutlicht, ist der Karrierepfad des eidg. dipl. Wirtschaftsprüfers: In der Beschreibung im Kasten auf Seite 60 wird nämlich deutlich, auf welch unterschiedliche Weisen man diesen Abschluss erhalten kann. Zudem legt der Kasten nahe, dass der Praxis­erfahrung bei Karrierepfaden eine grosse Bedeutung zukommt.

Ein Blick in den Stellenmarkt Monitor Schweiz bestätigt, dass die Nachfrage nach Arbeitserfahrung in den Stelleninseraten über die letzten Jahrzehnte stark angestiegen ist.4 Ebenso ist die Nachfrage nach «Soft Skills» gewachsen. Beides sind Entwicklungen, die das Bildungssystem vor grosse Herausforderungen stellen.

«Soft Skills» müssen ins tägliche Verhalten internalisiert werden, begleitet von mehrmonatigen Übungsgelegenheiten mit Feedback – eine denkbar knifflige Aufgabe für einen schulischen Kontext. Hier hat die Schweiz mit dem dualen Charakter ihres ­Bildungswesens einen entscheidenden Vorteil: Wer nämlich einen Teil seiner Ausbildung in einem Betrieb absolviert und fast täglich authentischen Situationen ausgesetzt ist, kann gutes Verhalten von verschiedenen Rollenmodellen im Team beobachten und imitieren. In der Regel erfolgt auch das Feedback regelmässig, denn der Betrieb ist daran interessiert, dass seine Mitarbeitenden mit seinen Gepflogenheiten sozialisiert werden. Weil «Soft Skills» und Berufserfahrung aufgrund der digitalen Transformation immer wichtiger werden, kommt der Berufsbildung möglicherweise gar eine noch wichtigere Bedeutung in der Zukunft zu.

Für die vielen Vorteile unseres durchlässigen Systems bewundern uns ausländische Staaten. Mit Fug und Recht können wir deshalb jungen Menschen raten, dass sie ihrer Motivation bei der Wahl eines nächsten Karriereschritts höchste Priorität ein­räumen. Wo immer jemand im Bildungssystem Schweiz auch einsteigt: Es stehen einem alle Möglichkeiten zum Auf- oder Umsteigen offen.

  1. Thomas Bolli, Ladina Rageth und Ursula Renold: Der soziale Status der Berufs­bildung in der Schweiz: Informationsbroschüre für Fachleute aus der Berufs­bildung. In: KOF Studies Nr. 110, Mai 2018.

  2. Uschi Backes-Gellner und Simone Tuor: Gleichwertig, andersartig und ­durchlässig? In: Die Volkswirtschaft, 7/8 (2010), S. 43–46.

  3. Maria Esther Oswald-Egg und Ursula Renold: No Experience, No Employment: The Effect of Vocational Education and Training Work Experience on Labour Market Outcomes after Higher Education. In: Economics of Education Review, 80 (2021).

  4. http://www.stellenmarktmonitor.uzh.ch/de.html

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