Ein jüdischer «Candide» im Reich des Bösen
Gedanken zur Lektüre von Imre Kertész’ «Roman eines Schicksallosen» Als ungarischer Jude hat Kertész im Holocaust die Herrschaft des Bösen selbst erfahren. Da diese Erfahrung den Verlust des Authentischen, der Identität und sogar des Todes in sich birgt, ist sein Schreiben der Versuch, das Böse durch die Banalität zu rekonstruieren, um so die Existenz des Bösen durch seine Nicht-Existenz sichtbar zu machen.
«Wir sehen jetzt nur wie mittels eines Spiegels in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht»: – in dieser Formel hat Paulus die ungeheure Herausforderung des menschlichen Daseins begriffen: die Erfahrung des absolut Guten und seine Unmöglichkeit. Sein gequälter Geist musste auch das absolut Böse in einer ähnlichen Verblendung erfahren: «Und das ist kein Wunder; denn der Satan selbst verkleidet sich in einen Engel des Lichts.»1 Diese doppelt-eine Vision entsteht nach einem einzigen Gesetz: nach diesem Gesetz hat und wird nie eine Erscheinung der Idee des absolut Guten, noch der Idee des absolut Bösen, noch der Idee der absoluten Existenz oder der Idee der absoluten Nicht-Existenz entsprechen. Man versteht, weshalb Johannes vom Kreuz ein ganzes Buch zu den acht Strophen verfasst hat, in denen er seine Begegnung mit Gott beschwört. Gott ist ihm bekanntlich in dem selbstwidersprüchlichen Bild von dem «Licht» «der dunklen Nacht» erschienen. Gerade in der «Finsternis», so Johannes vom Kreuz, offenbart sich Gott jenen, die einmal später «eine helle Vision» haben werden, und noch schärfer formuliert: «sie befinden sich in einer tiefen Finsternis und wissen nicht, wie sie den Sinn ihrer Einbildung und ihrer Rede richten sollen.»2 Seine Formel hat den Wert einer Definition: die «Rede» setzt in einem unüberwindbaren Oxymoron, in einer selbstwidersprüchlichen Erscheinung ein, und sie bestätigt die Irrungen der Einbildung. In seiner Bestrebung, das höchste Seiende zu begreifen, verwendet Johannes vom Kreuz jeweils komplementäre Versionen der äussersten Einheit von Sprache und Dingen einerseits und des äussersten Zerfalls dieser Einheit andererseits.
«Die Welt ist die Signatur des Wortes»3, hat Heine geschrieben, obwohl er als Dichter am wenigsten danach suchte, durch seine Worte verblendende Visionen hervorzurufen. Und Gott? Und Satan? Ja, sie erst recht. Gott und der Satan des Christentums können nichts anderes sein als die Signatur der Wörter, sie sind nach dem Gesetz a contrario erschaffen, und sie sind in den unbestimmbaren (oder eben unabgrenzbaren) Bereich zwischen den unmöglichen begrifflichen Formeln und den unmöglichen Visionen gesetzt. Als Dante sich Gott nähert, erblickt er ihn in einer rein geometrischen und nichtsdestoweniger rein phantasmagorischen Konstellation: «Ich drang zum tiefen klaren Licht als Ganzes, / und sah gleichgross drei Kreise hellgezogen. / Doch anders war die Farbe jedes Kranzes. / Wie Iris Iris, spiegelte ein Bogen / Den andern. Und der dritte, überschwänglich / An Glut, schien aus den zweien gleichstark zu wogen.»4 Und Satan hat sich vor Johannes in apokalyptisch unterschiedlichen Gestalten enthüllt, mal in einer ungeheuren Vervielfältigung seiner Erscheinung: «Und ich sah aus dem Meer ein Tier heraufkommen, das zehn Hörner und sieben Köpfe hatte und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Köpfen gotteslästerliche Namen», mal in einer mise en abyme derselben Erscheinung: «Und ich sah ein andres Tier aus der Erde heraufkommen (…) und [es] bewirkt, dass die Erde und ihre Bewohner das erste Tier anbeten.»5
Entdeckung des Bösen
Kertész hat sich in seinem Buch «Roman eines Schicksallosen» die Aufgabe gegeben, das Schicksal und die Schicksallosigkeit eines naiven Jungen zu beschreiben, dem die Entdeckung des Bösen in der modernen Welt widerfahren ist. Mit diesem Auftrag nimmt er die Tradition von der Gestaltung des Bösen wahr, er setzt sie aber auf eine sehr einseitige und entstellte Art fort – nicht von ungefähr hat er auch eigens betont, dass das moderne Judentum nichts Gemeinsames mit dem des Alten Testaments hat. In der Tat fällt es auf, dass er in seinem Roman nur ein einziges Mal auf die Bibel hinweist und dort auch nur, um das Vorbild bitter abzuweisen: einem allzu lauten Mitleidenden, der ihn über «die Hölle der Lager» befragt, antwortet der Junge, der überlebt hat und nicht will, dass seine Erfahrung in irgendwelche mythischen oder sprachlichen Traditionen eingereiht wird: «jeder könne sich [die Hölle] vorstellen, wie er wolle, ich meinerseits könne mir jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht.»6 Ebenso liest Kertész auch jüngere Werke auf seine eigene Art. In seinem Tagebuch erklärt er, er sei unempfindsam gegenüber der «Entrückung» der Spiritualität des Johannnes vom Kreuz ebenso wie der des Marquis de Sade; einige Seiten später hingegen führt er als unerschütterliche Wahrheit Spinozas Sentenz an: «Die Erkenntnis des Schlechten ist eine nichtentsprechende Erkenntnis.»7
An anderen Stellen seiner Meditationen bestimmt er genau den geschichtlichen Punkt, wo er sich in seinem Denken von jeder Tradition abgesetzt hat, die noch ein Prinzip des Guten zulässt (gleich ob ein göttliches oder ein anderes, und sei es ein Prinzip des fehlenden Guten), um dann (unter Hinweis auf Kafka) seinen eigenen Auftrag zu bestimmen, der nicht anderes ist als «die Vollbringung des Negativen.»8 Das tradierte Denken über das menschliche Schicksal habe in der Folge der Aufklärung im Ideal der Bildung des deutschen Klassizismus beziehungsweise in Hegels Philosophie seine letzte Vervollkommnung erreicht. «Man lacht über Hegel, wenngleich selbstverständlich mit Tränen im Auge.»9 Seine sardonische Bemerkung soll besagen, dass die Grössen dieses vergangenen Zeitalters noch gemeint haben, dass sie in der Natur wie in der Geschichte die Sprache der göttlichen Vernunft entdecken und auslegen werden. Aus der Perspektive von Auschwitz, wo man Hunderttausende zusammengedrängt hat, damit man sie dann alle in einem Tod der anonymen Massen verschwinden lässt, wurde aber diese Auslegung über den physischen und metaphysischen Gang der Vernunft endgültig obsolet.
Verlust des Guten
In seinem Roman kehrt Kertész diese ehemalige Auffassung von der Welt und mithin ihre ganze Tradition bis zu den Wurzeln erbarmungslos um, da diesen noch von der Hypothese ausging, wonach das Leiden, der Tod oder das Böse ein Fehlen oder auch nur eine Beschädigung des Guten sei. In dem dafür exemplarischen Buch der Bibel hört Hiob nicht auf, während seiner ganzen grausamen Erfahrung Gottes Anwesenheit zu beschwören; der Heilige Thomas hat das Gesetz aufgestellt, wonach es «kein primäres Prinzip des Bösen» gebe; nach den Beweisführungen der Theodizee soll aus dem Bösen letzten Endes immer das Gute hervorkommen. Heute aber, wo kaum einer noch daran glauben mag, dass sich in dem menschlichen Schicksal eine göttliche Vernunft verkünden lässt, und noch bitterer gesagt, heute, wo man die nackte Offenbarung des Bösen erfahren hat, weiss man, dass der thetische Gegensatz wahr ist: Der Tod soll im Mittelpunkt jeden Denkens stehen, der Tod ist der einzige wahre Gegenstand der Sprache. Viele Widersacher von Hegel, wie Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche und auf andere Weise auch Wittgenstein (Denker, auf die sich Kertész oft beruft), haben dies erklärt. Doch ich möchte hier die Formel anführen, die Martin Heidegger geprägt hat: «Das Wesensverhältnis zwischen Tod und Sprache blitzt auf, ist aber noch ungedacht.»10
In diesem Satz könnte Kertész sich selbst wiedererkennen, der ja ein Essay und dann auch einen Band «Die exilierte Sprache» betitelt hat; im übrigen weist er durch diesen Titel auf Camus hin, den Autor von «Das Exil und das Reich». In Camus erkennt Kertész einen Schriftsteller, der dargelegt, dass in einer Welt, die man als absurde Erscheinung der Vernunft wie der Unvernunft erfährt, als ein einziges authentisches Dasein das a contrario authentische Dasein des Fremden möglich bleibt. Wenn Kertész in seinen Essays seinen eigenen exilierten sprachlichen Zustand hervorhebt (wobei er als Autor streng einsprachig ist, obwohl er viel in Deutschland lebt), dann weil er in diesem Zustand ein Emblem des Schicksals und ganz genau der Schicksallosigkeit der modernen Welt und in ihr seiner eigenen Schicksallosigkeit entdeckt. In einer Meditation über die zentralen Begriffe seiner Essays (wie «Auschwitz», «Holocaust», «die grosse Erzählung der Geschichte») bestimmt er ihre Stelle in einem sprachlichen Niemandsland, «ausserhalb der Menschheit» (wie er dies in Anlehnung an Cioran hinzufügt).11 In seinem Tagebuch führt er eine lange Meditation über den Verlust des Bezugs zwischen der Wirklichkeit und den Wörtern an, besonders seitdem der Begriff der Wirklichkeit auch fragwürdig geworden ist; und in einer zugespitzten Formel wirft er den meisten Autoren vor, dass sie «Auschwitz in einer vor-Auschwitz Sprache, mit vor-Auschwitz Begriffen zu rekonstruieren versuchen» und es so «an das Bewusstsein einer Gesellschaft [anpassen], die in Indifferenz weiterfunktioniert.»12 Gegenüber dieser Sprache der ungültigen Konvention strengen sich Kertész und andere, wie Borowski, Klüger, Celan, Améry und Lévi an, eine Sprache zu erschaffen, die man am ehesten als «atonal» bezeichnen könnte – die exilierte Sprache, die Sprache des Todes.
Der Geist des «Roman eines Schicksallosen» siedelt sich in einem Niemandsland zwischen hoher Philosophie und brutaler Geschichte an, der Text entsteht aus ihrer Konfrontation wie aus ihrer sonderbaren Einheit – und so soll sein Geist in der Sprache, in den einzelnen Worten erscheinen. Bekanntlich hat man im Mittelalter die Tradition von der Behandlung des Bösen errichtet und mithin das Nihil als Nicht-Existierendes bestimmt, als nec-entem (das später zum Wort «Néant» wurde), als no-thing (das später zum Wort «nothing» wurde). Kertész hingegen hat die brutale, ja sichtbare Herrschaft des Bösen erfahren: Er war dazu bestimmt, in dem Nichts zu verschwinden, das ihm beispielsweise in dem vollkommen banalen Ding, in dem thing eines Schornsteins erschienen ist. Der Selbstwiderspruch könnte nicht härter sein; man erkennt die moderne, gar nicht mehr feierliche und desto grausamere Version von dem unerfahrbaren und unbegreifbaren Charakter des absoluten Bösen. Die Worte sind da, um die Existenz der Dinge wie der Personen zu bezeichnen: Wie könnten sie ihre Nicht-Existenz und mithin diejenige der ganzen Welt bezeichnen, die sich in ihnen objektiviert? Die Logik der Frage führt zu einer unlösbaren Antinomie: Da das Werk aus Worten die letzte gültige Objektivierung der Welt ist, sollen die Worte ihre eigene Nicht-Existenz – und mithin diejenige des Werks – aus Worten selbst bezeichnen. Kertész führt mit gänzlichem Einverständnis die Stelle an, wo Celan die Notwendigkeit einer neuen Sprache erklärt: «eine Sprache nicht für dich und nicht für mich (…) eine Sprache, je nun, ohne Ich und ohne Du, lauter Er, lauter Es, verstehst du, lauter Sie, und nichts als das».13 Man weiss, wie konsequent Celan dieser Notwendigkeit gefolgt ist, er hat in seinem Werk die Sprache auf ihre Wurzeln reduziert, die syntaktischen, teils auch die semantischen Bezüge so weitgehend aufgehoben und zerbrochen, dass sie die Wörter mehr voneinander entfernen als sie miteinander zu verbinden. Am Ende stehen einsame Wörter, manchmal nur einsame Buchstaben an der äussersten Grenze der Nicht-Existenz. Ein einziges Beispiel: «du wärst dich erplündernd, / gebieterisch-gleich / ihr Entzwei».14
Verlust des Authentischen
Kertész ging von der Erkenntnis derselben Notwendigkeit aus, hat aber eine konträre schöpferische Strategie erarbeitet: Weil sich gegenüber der Erfahrung des Bösen kein Wort, kein Zeichen und keine Konstruktion als authentisch zu erweisen vermag, und was noch schlimmer ist, weil sich seine neuere Erfahrung nicht mehr in die mehrtausendjährige Tradition der mythisch-transzendenten Darstellungen einreihen lässt, sollen die banalsten Wörter, Zeichen und Geschehnisse, die banalste Konstruktion die Welt rekonstruieren und bezeichnen, wo sich die negative Existenz des Bösen verkörpert hat. Er kehrt die ewig angeführte Sentenz von Adorno über die Unmöglichkeit der Lyrik nach Auschwitz um und erklärt: «Nur mit Hilfe der ästhetischen Einbildungskraft können wir ein wirkliches Bild des Holocausts, von seiner unbegreiflichen und unüberschaubaren Wirklichkeit erhalten.» Und er fasst es in einem Paradox, also in einer Aussage zusammen, die der Vernunft widerspricht: «Weil es geschah, ist es allzu schwierig, es sich vorzustellen.»15 Das Böse kann nur durch einen ästhetischen Effekt begriffen werden, der die Verneinung und noch schlimmer, die Pervertierung jedes ästhetischen Effekts ist: im Sinne dieses Paradoxons defiguriert Kertész nicht die Sprache, sondern er benützt sie, um einen sonderbaren und äussersten a contrario-Effekt zu erreichen. Die neue Sprache soll durch ihre eigene Selbstverleugnung zustande kommen, alle banalen Erscheinungen im Text und die banale Erscheinung des ganzen Textes stehen da, um ihre eigene Existenz, letzten Endes die Existenz an sich, zu verleugnen. In einer parabelartigen Meditation über die Teleologie des irdischen Daseins stellt Kertész die Frage an sein Schriftsteller-Alter-ego, ob es davon nicht gestört werde, dass es durch die Schriften eines Überlebenden vielleicht die Idee einer göttlichen Vorsehung erwecken könnte, die sein Leben rettete, damit es das neue Auschwitz-Gesicht der Welt erkenne und erkennen lasse. Durch diese Annahme würde aber, so noch immer Kertész, seine Existenz dennoch einen Sinn erhalten. Der letzte Satz der Parabel lautet: «Und seitdem schweigt er.»16 Stellen wir neben diese Parabel das vielsagende Indiz der nahezu provokativen Vielzahl der Anführungszeichen in seinem Roman: in Anführungszeichen stehen die Wörter, die Geschehnisse, die Figuren, die ganze Konstruktion. Und im Hintergrund des ganzen Textes ist die Stille wahrzunehmen, also die einzige Antwort oder eher die Un-Antwort, die keine Teleologie zulässt.
Das erste dieser Wörter in Anführungszeichen ist der Titel selbst, das abstrakte Substantiv mit dem Morphem der Privation: «Schicksallosigkeit». Kertész verweist auf das Rilkesche Ideal des menschlichen Schicksals, das in der ästhetischen Apotheose des authentischen Todes seine Vervollkommnung finden soll – während er in seinem Roman die Geschichte dessen erzählt, der unzählige Male der Erscheinung des inauthentischen Todes zugesehen hat; der selbst als vorgesehenes Opfer dieses Tod figurierte; der dazu bestimmt war, seines Schicksals beraubt zu werden, kein Schicksal zu haben. Nach diesem Titel kann kein Wort mehr seinen ursprünglichen Wert bewahren. Die alltäglichen Wendungen des Lebens vor der Deportation (so beispielsweise gleich der erste Satz: «Heute war ich nicht in der Schule»)17 erweisen sich alle als falsch aus der Perspektive dessen, was später geschah (beinahe zu sagen: was später ihnen, diesen Wörtern geschah); in den Kapiteln über das Lager müsste man jedes einzelne Wort (wie «Bad», «Arbeit», «Glück») alle in Anführungszeichen setzen, weil sie Instrumente des Todes sind, weil die Nicht-Existenz ihre Semantik bestimmt; und in dem dritten Teil herrscht «natürlich» (um gleich hier die enorme, aber enorm pervertierte Bedeutung dieses Wortes anzudeuten) ein totales Unverständnis zwischen denen, die diese sprachliche Erfahrung gekannt oder nicht gekannt haben.
Verlust des Todes
Man soll verstehen, dass eine sprachliche Erfahrung nie breitere und nie schmerzlichere Dimensionen haben könne. Nicht von ungefähr hat sich Kertész in die sogenannte Sprachkritik vertieft, er beruft sich wiederholt auf Hofmannsthal, Wittgenstein, Schlick und andere. Kertész erstreckt ihre Geltung auf die Geschehnisse, die Figuren, die Gattung, ja auch auf die historische und metaphysische Aussage seines Romans: alle stehen in (sichtbaren oder unsichtbaren, aber immer wahrnehmbaren) Anführungszeichen, sie verleugnen ihre primäre Bedeutung und lassen ihren einzigen Gegenstand: das Böse, erscheinen. In seinen Selbstkommentaren weist Kertész mehrmals und heftig eine (auto-)biographische Lektüre seines Romans zurück, an einer Stelle behauptet er sogar, dass es – anders als in Balzacs Werken – im zukünftigen Roman keine Charaktere mehr geben werde, und ein paar Seiten später schreibt er Flauberts berühmtes Substantiv «impersonnalité» in Bezug auf seine eigene Schrift.18 Damit verleugnet er aber nicht nur die Rolle seiner eigenen Person, sondern einer Person überhaupt. Eine Person, ein Individuum kann es nur aufgrund der Annahme eines metaphysischen (und sei es auch tragischen) Sinns des Schicksals geben, während das äusserste Böse das «sinnlose Leiden» ist (Kertész bildet seinen Ausdruck nach Gides action gratuite), ein Massaker, das nicht einmal etwas Dämonisches an sich hat, das Fehlen des Absoluten.19 Kertész geht sogar so weit zu behaupten, dass die «grosse Kunst» immer auch einen «inhumanen, puppenartigen» Aspekt aufweise, der dem Werk einen «vollkommen objektiven» Schein verleihe, wie es beispielsweise bei der Achten Symphonie von Beethoven der Fall sei.20
Dieses letzte Beispiel ist an sich sehr fragwürdig, jedoch um so einleuchtender mit Blick auf sein Werk. Kertész weist noch einmal auf das Zeitalter zurück, das er als die letzte Vervollkommnung des menschlichen Daseins betrachtet, aber diesmal um selbst dort die ersten Zeichen des entgegengesetzten Prinzips zu entdecken. Am Ausgangspunkt seines ganzen Werks und besonders des «Roman eines Schicksallosen» steht der Gestus, in dem Kertész zur gedanklichen Tradition der Aufklärung und der Bildung zurückgekehrt ist, die sich aufgrund einer symphonischen Gewissheit über die göttlich-natürliche Anwesenheit im menschlichen Schicksal entwickeln konnte; durch seinen Gestus zielt er aber darauf ab, gerade den Gegensatz dieser These in Erscheinung zu bringen. Er hat eine verbreitete Gattung dieser Periode wieder aufgenommen: die Reisebeschreibung, in der der Autor, der zugleich der Held ist, sich anschickt, einen unbekannten (gleich ob realen oder fiktiven) Bereich der Natur zu entdecken, wobei dieser Bereich ebenso ein Ort des Planeten sein kann wie ein Aspekt des Menschen, sollte sich doch in beiden ein und dieselbe göttliche Vernunft erkennen lassen.
Die wenigen Werke, die bereits im damaligen, so leuchtend beispielhaften Zeitalter diese vertrauensvolle These verhöhnt haben, wie «Candide» oder «Gullivers Reisen», mögen Kertész in seiner schöpferischen Idee nur noch bestärkt haben. In seinem Roman vollbringt er die totale und radikale Umkehrung dieser Gattung, angefangen von den Phänomenen der Natur bis zu den metaphysischen Phänomenen. Für jene könnte der Text nicht expliziter sein. Es wird in ihm das Wort «Natur» und seine Derivate, wie «natürlich» unzählige Male wiederholt. Je mehr sie wiederkehren, umso mehr bedeuten diese beiden banalen Worte a contrario das totale Fehlen dessen, was ihre ursprüngliche Bedeutung ist. In einer Passage, wo der Autor und Held seinen verzweifelten Kampf gegen die Läuse und Flöhe beschreibt, die in seinen Wunden wimmeln, spricht er auch vom «Gesetz der Natur». Das zum Äussersten verhöhnte philosophische Syntagma sagt alles über den Wert des Schlüsselbegriffes in einer Welt, wo kein Ort und kein Geschehnis «natürlich» ist. Die Welt ist die widernatürliche Signatur des Worts. Auch der Tod ist nicht natürlich, da all diese Widernatur dazu errichtet wurde, um die Personen in einem gewaltsamen, pluralen, mechanischen und anonymen Tod verschwinden zu lassen. Der Tod der Person hat keinen Namen, ist nicht mehr als das Fingerzeichen, womit der Offiziersarzt, der auch keinen Namen hat, seine rasche Entscheidung kundtut. So verliert der Tod, der absolute metaphysische Akt des menschlichen Daseins, seinen ganzen metaphysischen Wert, die Person wird ihres metaphysischen Todes ebenso beraubt wie ihres natürlichen.
Nach dem Vorbild und durch die Umkehrung der Werke, die im Ideal der Aufklärung und der Bildung entstanden sind, erzählt Kertész die Geschichte eines naiven Jungen, der die bekannte und bereits unwahre Welt verlässt und an einen Ort kommt, der den Namen Auschwitz trägt, der aber eher ein Niemandsland ist. Um noch einmal den Essayisten zu zitieren: «die rauchende Gehenna, in die letzten Endes Völker, Nationen, ein ganzes Zeitalter hineingestürzt sind».21 In diesem Niemandsland entdeckt er das Universum, wo alle ihres Lebens wie ihres Todes beraubt werden, in der natürlichen wie auch in der metaphysischen Bedeutung dieser Worte. Es ist die Geschichte des Fehlens, der Schicksallosigkeit. Die Entdeckungsreise endet mit der Erkenntnis – nein, mit der apokalyptischen Enthüllung der ewigwährenden Beraubung der Person.
Verlust des Sinns
Kertész führt seine Entdeckungserzählung bis zu ihrem radikalsten Sinn – was hier so viel heisst, wie dass auch sie letzten Endes jeglichen Sinnes beraubt wird: Es bleibt nur das unsagbare, weil banale Böse. Er lehnt sich an die Gattung an, die aus dem Prinzip entstanden ist, wonach es in der Schöpfung oder (mit seinen Worten) in der «grossen Erzählung der Geschichte einen Sinn zu entdecken gilt»; und indem er dieses Prinzip in sein Gegenteil umkehrt, kehrt er das Prinzip der Weltschöpfung schlechthin um. Man könnte meinen, dass derjenige, der als die Figur des Autors und des Helden in seinem Roman vorkommt, das Prinzip des Bösen überleben würde, das er entdeckt hat. Aber nein, er entkommt ihm nicht mehr, vielmehr bestätigt er es durch alle seinen späteren Handlungen und Worte. Als er in die Stadt zurückkehrt, wo seine Reise anfing, und er mit den Einwohnern einige Worte wechselt, kann er nur eine einzige Antwort herausbringen, die er für allgemein verständlich hält und die er nicht einmal in Anführungszeichen setzt – eine rein negative Aussage: «aus Hass» und auf eine weitere Frage: «gegen alle». Dann, als er seine Geschichte nur für sich selbst zusammenfasst, kommt er auf eine Formel, die keinen anderen Sinn hat, als das Fehlen jeden mitteilbaren Sinnes zu bezeichnen: «Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.» Und er fügt zwei Sätze noch hinzu, die auch diesen vorigen Satz ins Hypothetische rücken: «Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.»22 Das Böse ist universell und endgültig, niemand wird mehr ein Schicksal haben, weder er noch die anderen, sie sind alle gleich – in der Nicht-Existenz.
Die parabolische Erzählung endet in Sätzen, die sie jedweden parabolischen Sinnes berauben und – more ironico – «natürlich», da Logik und Leidenschaft doch eine Vernunft annehmen lassen könnten (gleich ob des Herzen oder des Gehirns), während sich der Autor dieses Romans dazu anschickte, die Verleugnung des Sinnes in der Geschichte zu entdecken. Einige könnten in dieser Art von Schreiben den Schatten Kafkas erkennen, und zu Recht: Kafka hat die Erzählung erschaffen, die gänzlich auf dem Prinzip der Ironie begründet ist, in seiner Erzählung hat jedes Moment eine zugleich bauende und zertrümmernde Funktion, bestätigt und zersetzt jeder Satz die des anderen. Kertész hat mehrere Male seine Verpflichtung Kafka gegenüber unterstrichen, in einem Essay hat er ihn «den grössten Kenner der Seele unseres Zeitalters»23 genannt. Auch den Helden seines letzten Romans «Liquidation» hat er nach Kafkas Figur gebildet. Dieser Held, der schon am Anfang des Romans tot ist, hat Kafkas legendären Testamentswunsch wiederholt und verfügt, dass alle seine Schriften verbrannt werden sollten. Man weiss, dass Max Brod Kafkas Wunsch nicht gefolgt ist, sondern das Werk publik gemacht hat, einschliesslich der Fragmente, der Tagebücher und der Korrespondenz. Kertész’ Held hingegen setzt seinen Willen durch, weil er allzu überzeugend zu behaupten vermochte, dass er an kein Werk mehr glaubt und am wenigsten an sein eigenes. Die Signatur seiner Worte ist ihre eigene Liquidation, sie müssen im Nihil verschwinden.
Wir gelangen an eine Aporie, das heisst an eine vernünftige Aussage, die dennoch keine vernünftige Fortsetzung oder Lösung erlaubt: Die Seele unserer Welt ist ihre Selbst-Liquidation.
1 1. Kor. 13,12; 2. Kor. 11,14. 2 Zit. nach der französischen Ausgabe St Jean de la Croix, Nuit Obscure, trad. par Grégoire de Saint Joseph, Paris, Seuil, 1984, 192, 58. 3 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Werke in fünf Bänden, Berlin und Weimar, Aufbau, 1974, 5, 98. 4Dante, Die Göttliche Komödie, Paradies, XXXIII, 115-120, übersetzt von E. Laaths, München, Vollmar, o.J., 460. 5 Off. 13,1; 13,11-15. 6 Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen, übers. von Christina Viragh, Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2003, 271-2. Die anderen Texte von Kertész zitiere ich in meiner eigenen Übersetzung. 7 Kertész Imre, Gályanapló (Galeerentagebuch), Budapest, Magvetö, 1992, 290, 298; vgl.: Spinoza, Die Ethik, Vierter Teil, 64. Lehrsatz. 8 Kertész Imre, A számüzött nyelv (Die exilierte Sprache), Budapest, Magvetö, 2001, 29. 9Ebda. 47. 10 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart, Neske, 2001, 215. 11Kertész, Nyelv, 6. 12 Ebda. 282, 280. 13 Ebda. 280. Bei Paul Celan: «Gespräch im Gebirg», in: Gesammelte Werke, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1986, 3, 170. 14Celan, «Die Abgründe streunen», ebda. 2, 378. 15 Kertész, Nyelv, 61-62. 16Kertész Imre, Valaki más (Ein anderer), Budapest, Magvetö, 1997, 61. 17Kertész, Roman, 7. 18 Kertész, Napló, 209. 19 Ebda. 20, 139. 20 Ebda. 190. 21Kertész, Nyelv, 17. 22 Kertész, Roman, 287. 23 Kertész, Nyelv, 29.