Ein Hoch auf den Retter
der Freiheit!
Das Denkmal von Winston Churchill in London wurde kürzlich verschmiert. Doch wenn einer ein Denkmal verdient hat, dann er: Als Europa 1940 in Trümmern lag, entwickelte sich der britische Premierminister zu einem Giganten der Zeitgeschichte.
Historische Figuren und deren Denkmäler werden regelmässig neu beurteilt. «Rassist» schmierte ein Demonstrant Anfang Juni auf Winston Churchills Denkmal am Londoner Parliament Square. Immerhin versuchte der aufgebrachte Mob nicht, den Kriegspremier vom Sockel zu stürzen, wie es kürzlich anderen historischen Figuren in den USA, Grossbritannien und Belgien ergangen ist. Winston Churchill galt lange vor dem grässlichen Tod des schwarzen Amerikaners George Floyd und den darauffolgenden Protesten als eine kontroverse Figur. Die Brandmarkung als Rassist hat jedoch mit kritischer Geschichtsbetrachtung wenig, mit gesundem Menschenverstand nichts, mit Lust an Randale jedoch viel zu tun. «Never waste a good protest», könnte man mit Churchill’schem Sarkasmus anmerken, in Abänderung seines Diktums: «Lass nie eine gute Krise ungenutzt.»
Gnadenlos ehrlich
Gibt es in Churchills Leben und Werk Hinweise auf eine rassistische Gesinnung? – Oberflächlich und nach heutigen Massstäben: Ja. Den indischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi bezeichnete er in bezug auf sein Äusseres einmal als «nackten Fakir», was schon vor dem 2. Weltkrieg nicht die feine Art war. Genauso findet man in Churchills Leben aber auch gegenteilige Beweise. Als Kriegsgefangener der Buren in Südafrika sprach er sich gegenüber einem Wächter für politische Rechte der Schwarzen und Inder aus. Ganz generell nahm Churchill nie ein Blatt vor den Mund. Den ersten Labour-Premier, Ramsay MacDonald, bezeichnete er als «rückgratloses Wunder» und seinen Kriegskabinettskollegen und Nachfolger Clement Attlee als «Schaf im Schafspelz», als «bescheidenen Mann, mit allem Grund zur Bescheidenheit». Churchill nannte die Dinge gnadenlos beim Namen, selbst wenn das zu seinem Nachteil gereichte. Er verbrachte seine ersten 40 Jahre in einem Weltreich, in dem die Sonne nie unterging, und war aufgrund seiner Herkunft, seines Werdegangs und seines politischen Denkens ein hartgesottener Imperialist. Doch Churchill war viel mehr als das. Würden Sie als Chef eines Tabakkonzerns eine Franklin-Roosevelt- oder eine Charles-de-Gaulle-Zigarette kreieren? Eine absurde Idee. Eine Winston-Churchill-Zigarren-Linie gibt es jedoch bei Davidoff, darunter sogar eine Churchill-Corona! Das V-for-Victory-Zeichen, das Churchill als Premierminister während dem Zweiten Weltkrieg gerne der Öffentlichkeit präsentierte, wird auch heute – mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod – weltweit imitiert. Vom Top-Banker bis zu den Mordbuben des sogenannten Islamischen Staats recken echte und vermeintliche Sieger die beiden Finger in die Luft. Churchill ist bis heute eine Marke und ein Mythos.
Der Warlord im guten Sinne
Wer den Churchill-Mythos verstehen will, muss ins Jahr 1940 zurückblicken. Das Schicksal Grossbritanniens, Europas und wohlverstanden auch der Schweiz hing damals an einem dünnen Faden. Polen, Norwegen, Dänemark, Belgien, Holland, Luxemburg und auch Frankreich, die einstige «grande nation», lagen am Boden und wurden durch die deutsche Wehrmacht in bloss zehn Monaten erobert. Zeitgleich mit dem Beginn des Westfeldzugs der Deutschen Wehrmacht am 10. Mai 1940 wurde der bisherige Marineminister Winston Churchill zum Premierminister an die Spitze einer Koalitionsregierung gewählt. In der Schlacht von Dünkirchen sah Hitler wie durch ein Wunder von der Vernichtung von über 300 000 britischen Streitkräften ab, durch ein britisches Husarenstück konnte die englische Expeditionsstreitmacht gerettet werden. Deutsche Angebote im Sinne von «Ihr behaltet das Empire und uns gehört Kontinentaleuropa» wurden über diplomatische Kanäle ventiliert. Das Vereinigte Königreich stand allein auf weiter Flur da. Die USA waren nicht willens, Europa wie schon nach dem Ersten Weltkrieg noch einmal zu retten. Viele konservative Mitbewerber von Churchill wären angesichts dieser desaströsen Lage den Nazis gegenüber gesprächsbereit gewesen, hätten sie das Sagen gehabt. Doch Churchill dachte nicht einen Moment ans Kleinbeigeben. Fünf Faktoren machten ihn zum Mann der Stunde:
1. Charakter: Churchill hatte seit Kindsbeinen einen unbeugsamen Willen, gestählt durch die Schläge seiner Lehrer, den vergeblichen Kampf um die Liebe seiner Eltern und die harte Kavallerie-Offiziersschule in Sandhurst, vor allem aber durch viel feindliches Mündungsfeuer in zahlreichen Kriegen auf vier Kontinenten.
2. Erfahrung: Im Alter von 65 Jahren hatte er 40 Jahre als Parlamentarier hinter sich, 25 Jahre lang diente er in 8 unterschiedlichen Ministerien. Er war Autor von Dutzenden von Büchern, Tausenden von Zeitungsartikeln und Hunderten von Reden.
3. Glaubwürdigkeit: Churchill machte in seinem Leben viele Fehleinschätzungen. Bezüglich Hitler hatte er aber von Anfang an den richtigen Instinkt. Er sah den Gefreiten aus Österreich und seine Nazibewegung als tödliche Gefahr für Europa und warnte von 1933 bis 1939 vergeblich vor der braunen Pest.
4. Sieger-Gen: Churchills Urahn John, First Duke of Marlborough, war nicht nur ein brillanter Feldherr, sondern auch ein begnadeter Diplomat. Er besiegte den französischen Potentaten Louis XIV und rettete damals Europa vor französischem Diktat. Über diesen familiären «Übervater» schrieb Churchill von 1933 bis 1938 eine riesige Biografie in vier Bänden. Hier entwickelte sich Churchills tiefes Verständnis für Geschichte und Politik, aber auch sein Sendungsbewusstsein, Europa, wie Marlborough, ein zweites Mal retten zu wollen. Winston Churchill war ein Warlord im guten Sinne.
5. Kommunikationsstärke: Churchills Reden aus dem Jahr 1940, von «Blood, Toil, Tears and Sweat» über «We will fight on the beaches» und «Their finest hour» bis zum «never was so much owed by so many to so few», sind bis heute unvergessen. Churchill führte aber nicht nur die englische Sprache in die Schlacht. Er war auch nonverbal «the great communicator»: Es wäre ihm nicht im Traum in den Sinn gekommen, London während dem Battle of Britain auch nur für einen Tag zu verlassen. Tapfer riskierte er auch sein eigenes Leben. Seine Tränen, als er durch zerbombte Strassen schritt und ihm die Leute «Zahl’s ihnen heim, Winnie!» zuriefen, machten ihn unsterblich.
Im Moment der höchsten Gefahr für Grossbritannien entwickelte Winston Churchill ungeahnte Kräfte und Qualitäten und wurde zum Giganten der Zeitgeschichte. Als sein eigener Geschichtsschreiber zelebrierte er seine «finest hour» mit den Worten: «I thought I was walking with destiny» (Ich dachte, ich schreite mit dem Schicksal im Gleichschritt). Winston Churchill hat das Kriegsziel, Nazideutschland und seine Partner in Rom und Tokio zu besiegen, dank der alles entscheidenden amerikanischen Hilfe erreicht. Winston Churchills unermüdlicher Einsatz für die Freiheit – auch unsere in der Schweiz – rettete 1940 Europa. Seine Denkmäler in Grossbritannien und anderswo sind mehr als nur verdient.