Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Ein Hoch auf das Mittelmass

Ist Europas Geschichte eine Melodie, ist die Schweiz ihr Kontrapunkt: eigenständig, gegenläufig und gelegentlich dissonant. Viele frühere Sonderwege sind verschwunden, eine Qualität ist geblieben: die verkannte Mittelmässigkeit.

Der Kontrapunkt ist eine Gegenstimme zu einer Melodie. Er erzeugt musikalische Spannung, indem er einerseits mit der Melodie harmonisch zusammenklingt, andrerseits aber auch – eigenständig und gegenläufig – die Melodie gleichsam kommentiert. Wenn die Melodie fortschreitet und der Kontrapunkt «liegenbleibt», können Dissonanzen entstehen. Sie werden aufgelöst, wenn entweder der Kontrapunkt zur Melodie «aufschliesst» oder die Melodie zum Kontrapunkt «zurückkehrt».

Wäre dies eine brauchbare Metapher für das Verhältnis der Schweiz zu Europa? Europa die Melodie und die Schweiz der Kontrapunkt, eigenständig, gegenläufig und gelegentlich dissonant? Hilft dieser Vergleich, unsere Situation besser zu verstehen? Das europäische Orchester gleicht allerdings eher einer «Guggemusig» denn einem Kammerensemble, und da hat es der Kontrapunkt schwer.

Vierhundert Jahre zurück

1630. In Europa tobte der Dreissigjährige Krieg um Religion und Hegemonie. Etwa vierzig Prozent der Reichsbevölkerung fielen ihm zum Opfer, weite Landstriche wurden verwüstet. Da machte ein Deutscher eine Reise und erzählte danach von seinen Erlebnissen:

«Das Land kam mir so fremd vor gegen andere teutsche Länder, als wenn ich in Brasilia oder in China gewesen wäre; da sah ich die Leute in Frieden handeln und wandeln, die Ställe stunden voll Vieh, die Bauernhöfe liefen voll von Hühnern, Gäns und Enten, die Strassen wurden sicher von den Reisenden gebraucht, die Wirtshäuser sassen voll Leute, die sich lustig machten. Da war ganz keine Furcht vor dem Feind, keine Sorge vor der Plünderung und keine Angst, sein Gut, Leib und Leben zu verlieren; ein jeder lebte sicher unter seinem Weinstock und Feigenbaum, und zwar, gegen andere teutsche Länder zu rechnen, in lauter Wollust und Freude, also dass ich dieses Land für ein irdisch Paradies hielt, wiewohl es von Art rauh genug zu sein schien.»

Dieses irdische Paradies ist die Eidgenossenschaft, und der Erzähler ist Grimmelshausens Simplicissimus. Selbst wenn er um des Kontrastes willen übertrieben hat, falsch war seine Schilderung nicht. Die Schweiz blieb von diesem Krieg verschont und machte mit dem Export von Nahrungsmitteln gute Geschäfte. Offensichtlich ein Kontrapunkt.

Dieser Sonderweg der Eidgenossenschaft war auch ein Grund dafür, dass sie sich anlässlich des Westfälischen Friedens 1648 fast gänzlich vom Reich löste. Weitgehend unabhängige und reichsfreie Gebiete und Städte gab es damals in grösserer Zahl. Wer jedoch nicht in der Lage war, ein zusammenhängendes Territorium zu bilden und zu verteidigen, hat nicht lange überlebt. Überlebt, sich vom Reich getrennt und einen neuen, republikanischen Staat gebildet haben einzig die Niederlande und die Eidgenossenschaft. Im 18. Jahrhundert litten beide an veralteten politischen Struk­turen, die es ihnen verunmöglichten, einen starken Zentralstaat aufzubauen. Dies machte es Napoleon leicht, sie zu besetzen. Er schuf die Batavische und die Helvetische Republik, Einheitsstaaten mit kurzer Lebensdauer. Während die Niederlande 1806 unter Napoleons Bruder ein Königreich wurden und unter dem Haus Oranien-Nassau bis heute geblieben sind, setzte die Eidgenossenschaft ihren Weg als selbständige Republik fort, kontrapunktisch.

Die simplizistisch idyllische Vorstellung vom Land der Eidgenossen hielt jedoch nicht lange an, denn im 17. und 18. Jahrhundert hatten seine Bewohner in Europa einen eher zweifelhaften Ruf als blutrünstige und geldgierige Söldner. Im wilden, rauhen Bergland wohnten nach einer damals verbreiteten Vorstellung Bauern, die von der Zivilisation wenig beeinflusst waren. Das war zwar höchstens die halbe Wahrheit, doch zur verfeinerten Lebensweise fürstlicher Höfe in den absolutistischen Monarchien mag die Schweiz tatsächlich einen Gegensatz gebildet haben. Im Laufe des 18. Jahrhunderts veränderte sich dann allerdings auch diese Vorstellung. Die Aufklärung und die rasch fortschreitende Modernisierung erzeugten vielerorts eine Sehnsucht nach ländlichem, einfachem Leben. Diese befriedigten, jedenfalls in der Phantasie, die Schweizer Älpler – frisch, fromm, fröhlich und frei. 1729 erschien das Gedicht «Die Alpen» von Albrecht von Haller, 1880 Johanna Spyris «Heidi». Romantische und aufklärerische Projektionen vermischten sich. 1804 inszenierte Friedrich Schiller mit seinem «Wilhelm Tell» die Älpler als Freiheitskämpfer. Kurz darauf entdeckten die sportlichen Engländer die Alpen, und es begann der Aufstieg der Schweiz als Tourismusland.

Kontrapunkte im 19. und 20. Jahrhundert

Die Schweiz blieb ein Stachel im Fleisch des vom Wiener Kongress monarchisch rekonstruierten Europas. Das galt verstärkt, als in der Regenerationszeit die Kantone ihre patrizischen gnädigen Herren auf die Plätze verwiesen und 1848 einen modernen republikanischen und demokratischen Bundesstaat bildeten. Die Schweiz wurde zum Vorbild für ähnliche revolutionäre Bewegungen in ganz Europa und nahm Verfolgte als Flüchtlinge auf. Im Neuenburger Handel legte sie sich sogar mit Preussen an – Neuenburg blieb Republik und Kanton der Schweiz. Etwas später kamen verfolgte Kommunisten in unser Land. Der junge Elias Canetti war tief beeindruckt, als ihn seine Mutter auf den lesenden Lenin im Café Odeon in Zürich hinwies. Im Dörfchen Zimmerwald bei Bern fand 1915 eine geheime internationale sozialistische Konferenz statt, an der ein von Trotzki verfasstes Manifest verabschiedet wurde. Kontrapunkte und Dissonanzen immer wieder.

Und dann das mörderische 20. Jahrhundert: Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich führte zu einer Zerreissprobe in der Schweiz, denn die Deutschschweizer hielten viel von Preussen, während die Welschen es eher mit Frankreich hielten. Carl Spitteler hat dann im Dezember 1914 in seiner Rede «Unser Schweizer Standpunkt» vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft an eine der wichtigsten Existenzgrundlagen der Eidgenossenschaft erinnert: nie die Partei irgendeines andern Staates zu ergreifen. Die so erneuerte Neu­tralität half dem Land in der Folge, sich aus den beiden Weltkriegen herauszuhalten. Vielen Europäern kam nun die Schweiz wiederum vor wie das Gelobte Land. Diesmal wurden Lebensmittel importiert, dafür verschiedenes Kriegsmaterial exportiert. Nicht alles, was die damals Verantwortlichen taten, genügte höchsten ethischen Standards, aber sie hatten auch die Pflicht, das Land vor Schaden zu bewahren. 

Aus dieser Sonderstellung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ergab sich ihre Zurückhaltung gegenüber internationalen Organisationen in der Zeit danach. Auch gegenüber der supranationalen Verbrüderung der einstigen Todfeinde in den Europäischen Gemeinschaften blieb sie skeptisch, und bis heute scheint ein Beitritt zur Europäischen Union undenkbar. Während andere näher zusammenrücken und Souveränität an einen gemeinsamen Verband abtreten, betont die Schweiz ihre Eigenständigkeit und scheint aus ihrem Sonderweg ideellen und materiellen Gewinn zu ziehen. Ohne Zweifel ein Kontrapunkt zur europäischen Entwicklung.

Und heute?

Nationale Identität speist sich wesentlich aus Geschichte. Reale Erfahrungen werden zu kollektiven Erinnerungen verdichtet, aus denen wir uns Orientierung für die Gegenwart erhoffen. In diesem Sinne erklärt die Vergangenheit ein Stück weit die schweizerische Präferenz für Sonderwege und Alleingänge. Aber aufgepasst, auch eine wiederholte positive Erfahrung bürgt nicht für Tauglichkeit in der Gegenwart. Erfahrungen dürfen nicht zu Tabus und Denkverboten führen, sie müssen immer wieder kritisch überprüft werden.

Die meisten Gründe für frühere Sonderwege der Schweiz sind inzwischen nicht mehr vorhanden. Wir sind umgeben von einigermassen friedliebenden, demokratischen Staaten. Wir teilen mit ihnen weitgehend die Vorstellungen von Rechtsstaat, Menschenrechten und Marktwirtschaft. Wir sind mit denselben drängenden Fragen konfrontiert wie sie: Globalisierung, Überalterung, Einwanderung. Die starke Verflechtung der schweizerischen Wirtschaft mit dem europäischen Binnenmarkt führt dazu, dass wir in grossem Masse EU-Recht übernehmen. Aldi und deutsche Ärzte sind auch bei uns allgegenwärtig. Zwischen der Schweiz und ihren Nachbarn gibt es nicht einmal mehr Personengrenzkontrollen, und in den Vorstandsetagen der Schweizer Multis wird Englisch gesprochen. Ist also die – positiv besetzte – Vorstellung eines Sonderfalls, eines Kontrapunkts zu Europa nicht überholt? Gibt sie als Maxime für unser Handeln noch etwas her?

Die Einstellung der Schweizer gegenüber der europäischen Integration ändert sich laufend: Geht es in der Union vorwärts, schauen wir interessiert nach Brüssel, kriselt es, wenden wir uns ab. Anfang der neunziger Jahre verlieh das Binnenmarktprogramm der EWG Auftrieb, da zeigten Umfragen in der Schweiz Mehrheiten für einen Beitritt. Heute liegt diese Quote bei 25 Prozent. Wandelbar sind auch die Argumente: Früher stand oft die Neu­tralität im Zentrum der Ablehnung, später war es der Brüsseler Zentralismus und heute sind wir froh, nicht zur Eurozone zu gehören. Über die Jahrzehnte unverändert geblieben ist jedoch ein Einwand: Unsere besonderen politischen Institutionen – der Föderalismus, die direkte Demokratie, die Kollegialregierung und die Konkordanz – seien mit einem Beitritt zur EU nicht verträglich. Nun haben andere Staaten ebenfalls sakrosankte staatliche Einrichtungen – etwa die Souveränität des britischen Parlaments, die herausragende Rolle des deutschen Verfassungsgerichts oder der österreichische Korporatismus. Auch sie mussten an das supranationale Europa angepasst werden. Und es gibt auch in der Schweiz Vorschläge, wie man die politischen Institutionen «europakompatibel» umgestalten könnte. Doch sie vermögen aus mehreren Gründen nicht recht zu überzeugen.

Zunächst in der Sache: Die schweizerischen Einrichtungen sind sehr ausgeprägt. Föderalismus gibt es zwar auch anderswo, doch sind bis heute die Kantone weit selbständiger geblieben als deutsche oder österreichische Bundesländer – man denke etwa an die Steuer- und die Organisationshoheit. Kompetenzverluste würden unsere Gliedstaaten also stärker treffen. Auch direktdemokratische Instrumente gibt es in andern Ländern, doch die Rechte des schweizerischen Souveräns stehen auf einer ganz andern Stufenleiter, sie gehören zu den Fundamenten des Schweizer Gemeinwesens. Verständlich, dass das Volk auf allfällige Einschränkungen ungehalten reagiert. 18 Abgeordnete im 740köpfigen Europaparlament wären dafür kein Ersatz. Die Europäische Union wird wesentlich von den Regierungen der Mitgliedstaaten gelenkt. Also bräuchte die Schweiz, um ihre Interessen wahren zu können, einen starken Bundesrat. Den wollen wir aber nicht.

Mass und Mitte

Wichtiger aber ist ein zweites Argument. Man nennt die Schweiz eine Willensnation, offenbar weil die Schweizer eine Nation sein wollen. Das wollen die Franzosen und die Finnen zweifellos auch. Gemeint ist eigentlich etwas anderes: Die meisten Nationen zeichnen sich durch eine gewisse Einheitlichkeit aus, etwa der Abstammung, der Sprache, der Kultur oder der Religion. Und dies hält sie zusammen. Nicht so die Schweiz, sie ist in jeder Hinsicht vielfältig. Was sie zusammenbindet, ist neben Geschichte und Wohlstand die von allen Bürgerinnen und Bürgern geteilte Überzeugung, die erwähnten politischen Institutionen seien genau richtig für sie. Das sehen die Leute aus Herisau, Disentis, Airolo und Payerne ähnlich. Und sie sind richtig, weil sie das Land zusammenhalten, ohne den Eigenarten der Teilvölker zu nahe zu treten. Einheit durch Gewährleistung der Vielheit – eine schon fast paradoxe Operation! Deswegen sind diese Institutionen die Essenz, ja die conditio sine qua non der Schweiz.

Doch das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Politische Institutionen sind nur dann legitim und leistungsfähig, wenn sie in einer entsprechenden Kultur wurzeln. Der ausgeprägte Föderalismus hat vielerlei Nachteile. Sie werden von den Schweizern nur deswegen in Kauf genommen, weil diese der Vielgestaltigkeit einen hohen Wert beimessen. Wer «Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse» anstrebt, braucht keinen Föderalismus. Direkte Demokratie ist aufwendig, langsam und hat gelegentlich unangenehme Nebenwirkungen. Das nimmt nur auf sich, wer überzeugt ist, man müsse die politischen Eliten an der kurzen Leine führen. Eine ständige Fast-Allparteienregierung ist träge und wenig inspirierend. Nur wer die Legitimität der breiten Vertretung und der langen Aushandlungsprozesse der Effizienz einer schneidigen Mehrheitspartei vorzieht, wird sie für richtig halten. Ein relativ klein gehaltener Staat bringt nur jenem Vorteile, der bereit ist, selbst Verantwortung zu übernehmen. Solche und ähnliche Vorstellungen und Überzeugungen gibt es auch anderswo in Europa, doch in der Schweiz werden sie in der Regel von der Mehrheit mitgetragen. Ein Kontrapunkt.

Warum ist das so? Der Grund liegt wahrscheinlich in der ausgeprägten (Klein-) Bürgerlichkeit der schweizerischen Gesellschaft. Tugenden wie Fleiss, Sparsamkeit, Ordentlichkeit, Anstand, Zurückhaltung und Selbstverantwortung sind weiter verbreitet als anderswo, und gegenseitig überwachen die Schweizer deren Einhaltung. Ober- und Unterschichten – soweit es sie überhaupt gibt – passen sich mindestens äusserlich diesen Verhaltensmodi an. Das führt dazu, dass die Schweizer nicht bereit sind, Arbeitslosigkeit zu akzeptieren; dass sie nicht gesetzeshalber sechs Wochen Ferien wollen; dass fast alle Kinder in die öffentliche Schule gehen; dass die Maturandenquote niedrig und die Lehrlingsquote hoch ist; dass der Tüchtige unabhängig von seiner Herkunft gute Aufstiegschancen hat; dass die Steuerbelastung relativ niedrig und der Staatshaushalt ungefähr ausgeglichen ist; dass es hierzulande keine Zivilgesellschaft braucht, weil es noch immer eine Bürgergesellschaft gibt.

Kleinbürger sind mittelmässig, was grössere Geister gelegentlich stört. Kleinbürger ziehen das mittlere Mass den Extremen vor. Sie halten es mit Aristoteles: «Als erstes ist zu erkennen, dass […] Eigenschaften durch Mangel oder Übermass zugrunde zu gehen pflegen […], so wie wir es bei Stärke und Gesundheit sehen. Denn übermässiges Turnen vernichtet die Gesundheit ebenso wie zu wenig Turnen. […] So gehen also Besonnenheit und Tapferkeit durch Übermass und Mangel zugrunde, werden aber durch das Mittelmass bewahrt.» Insofern garantierte das Mittelmass sowohl die politische Stabilität wie den Wohlstand breiter Schichten in diesem Land – beides sich gegenseitig bedingend. Und das wäre dann wohl ein Kontrapunkt zu vielem, was in «Resteuropa» vor sich geht.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!