Ein Gutmensch ist …
Anmerkungen zu Roland Baaders Kolumne «Vivisektion des Gutmenschentums»
An dieser Stelle schreibt gewöhnlich Roland Baader seine bissig-bitterbösen Texte darüber, wie Menschen mit kollektiven Mitteln das Gute zu erzwingen versuchen. Den Reaktionen der Leser nach zu urteilen, ist seine «Vivisektion des Gutmenschentums» die SMH-Kolumne mit dem höchsten Beachtungsgrad. Und in der Tat: «Gutmensch» ist – laut der Online-Enzyklopädie «Wikipedia» – ein beliebter «Kampfbegriff» der politischen Rhetorik. Doch wie funktioniert er? Woher stammt er?
Wer sein Gegenüber einen «Gutmenschen» nennt, unterstellt ihm einen Hang zur Naivität; gute Absichten, so der Tenor, seien keine Garantie für gute Taten. In der Extremform wird gar ein Gegensatz zwischen «guten Absichten» und «guten Taten» postuliert: orientiere man sich nur an guten Absichten, nehme man nicht nur billigend in Kauf, dass daraus schlechte Taten resultieren könnten, sondern bringe sie geradezu hervor.
Jene Menschen nun, die sich durch die Titulierung als «Gutmenschen» angegriffen fühlen, pflegen den Begriff an den Absender zu retournieren – mit umgekehrten Vorzeichen: sie sehen im Vorwurf des Gutmenschentums die Erfindung von «Schlechtmenschen», die die Verfolgung ihrer Sonderinteressen dadurch zu kaschieren versuchen, dass sie andere Menschen moralisch verunglimpfen.
Es geht also – einmal mehr – um die Moral. Die «Schlechtmenschen» unterstellen den «Gutmenschen», wider besseres Wissen schlecht zu handeln, bloss um den Schein der Moralität zu wahren; die «Gutmenschen» unterstellen den «Schlechtmenschen», wider besseres Wissen zynisch zu handeln, bloss um ihre Interessen durchzusetzen. Die einen unterstellen den anderen moralischen Narzissmus und nehmen damit implizit in Anspruch, letztlich moralischer zu handeln als sie; die anderen unterstellen jenen Immoralität und beanspruchen somit ebenfalls, die Moral auf ihrer Seite zu haben.
Es ist Friedrich Nietzsche, der uns hier weiterhelfen kann, indem er diese Art des Moralisierens radikal in Frage stellt. Der Rückgriff auf den deutschen Philosophen ist keineswegs zufällig. Die etymologische Herkunft des «Gutmenschen» ist zwar – nach Wikipedia – nicht restlos geklärt, doch verweist der Begriff zweifellos auf die in Nietzsches Werken häufig anzutreffende Wendung von den «guten Menschen».
Im Hinblick auf den Titel unserer Serie drängt sich besonders ein Verweis auf die Stelle aus «Jenseits von Gut und Böse» auf, wo Nietzsche den Psychologen zuruft: «Treibt Vivisektion am ‹guten Menschen›, am ‹homo bonae voluntatis›… an euch!» Wenn wir davon ausgehen, dass im Zeitalter der Psychologisierung jeder sein eigener Psychologe ist, so bedeutet dies nichts anderes, als dass sich die Apostrophe «an euch» an jeden Menschen richtet. «Gutmensch» ist also, nach Nietzsche, kein Attribut, das anderen Menschen vorbehalten bleibt, sondern jeder ist sich selbst sein eigener Gutmensch, ein «homo bonae voluntatis», einer, der – Gegenstück zu Goethes Mephisto – stets das Gute will und stets das Böse schafft. Wir stossen hier auf das Problem, um das es Nietzsche zu tun ist: der gute Wille wird konterkariert durch eine «unbewusste [!] Verschlagenheit», die wir selbst nicht durchschauen.
Der Gutmensch ist nicht jemand, der wider besseres Wissen schlecht handelt und andere täuscht. Nietzsche schreibt in «Genealogie der Moral»: «Unsre Gebildeten von Heute, unsre ‹Guten› lügen nicht… Die eigentliche Lüge, die echte resolute ‹ehrliche› Lüge wäre für sie etwas bei weitem zu Strenges, zu Starkes; es würde verlangen, … dass sie die Augen gegen sich selbst aufmachten, dass sie zwischen ‹wahr› und ‹falsch› bei sich selber zu unterscheiden wüssten.» Der moderne Mensch ist schwach, ein Produkt «moralischer Versüsslichung», das sich unaufhörlich in Selbstlügen verstrickt. Das ist für Nietzsche kein intellektuelles Problem, keines, das unter Aufbietung sämtlicher Ressourcen der menschlichen Vernunft zu lösen wäre; denn «der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung». Im Gegenteil – die Selbstlüge ist letztlich ein existenzielles Erfordernis im Dienste des menschlichen Überlebens: «Die Verstellung ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten.» Es gibt deshalb keinen Königsweg, der aus den Selbsttäuschungen hinausführte; was einzig bleibt, ist ein ständiges Sichbeobachten und Sichzergliedern – eine ständige «Vivisektion».
Was ist damit gewonnen? Nicht viel – aber immerhin ein wenig Bescheidenheit. Wer seinen Selbsttäuschungen zuweilen auf die Schliche kommt, wird sich davor hüten, zu moralisieren. Oder auch nicht. Fest steht jedenfalls, dass eine Welt, in der weniger moralisiert würde, deshalb eine bessere Welt wäre. Oder wie Roland Baader in einer seiner Kolumnen pointiert formulierte: «Durch Vorschriften und Verbote macht der Zwang zum Guten überwiegend schlechte Menschen nicht dauerhaft besser, dafür aber überwiegend gute Menschen dauerhaft schlechter.»