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Ein guter Mensch sein
Michael Kimmel, zvg.

Ein guter Mensch sein

Männer leiden darunter, dass sie nicht wissen, wie eine ideale Männlichkeit aussieht. Sobald sie es wissen, werden sie ihre Identitätskrise überwinden.

Read the English version here.

Die Behauptung, moderne Männer seien darüber verwirrt, was es bedeute, ein Mann zu sein, ist so alltäglich geworden, dass sie kaum noch erwähnt werden muss. Täglich lesen wir von der «Krise» der Männlichkeit: Männer scheinen verwirrt, desorientiert zu sein. Ihre Gesundheit, sowohl körperlich als auch geistig, scheint sich zu verschlechtern. Sogar die Spermienzahl ist rückläufig! «Tod aus Verzweiflung» nennt man sie, jene Leben, die durch Drogen, Alkohol, Selbstmord verkürzt wurden – betroffen sind überwiegend Männer. Auf einer tieferen Ebene gibt es eine Krise der sozialen Bindung, der Bedeutung. Unzählige Männer sagen, dass sie keine Freunde hätten, und viele haben die Suche nach einer Partnerschaft aufgegeben.

Es überrascht nicht, dass es falsche Propheten wie Andrew Tate gibt, die versprechen, Männern zu helfen, ihre Männlichkeit wiederherzustellen und ihre Dominanz in der Welt zurückzuerlangen. Diese falschen Propheten geben den Frauen die Schuld, die ihre Rolle als Mutter und Hausfrau «aufgegeben» hätten, in die Arbeitswelt «eingedrungen» seien, auf Reproduktionsrechten und sexueller Freiheit bestünden und gleichzeitig auf Sicherheit und körperliche Unversehrtheit pochten. Andere geben der liberalen Wirtschaftspolitik die Schuld, welche die Tür für männliche Arbeit geschlossen und gleichzeitig die Schleusen für Einwanderer geöffnet habe, die «unsere Arbeitsplätze stehlen».

Natürlich sind die meisten dieser Bemühungen, «die Männlichkeit wieder grossartig zu machen», lächerlich. Zum einen ist es einfach schlechte Statistik. Früher hatten weisse Männer in Europa und Amerika 95 Prozent aller Machtpositionen inne. Jetzt sind es eher 90 Prozent. Das ist kaum die grosse Verdrängung. Und glaubt irgendjemand wirklich, dass Frauen sagen werden: «Wisst ihr, ihr habt recht, Karriere und Familie, sexuelle Freiheit, unser eigenes Leben und unsere Integrität, nicht von einem Mann definiert zu werden, nun ja: Vielleicht ist das nichts für uns. Okay, meine Damen, lasst uns nach Hause gehen.»

Aber vielleicht, nur vielleicht liegt die Antwort auf diese neue «Krise» der Männlichkeit weniger bei den Frauen und mehr bei den Männern oder besser gesagt bei dem, was wir aufgrund unserer Erziehung für den Kern der Männlichkeit gehalten haben. Vielleicht sähen wir, wenn wir in den Spiegel schauen würden, dass Männer ständig in verschiedene Richtungen gezogen werden, aufgrund der Definitionen, die wir davon haben, was es bedeutet, ein Mann zu sein.

Ein guter Mann sein

Das derzeitige männliche Unbehagen kommt nicht von aussen, sondern von den verschiedenen Stimmen, die wir in unserem eigenen Kopf hören.

Sie glauben mir nicht? Machen Sie als Mann dieses kleine Gedankenexperiment. Wenn Sie morgens aufwachen und in den Spiegel schauen, sagen Sie zu sich selbst: «Du bist ein guter Mann.» Stellen Sie sich Ihre Beerdigung vor, bei der Sie möchten, dass die Anwesenden verkünden: «Er war ein guter Mann.» Aber fragen Sie sich folgendes: Was bedeutet es, ein guter Mann zu sein? Sie sind sofort hin- und hergerissen und haben eine Vielzahl verschiedener Antworten auf dieses Problem parat.

Ich habe diese Frage mehreren tausend jungen Männern und Jungen auf der ganzen Welt gestellt, von geschlechtergetrennten Schulen in Australien über College-Klassenzimmer in den USA bis hin zu einer Polizeiakademie in Schweden und ehemaligen Fussballstars der Fifa. Das ist Teil eines Workshops, den ich mit ihnen durchführe, um den Prozess des Mannwerdens zu erforschen, seine relevanten Regeln zu erkunden, wie sie diese Regeln lernen und wie die Regeln das Leben der Männer strukturieren.

Ihre Antworten variieren selten. Hier ist das, was Männer glauben, was es bedeutet, ein guter Mann zu sein: Integrität, Ehre, Verantwortung übernehmen, ein guter Versorger sein, das «Richtige» tun, sich kümmern, andere an die erste Stelle setzen, Opfer bringen.

Wo haben sie das gelernt? Ist dies nicht das jüdisch-christliche Erbe? Die Bibel? Das Fundament demokratischer Gesellschaften? Ja. Überraschenderweise versteht so ziemlich jeder, der dies liest, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein.

Ein echter Mann sein

Sagen Sie mir jetzt, ob Ihnen dieselben Gedanken oder Sätze in den Sinn kommen, wenn ich sage: «Steh deinen Mann!» oder «Sei ein echter Mann!». Wenn es Ihnen wie den meisten Workshopteilnehmern geht, sind Sie ein wenig bestürzt. Das ist ein ganz anderes Verständnis von Männlichkeit!

Was bedeutet es denn, ein echter Mann zu sein? Normale Männer sagen mir folgendes: Weine nicht. Sei stark. Zeig niemals deine Gefühle. Steh den Schmerz durch. Schlucke es runter. Werde reich. Gewinne. Sei aggressiv. Akzeptiere kein Nein als Antwort. Übernimm Verantwortung. Wie Sie sehen, unterscheidet sich diese Liste mit einer Ausnahme – sei verantwortungsbewusst – völlig von der ersten Liste, die ich von meinen Workshopteilnehmern erhalten habe.

Deshalb möchte ich Sie fragen: Wo haben Sie gelernt, was es bedeutet, ein «echter Mann» zu sein?

Das sagen Männer normalerweise in der folgenden Reihenfolge: (1) Vater; (2) Trainer; (3) meine männlichen Freunde; (4) mein älterer Bruder. Ich vermute, dass Sie dasselbe gedacht haben. Wenn Sie überhaupt an eine Frau gedacht haben, dann war es wahrscheinlich Ihre Mutter. Ich wette, dass einige von Ihnen eher an einen Priester oder Lehrer gedacht haben als an eine Frau.

Sie werden bemerkt haben, dass die Eigenschaften eines «guten Mannes» eigentlich die Eigenschaften eines guten Menschen sind. Das Adjektiv «gut» ist das zentrale Wort in diesem Satz, und sowohl Frauen als auch Männer können gleichermassen «gut» sein. Ein guter Mensch ist in gewissem Sinne ein geschlechtsneutraler Begriff; er ist gleichbedeutend mit einem guten Menschen, einem guten Bürger, einem guten Elternteil.

Aber «echt» ist eine ganz andere Kategorie. Sie ist sehr spezifisch für Männer, ein sehr geschlechtsspezifischer, absichtsvoller und oft betonter Begriff. Er wird vor den wertenden Augen anderer Männer demonstriert und bewiesen. Und aus diesem Grund sagen wir oft, dass Männlichkeit «homosozial» sei – dass es andere Männer sind, welche unsere Leistung diesbezüglich beurteilen. Wir wollen ein «Mannsmann» sein, kein «Frauenheld». Ein «Mann unter Männern».

Und hier ist die Lektion, die wir hoffentlich daraus ziehen können, etwas, das so ziemlich jeder einzelne männliche Leser dieses Beitrags erkennen wird: Es gibt Zeiten im Leben eines jeden Mannes, in denen er von anderen Männern aufgefordert wird, seine eigenen Werte, seine eigene Ethik, seine eigene Vorstellung davon, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein, zu verraten, um zu beweisen, dass er ein echter Mann sei. Das heisst, der Beweis, dass wir für andere Männer «echte Männer» sind, führt dazu – nein, erfordert es –, dass wir manchmal das Falsche tun, nicht für den kleinen Mann eintreten, uns unehrenhaft verhalten.

Dies ist die Geschichte, die wir Männer erzählen müssen – unseren Freunden, unseren Kindern und vor allem unseren Söhnen. Dass wir es selbst erlebt haben, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ein guter Mensch und ein «echter» Mann zu sein, dass wir wissen, welchem Druck sie ausgesetzt sind. Wir müssen es ihnen nicht nur um ihretwillen sagen, weil es ihnen helfen kann, zu erkennen, dass auch sie sich zwischen diesen Polen hin- und hergerissen fühlen können. Wir müssen es ihnen auch um unseretwillen sagen, damit wir uns endlich eingestehen können, welchen Schaden wir in unseren Herzen und Seelen angerichtet haben, als wir versuchten, unsere Menschlichkeit zu verleugnen und echte Männer zu sein.

Zu beweisen, dass man ein guter Mensch ist, bedeutet aber auch, zu beweisen, dass man als Mann gut ist. Männlichkeit, in dem ehrenwerten Sinne, wie sie meine Workshopteilnehmer meinten, ist keine Selbstverständlichkeit; sie kommt nicht in einem bestimmten Alter von selbst. Wir müssen sie uns verdienen. Viele Kulturen und einige Religionen gehen von einem solchen Werdegang aus, von der Notwendigkeit, durch Leistung vom «Nichtmann» zum «Mann» zu werden. Man lernt eine Passage aus der Thora oder der Bibel, geht auf eine Pilgerwanderung oder übersteht ein Initiationsritual. Erinnern Sie sich an die berühmten Worte von Simone de Beauvoir über Frauen: Man wird nicht als Frau geboren, sondern man wird zur Frau.

Nun, das gilt auch für Männer. Und wenn wir Männer jeden Alters in die Lage versetzen wollen, ihrer eigenen Definition von Männlichkeit gerecht zu werden, müssen wir eine Kultur der Unterstützung unter Männern schaffen, um diesen unerbittlichen Druck, Risiken einzugehen und Laster zu begehen, in Frage zu stellen und endlich die Beweislast zu erleichtern, die der männliche Gruppenzwang ausübt.


Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Seaman.

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Ahmad Mansour und Donat Blum, fotografiert von Ioannis Politis.
«Männlichkeit wird nach wie vor viel zu stark mit Dominanz gleichgesetzt»

Schriftsteller Donat Blum hält Männlichkeit für ein soziales Konstrukt und will ihr ­Empathie entgegensetzen. Psychologe Ahmad Mansour widerspricht und kritisiert die Verteufelung «alter weisser Männer». Ein Streitgespräch über Gendern, ­muslimischen Antisemitismus und Zärtlichkeit.

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