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Ein Buch nicht nur für Feuilletonisten!

Das Schweizer Feuilleton war nicht begeistert. Auch in den «Schweizer Monatsheften» wurde die «Schweizer Literaturgeschichte» als ein «missglücktes Kompendium» vorgestellt. Die Kritiker vermissten, was sie als ihre eigenen Wunschvorstellungen auf das 529 Seiten mächtige Buch projizierten. Wird die «Litera-turgeschichte» hingegen an ihrem eigenen Anspruch gemessen, dann fällt das Urteil anders aus. Eine Kritik der Kritik.

Für wen eigentlich wird eine Literaturgeschichte geschrieben? Diese Frage drängt sich angesichts der publizistischen Rezeption der ersten, von Peter Rusterholz und Andreas Solbach herausgegebenen «Schweizer Literaturgeschichte»* ebenso auf wie die Antwort: zum Glück nicht nur für Feuilletonisten und Literaturkritiker! Bei dieser ebenso anspruchsvollen wie eigenwilligen Klientel ist mit einem solch mutigen Projekt – immerhin handelt es sich um die erste genuine Gesamtdarstellung zur Literatur in der sprachlich wie kulturell vielfältigen Schweiz – offenbar nicht allzuviel zu gewinnen. Die Tagesbesprechungen in der «Neuen Zürcher Zeitung», in der «Weltwoche», im «Bund» und insbesondere die Stellungnahme von Klaus Hübner in der vergangenen Ausgabe der «Schweizer Monatshefte»** lassen jedenfalls kaum ein gutes Haar an einer wichtigen Neuerscheinung, die damit ebenso einseitig wie ungerecht beurteilt erscheint. Schliesslich wird ein solches Grundlagenwerk auch für andere Lesergruppen verfasst – neben literarisch Interessierten vor allem für Studenten und Lehrer der Germanistik, als Handbuch für den akademischen Literaturunterricht wie für die literaturwissenschaftliche Forschungsarbeit. Im folgenden soll die Rusterholzsche Literaturgeschichte im Hinblick auf ihre Verwendbarkeit in beiden Bereichen näher betrachtet werden. Unter dieser praxisbezogenen Perspektive eines (im Hinblick auf die Schweizer Literatur) Auslandgermanisten ergibt sich – soviel sei vorweggenommen – ein merklich andere Gewichtung.

Vier grundlegende Einwände ziehen sich durch die genannten, aber auch verschiedene andere Stellungnahmen. Kritisiert wird vor allem die Überbetonung der deutschsprachigen Literatur und die Vernachlässigung der übrigen Schweizer Literaturen. Roman Bucheli hält in der «Neuen Zürcher Zeitung» (14.11.2007) fest: «Den rund 430 Seiten zur Deutschschweizer Literatur folgen gerade noch deren 40 zur Romandie und deren 20 über die Rätoromanen, während die Literatur aus der italienischen Schweiz in rekordverdächtiger Kürze auf 8 Seiten abgefertigt wird.» Dieser Sachverhalt wird von Klaus Hübner als grundsätzliches Problem des Buches bewertet: «Der Kern des Übels liegt in der Gesamtkonzeption. Es geht nicht an, die von Doris Jakubec dargestellte ‹Literatur der französischen Schweiz› auf 40, die von Antonio Stäuble skizzierte ‹Literatur in … der italienischen Schweiz› auf acht und die merkwürdigerweise in zwei Kapiteln erläuterte rätoromanische Literatur auf 20 Seiten abzuhandeln und diese an die 430 Seiten anzuhängen, die der deutschsprachigen Literatur des Landes vorbehalten sind.» Beat Mazenauer ergänzt in seiner – etwas positiveren – Besprechung in «Der Bund» (14.01.2008): «Diese sprachregionale Aufteilung hat zur Folge, dass beispielsweise die Aufklärung sprachlich zweigeteilt wird, obwohl es innerhalb der Schweiz damals mehrere Zentren gab, die geistig miteinander vernetzt waren. In dieser Form taugt diese neue Literaturgeschichte nicht als innerhelvetisches Verständigungswerk, sondern bekräftigt aus Deutschschweizer Perspektive den Primat der deutschen Sprache.»

Ausserdem bemängeln die Rezensenten eine zu starke Eingrenzung auf die Innensicht. Mazenauer beanstandet am Beispiel der Behandlung Dürrenmatts und Frischs die Überbetonung der «schweizerische[n] Binnenperspektive» und die zu geringe Beachtung der «Nachkriegsrezeption in Deutschland». Bucheli sieht hierin ein generelles Defizit: «Nein, dieses Buch kann nicht die angemessene Antwort auf die blinden (Schweizer) Flecken der deutschen Literaturgeschichtsschreibung sein. Es betreibt die Ghettoisierung, ohne dass die damit verbundenen Nachteile mit einem Gewinn an kulturspezifischer Erkenntnis aufgewogen würden.»

Die hier angemahnte kulturspezifische Erkenntnis spielt auch bei einem weiteren Kritikpunkt eine Rolle. Er wird am deutlichsten von Julian Schütt in der «Weltwoche» (01/08) herausgearbeitet: «Schade nur, dass man die Panoramaperspektive nicht beharrlicher genutzt hat, um nach dem spezifisch Schweizerischen der diversen Literaturen im Lande zu suchen. Spannender wäre das Projekt wohl herausgekommen, wenn die Beiträger gezielt nach übergreifenden Eigenheiten gefragt hätten, etwa nach schweizerischen Fantasien und Wertvorstellungen…»

Schliesslich vermissen verschiedene Kommentatoren eine zureichende Beachtung literarhistorischer Perspektiven sowie eine genügende Einbeziehung sozialer und politischer Kontexte. Partielles Lob vermag hier gerade bei Hübner nicht das überaus kritische Gesamturteil zu relativieren: «Man findet viel Wissenswertes und auch für die Fachwelt Interessantes in diesem … in seiner Gesamtanlage allerdings auf merkwürdige Art missglückten Kompendium, in dem übergreifende literarische Entwicklungslinien nur selten sichtbar und politisch-soziale Kontextualisierungen kaum einmal plausibel gemacht werden.»

Nachfolgend sollen die genannten Kritikpunkte an je einem Beispiel aus dem universitären Literaturunterricht und der literaturwissenschaftlichen Forschungsarbeit überprüft werden. Beim ersten Aspekt kann sich der Verfasser dieses Beitrags auf Erfahrungen bei dem Versuch berufen, im Berliner Wintersemester 2007/8 deutsche Studenten für den Schweizer Dichter Jeremias Gotthelf zu interessieren. Kein leichtes Unterfangen, bei dem sich jedoch die Rusterholzsche Literaturgeschichte in mehrfacher Hinsicht als hilfreich erwies.

Das zeigte sich vor allem bei der Behandlung von «Die schwarze Spinne» und später bei «Uli der Knecht». In beiden Fällen äusserten die Studenten massive Vorbehalte gegen Gotthelfs Tendenz zum überdeutlich erhobenen Zeigefinger und extensiven Moralisieren. Hier liefert die Darstellung von Dominik Müller ein stichhaltiges Gegenargument, das zugleich die Eigenart von Gotthelfs Erzählen hervortreten lässt: «Darin wird moralisiert, wird skizziert, wie das Gute aussähe, und indem der Erzähler so am Höheren das Mass nimmt, verschafft er sich insgeheim die Freiheit, das Unzulängliche beim Namen zu nennen» (S. 110). An anderer Stelle heisst es: «Unter dem Schutzmantel der Fiktion legt [Gotthelf] soziale Missbräuche offen…» Eine Karikatur mit dem Titel «Wo Herr Jeremias Gotthelf die Stoffe zu seinen Werken herinimm», die ihn als Dichter mit der Mistgabel anprangert, illustriert gelungen diese zeitgenössische Kritikperspektive (S. 109).

Ebenso hilfreich und orientierend erwiesen sich die literaturgeschichtlichen Einbettungen des Gotthelfschen Erzählens, etwa die Verweise auf Pestalozzis «Lienhard und Gertrud» (S. 106) oder die Einordnung in die Gattung der «Dorfgeschichte» (108f.). Gut fasslich herausgearbeitet ist auch die politische Aufbruchsituation der Gotthelf-Zeit

(S. 106) und sind die Gründe für seine häufige Verwendung historischer Stoffe (111f.). Dem Anliegen verpflichtet, mit dieser Literaturgeschichte «Lesende mit unterschiedlichen Voraussetzungen» für die Lektüre von Schweizer Literatur zu gewinnen (Vorwort XII), werden weitere Gotthelf-Werke durch geschicktes Anzitieren publikumswirksam präsentiert. Das gilt nicht nur für den «Bauern-Spiegel» mit dem lakonisch-beredten Einleitungssatz: «Ich bin geboren in der Gemeinde Unverstand, in einem Jahre, welches man nicht zählte nach Christus» (S. 104). Ebenso ist die didaktische Umsicht zu loben, mit der die zentrale Problematik eines so umfangreichen Romans wie «Anne Bäbi Jowäger» vermittelt wird: «Hansli Jowäger war ein braver Mann, und Anne Bäbi, seine Frau, meinte es auch gut, aber uf sy Gattig (aber auf ihre Art)» (S. 111f.). Damit wird zugleich der Bogen zum Dialektgebrauch bei Gotthelf und zur Mundartdichtung seiner Zeit

(S. 113f.) geschlagen, die ebenfalls anregend dargestellt wird.

Mit solchen Argumenten kann man neue Gotthelf-Leser gewinnen – nicht nur in Berlin. Entsprechende Bemühungen scheinen auch in der Schweiz nicht überflüssig zu sein. Hier prägt Gotthelf zwar, wie Müller anmerkt, nach wie vor massgeblich das längst nicht mehr zutreffende Selbstbild,

«eigentlich … ein Bauernland» zu sein. Gleichwohl werde der Stifter dieses nationalen Mythos heute viel «häufiger beschworen … als wirklich gelesen…» (S. 116). Für die Richtigkeit dieser Einschätzung könnte sprechen, dass in den genannten Rezensionen die Vorzüge des Gotthelf-Kapitels fast unerwähnt bleiben.

Ebenso nützlich erweist sich die Neuerscheinung für die literaturwissenschaftliche Forschungsarbeit. Wer sich – wie der Verfasser dieses Beitrags – seit längerem mit Emil Staiger beschäftigt, findet viele wertvolle Hinweise. Das gilt etwa für von Staiger geschätzte konservativere Schweizer Dichter, wie Albin Zollinger, Werner Zemp oder Meinrad Inglin, die man als deutscher Germanist kaum kennt. Vor allem der Erzähler Inglin, den Staiger als Kronzeugen gegen eine angebliche «Krise des modernen Romans» aufrief und dafür von den Modernisten belächelt wurde, wird in seiner Bedeutung für die Schweizer Literatur in verschiedenen Kapiteln des Buches anregend beleuchtet. Besonders aufschlussreich ist dabei der Kontext der «Geistigen Landesverteidigung» (S. 208ff.).

Hervorzuheben ist die Behandlung des «Zürcher Literaturstreits», der bis heute massgeblich zu Staigers Verdammung beiträgt. Peter Rusterholz, der dieses Kapitel verfasst hat, stellt einleitend fest: «Der Zürcher Literaturstreit ist seinerzeit nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland als wichtigste literarische Kontroverse der Nachkriegszeit diskutiert … worden, je nach Perspektive nur als lokalzürcherisches Ereignis oder als Indiz eines veränderten Literaturverständnisses, als Paradigmenwechsel der Germanistik oder als Ereignis im Kontext allgemeiner Literatur- und Kulturgeschichte» (S. 311).

Im Anschluss an eine sorgfältige Nachzeichnung von Staigers umstrittener Scheltrede gegen weite Teile der Gegenwartsliteratur geht Rusterholz ebenso differenziert auf Max Frischs Reaktion ein: «Unter den Dichtern herrschte grosse Betroffenheit. Max Frisch … reagierte mit ungewohnter, oft polemischer Schärfe, die seine persönliche Enttäuschung verrät und ihn verführte, für seine Replik den Titel: ‹Jetzt darf man es wieder sagen› zu wählen, der durch die Generalisierungen Staigers zwar provoziert wurde, aber sicher weder seiner Intention noch der gestellten Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Ethik entsprach, sondern auf den Begriff entarteter Kunst anspielte» (S. 312f.).

Aufschlussreich auch die nachfolgenden Ausführungen zu Paul Nizon, der als Sprecher einer «neuen Generation von Autoren» (S. 313) zu Wort kommt, «die fortan begannen, das Feld zu bestimmen». Sehr gelungen erscheint die abschliessende Kontrastierung des Staigerschen Traditionalismus mit der neuen Ästhetik innovativer Autoren: «Deren Texte repräsentieren kein Allgemeines im Besonderen und keine Stimmigkeit von Teil und Ganzem des Werks, sondern zeigen fragmentierte Aspekte, montierte Weltausschnitte aus der subjektiven Sicht von Figuren problematischer Identität. Kunst und Kunstbegriff orientieren sich nicht mehr am vorbildlich Allgemeinen, sondern am Funktionieren des Besonderen. Dies nicht mehr im Rahmen eines überzeitlich gesehenen Wesens des Menschen, sondern im Kontext ganz konkreter, historischer Macht- und Interessenbereiche» (S. 313).

Auf knapp drei Seiten findet man hier alles dargestellt und kritisch ausgewertet, was am Zürcher Literaturstreit zeit-,

literatur- und kulturgeschichtlich buchenswert ist – eine bemerkenswerte Leistung, die ebenfalls in keiner Rezension zur Sprache kommt.

Natürlich greifen die beiden hier vorgenommenen Stichproben Einzelbeispiele heraus. Allerdings handelt es sich nicht um die unwichtigsten Ereignisse in der Literaturgeschichte der Schweiz. Im ersten Fall geht es um den bedeutendsten frühen Schweizer Beitrag zum europäischen Roman und zur Weltliteratur, im zweiten um eine europaweit beachtete, exemplarische Auseinandersetzung über das Verhältnis von Literatur und Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert. Bei beiden Beispielen erwies sich die eingangs dargestellte journalistische Tageskritik als weitgehend unzutreffend. Von einer Vernachlässigung «übergreifende[r] literarische[r] Entwicklungslinien» bei Gotthelf oder einer Verkürzung der «politisch-soziale[n]» Kontexte des Zürcher Literaturstreits kann keine Rede sein.

Hauptansatzpunkt der teils vehementen Tageskritik war der im Titel erhobene Anspruch einer Schweizer Literaturgeschichte. Angesichts der Umfangsunterschiede bei der Darstellung der einzelnen Schweizer Literaturen ist dieser Einwand zweifellos nicht von der Hand zu weisen. Es ist auch verständlich, dass der «nationale» Aspekt im Zentrum vieler binnenschweizerischer Debatten steht. Aus Sicht eines deutschen Germanisten nimmt man dieses Thema naturgemäss etwas anders wahr. Zum einen weiss man die ausführliche Behandlung der deutschschweizerischen Literatur zu schätzen; sieht es als ein Vorzug dieses Buches an, dass man sich neben Thomas Hürlimann und Martin Dean auch schnell und fundiert über in Deutschland weniger bekannte Schweizer Gegenwartsautorinnen und -autoren, wie Eleonore Frey oder Jürg Amann, informieren kann. Zum anderen liest man aber gerade die Beiträge zur Romandie, zu den Rätoromanen und zur Literatur aus der italienischen Schweiz mit Interesse und Gewinn. Schliesslich sind sie trotz ihres ungleich geringeren Umfangs sehr informativ und tragen zu einem umfassenderen Verständnis der Schweizer Literaturen bei. Diese Horizonterweiterung ist für deutsche Germanisten, die sich allzuleicht auf die Literatur der deutschsprachigen Schweiz konzentrieren, nützlich und wichtig. So könnte man, um ein Beispiel zu nennen, nach der Lektüre des Teils zur französischsprachigen Schweiz mit Blick auf Gotthelf fragen, ob nicht die thematisch parallele Darstellung von Bauernwelten bei einem so bedeutenden Schriftsteller wie Charles-Ferdinand Ramuz eine vergleichende Betrachtung wert wäre. Bedenkt man, dass es bislang überhaupt keine Überblicksdarstellung zur Literaturgeschichte in der Schweiz gab, die solche Perspektiven erkennen liess, erscheint es deshalb ein wenig ungerecht, wenn das Rusterholzsche Buch in den Feuilletons mit Bausch und Bogen verdammt wird. Schliesslich könnte man die umfangreiche Studie ja auch als einen ersten Schritt hin zu umfassenderen Schweizer Literaturgeschichten sehen.

Eine stärker abwägende Beurteilung dürfte sich noch aus einem anderen Grund empfehlen. Die Erwartungen der Tageskritik an eine integrierte «Schweizer» Literaturgeschichte erscheinen als hoch, die Forderungen mitunter vielleicht sogar zu hoch. Das lässt nicht nur Mazenauers Wunsch nach einem «innerhelvetische[n] Verständigungswerk» erkennen. Bucheli denkt gar an eine Darstellung im Kontext aller deutschsprachigen Literaturen: «[Es] gäbe … doch hierzulande genügend kluge Köpfe, die einmal das Projekt einer Geschichte der gesamten deutschsprachigen Literatur anzustossen vermöchten: Da könnten sich dann Thomas Mann, Kafka und Robert Walser gegenseitig spiegeln. Und zeitgenössische Autoren wie Ilma Rakusa, Armin Senser oder Raphael Urweider, die aus einem Schweizer Kontext heraus gar nicht angemessen zu verstehen sind, könnte man dann in einen Horizont stellen, der die kommunizierenden Gefässe des literarischen Austausches erst sichtbar werden liesse.» Mehr noch schwebt ihm eine integrierende Gesamtdarstellung der vielschichtigen Schweizer Literaturverhältnisse vor: «…weit kühnere Pläne wären denkbar: Wieso setzen sich nicht einmal ein paar sprachgewandte Wissenschafter und Wissenschafterinnen zusammen und schreiben eine richtige Schweizer Literaturgeschichte? Jüngst hat in Lausanne Peter Utz einen Master-Studiengang zu den Schweizer Literaturen eingerichtet. Das könnte die Keimzelle eines solchen Projektes sein. Was der Rätoromane Leo Tuor mit dem Tessiner Fabio Pusterla gemein hat oder was Catherine Colomb von Max Frisch trennt und wie hier unterschiedliche Entwicklungslinien sichtbar werden: Solche Fragestellungen müssten doch eine lohnende Herausforderung sein.»

Das klingt gut, anspruchsvoll und spannend – gerne würde man eine solche Schweizer Literaturgeschichte lesen. Aber sie ist viel leichter zu fordern als zu realisieren. Allzu oft wird die Schwierigkeit unterschätzt, vier Sprach- und Literaturkreise mitsamt ihren jeweiligen geistesgeschichtlichen, sozialen und politischen Kontexten in einer Verbindung von Längs- und Querschnitten zu integrieren. Schliesslich müsste dabei mehr herauskommen als beispielsweise die recht banale Erkenntnis, dass es in allen vier Schweizer Literaturen eine (jeweils unterschiedlich verlaufende) Aufklärung gab, dass man einander (einmal mehr, einmal weniger) zur Kenntnis nahm und sich auch über Sprachgrenzen hinweg beeinfluss-te. Das «wie» dieses literarischen Austauschs zwischen vier Sprachen und Literaturen herauszufiltern und komprimiert zu vermitteln, ist eine hochkomplizierte Aufgabe. Zu fragen ist zudem, wie viel komparatistische Forschungsvorarbeiten in diesen Feldern denn bereits vorliegen. Eine Literaturgeschichte kann nur sehr begrenzt eigene Untersuchungen zu «übergreifende[n] literarische[n] Entwicklungslinien» anstellen, sondern lediglich synthetisieren, was an Vergleichsstudien schon vorhanden ist. Und den hohen Anspruchsgrad der genannten binnenschweizerischen Vergleiche kann man vielleicht am besten daran ablesen, dass es eine solche integrierte Schweizer Literaturgeschichte nicht längst gibt – obwohl sie doch offenbar von vielen sehnlich erwartet wird.

Festzuhalten ist: eine (wünschenswerte) Gesamtgeschichte der Schweizer Literaturen, noch dazu im Kontext der sie umgebenden Länder, bedeutet ein Megaprojekt, dessen Ausgang und Ertrag schwer abzuschätzen sind. Es bleibt abzuwarten, ob entsprechende Publikationen entstehen werden – vielleicht tatsächlich aus der von Bucheli erwähnten «Keimzelle» Lausanne. Genau betrachtet, ist erst dann, im Vergleich der Erträge, ein abschliessendes Urteil über das hier behandelte Buch möglich. In jedem Fall haben Peter Rusterholz, Andreas Solbach und ihre Koautoren einen bedeutenden Anstoss zur Literaturgeschichtsschreibung in der Schweiz gegeben. Ihnen ist auf einem literarisch wie kulturell schwierigen Terrain eine Übersichtsdarstellung auf hohem fachlichen Niveau gelungen, an die weitergreifende Arbeiten nun anknüpfen können. Diese Pionierleistung erscheint in der vorherrschenden Kritik bei Hübner und anderen deutlich unterschätzt.

Abschliessend zwei Anmerkungen zu einen Aspekt, der vor allem bei Julian Schütt anklingt: die Frage nach dem «spezifisch Schweizerischen» oder nach «übergreifenden Eigenheiten, … etwa schweizerischen Fantasien und Wertvorstellungen». Hier ist zunächst zu fragen, ob nicht gerade dieser Wunsch selbst eine Wunschvorstellung ist. Schliesslich ist die Suche nach dem Spezifischen einer Nationalliteratur die Crux jeder Literaturgeschichte – und erst recht für eine Schweizer Literaturhistorie. Zudem landet man bei diesem Thema schnell bei Nationalstereotypen, die allerdings im Vergleich der Nationen und Kulturen wiederum nutzbar gemacht werden können. Im Gotthelf-Kapitel findet sich dazu ein anregender Hinweis: «Im ersten Teil des Romans ‹Geld und Geist› wird davon erzählt, wie ein unverschuldeter finanzieller Engpass das Gespräch zwischen Bauer und Bäuerin zum Verstummen bringt und so auch das allabendliche gemeinsame Gebet unterbleibt. In einer ‹Wirtschaft des ganzen Hauses› vermag dies den gesamten Bauernbetrieb zu lähmen, bis die krank gewordene Bäuerin nach einem Predigtbesuch endlich die Kraft aufbringt, das Gespräch mit ihrem Mann zu suchen. Dass es viel häufiger Verstockte sind, welche solche Kommunikationsnotstände hervorrufen, als egozentrische Vielredner, kann man mit dem Stereotyp des wortkargen Schweizers in Verbindung bringen» (S. 113f.).

Wenig mitteilsame Figuren wie «Elsi, die seltsame Magd» finden sich nicht nur bei Gotthelf. Ebenso denkt man an verschiedene überaus schweigsame Gestalten bei Gottfried Keller. Und es ist zu überlegen, ob man unter dieser Perspektive nicht auch bei Frisch, Dürrenmatt und anderen fündig werden könnte. Allerdings erscheint in diesem Zusammenhang das Klischee vom «wortkargen Schweizer» leicht irreführend, zumindest einseitig. Als Deutscher denkt man beim Lesen dieser Literaturgeschichte vielmehr darüber nach, ob nicht für die Schweiz auch eine andere Kultur – eine des Zuhörens und Zuhörenkönnens – charakteristisch ist, die man dem teutonischen Rededrang gelegentlich wünschen würde. Solche Vergleichsüberlegungen zu unterschiedlichen Kulturen des Zuhörens in beiden Ländern werden in der Rusterholzschen Literaturgeschichte zwar nicht, wie es sich manche Kritiker wünschen, mundgerecht vermittelt, aber durch ihre Lektüre angeregt. Und die Aktivierung des Lesers ist in Literatur wie Literaturwissenschaft eine ebenso hohe wie schwierige Kunst. In der Literaturgeschichtsschreibung ist sie die allerwichtigste.

* Peter Rusterholz & Andreas Solbach (Hrsg.): «Schweizer Literaturgeschichte». Stuttgart / Weimar: J.B. Metzler, 2007.

** «Schweizer Literaturgeschichte, missglückt», in: «Schweizer Monatshefte» 961, Mai 2008, S. 57 f.

Joachim Rickes, geboren 1956, ist Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und

Mitarbeiter der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages. 2006 veröffentlichte er das von Emil Staiger inspirierte Buch «Die Roman-kunst des jungen Thomas Mann».

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