Ein Auge zugedrückt
«Ich beginne damit, etwas nicht zu photographieren», sagt der kanadische Photograph Jeff Wall (*1946). Sein Interesse gelte dem, was man nicht sehe. So sind seine Bilder Erinnerungsphotos. Er stellt nach, was sich in seinem Kopf festgesetzt hat, sei es eine Alltagsszene oder ein künstlerisches Werk, wie ein Film oder ein Gemälde. Manchmal ist es auch ein Bild, das beim Lesen in seinem Kopf entsteht, wie etwa «Invisible Man» nach dem Roman von Ralph Ellison. Durch die gewählte Präsentationsform der Leuchtkästen wirken die Photos brillant und der Realität entfremdet. Uns, die Betrachter, versetzt Jeff Wall mittels Grossformat und Perspektive in die Rolle von Passanten. Manchmal sehen wir nichts Besonderes – wie das eben ist beim Passieren von Strassen, Bahnhöfen oder Wohnblöcken. Manchmal sind wir Voyeure. Besonders in den kinematographischen Bildern, wie Wall sie nennt, zwingen uns Nahaufnahmen Intimität auf.
Wenn Jeff Wall sagt, ihn interessiere, was beim Photographieren verloren gehe, ist auch Koketterie im Spiel. Denn wer die Ausstellung im Basler Schaulager mit den rund 70 chronologisch gehängten Werken anschaut, der gewinnt etwas. Leichte Irritationen aufgrund der nachgestellten Szenen zwingen zum Innehalten, zum präzisen Betrachten. Auf «An Eviction» (Eine Zwangsräumung) ist eine beschauliche Reihenhaussiedlung abgelichtet, mit ein paar Autos auf der Strasse und einem fahrradfahrenden Kind im Vordergrund. Alles ganz normal. Auf den ersten Blick. Erst beim genauen Betrachten (oder nach dem Lesen des Titels) sieht man die aufgebrachten Menschen in einem Vorgarten. Wie Figürchen in einer Modelleisenbahnlandschaft stehen die Menschen da, zwei halten einen Mann fest, der einem anderen einen Kinnhaken verpasst. Wobei nicht einmal er wirklich aufgebracht wirkt – die Körper posieren den Widerstand. Normalität?
Die Titel, die den Blick fokussieren, verschränken sich mit den Photographien zu Geschichten. Ihre Bedeutung liegt in den Augen des Betrachters. Dabei spielt der Künstler mit der Ikonographie von Malerei und Film, also mit Bildern, die das Auge des Betrachters vielleicht so oder ähnlich früher einmal in einem Museum oder im Kino gesehen hat. Wie stark das Spiel mit den Referenzen und den Sehkonventionen wirken kann, zeigt «Dead Troops Talk» von 1992 (Untertitel: «Vision nach einem Angriff aus dem Hinterhalt auf eine Patrouille der Roten Armee, bei Moqor, Afghanistan, Winter 1986»). Eine Szene mit blutüberströmten Soldaten, irr geschminkten Gesichtern und gekrümmten Leibern in einer Grube. Eine Szene, die so offensichtlich gestellt ist, dass man sich fragt, warum man so etwas Gruseliges, nicht Grausames abbildet. Die Komposition des Bildes erinnert an Schlachtenbilder und -panoramen, etwa das von Murten, und führt so die Absurdität der Kriegsverherrlichung in diesen schaurigen, faszinierenden Gemälden vor Augen.
Obwohl Jeff Wall im Catalogue Raisonné, der sein gesamtes Werk dokumentiert, jedes Bild entweder der Kategorie Dokumentation oder Kinematographie zuordnet, unterscheidet der Kanadier nicht zwischen Fakten und Fiktion. Angesichts seiner Arbeitsweise erstaunt das nicht. Erinnerungen sind immer real und irreal. Man weiss nie, ob man ihnen trauen kann und weiss doch, dass sie allein durch das Vorhandensein Realität sind. Aus dem gleichen Grund pflegt der Photograph auch einen pragmatischen Umgang mit der Technik. Kamera, analoge oder digitale Technik wählt er nicht konzeptionell aus, sondern entsprechend den Erfordernissen des Bildes, das er machen will.
Jeff Wall sagt, die Ausstellung im Schaulager sei wohl die beste, die er je würde machen können. Sie ist nicht nur sehr umfangreich, sondern dank den grosszügigen Räumen und der sorgfältigen Präsentation bestens geeignet, sein Werk nahezubringen.
Die Ausstellung «Jeff Wall Photographs 1978–2004» ist noch bis zum 25. September im Schaulager Basel, zu sehen. (www.schaulager.org). Der «Catalogue Raisonné 1978-2004» ist im Steidl Verlag, Göttingen, erschienen.