Ein Alt-Bundesrichter plaudert aus dem Nähkästchen
Karl Spühler legt seine Autobiografie vor – und kritisiert die überbordende Gesetzgebung.
Zum Bild einer abgehobenen Richter-Kaste hochgebildeter Richter passt Karl Spühler definitiv nicht. Der langjährige SVP-Bundesrichter ist in der Zwischenkriegszeit in eine Mittelstandsfamilie im zürcherischen Thalwil hineingeboren worden; die Verwurzelung in der ländlichen Gesellschaft hat ihn geprägt, wie Spühler in seiner soeben erschienenen Autobiografie schreibt. Etwa, als er am Obergericht bei einem Streit über einen (wörtlichen) Kuhhandel seinen Kollegen erklären musste, was ein «Dreistich» ist (eine Kuh, die nicht aus allen vier Zitzen Milch gibt).
Auch sonst ist das Buch reich an Anekdoten aus der richterlichen Praxis. Öffentlich für Wirbel sorgte ein Bundesgerichtsurteil von 1991, das die Entfernung eines Kruzifixes aus einer Tessiner Schule anordnete. Als beteiligter Richter habe er daraufhin «wüste Drohungen» erhalten, erinnert sich Spühler. «In gewissen Geschäften, in denen man mich kannte, wurde ich nicht mehr bedient.»
Er hat aber auch positive Erinnerungen. Etwa an den Fall eines Bündner Bergbeizlis ausserhalb der Bauzone. Die Bundesrichter (unter ihnen Spühler) liessen nach einem Augenschein vor Ort das Gasthaus stehen, obwohl es nicht wie eigentlich gefordert direkt neben einer Seilbahnstation stand, sondern hundert Meter entfernt, «um die wunderbare Aussicht zu gewährleisten». Zwei Jahre später «sprach mich auf der Strasse in Zürich ein einfacher Mann an und dankte mir herzlich für das Urteil», schreibt Spühler. Nicht ohne Grund bedauert er, dass Richter heute kaum noch Augenscheine vor Ort vornähmen.
Die Autobiografie hätte ein sorgfältigeres Lektorat verdient. Denn sie bietet interessante Einsichten und Erkenntnisse über die Jurisprudenz, den richterlichen Alltag und darüber hinaus. Zum Schluss übt Spühler Grundsatzkritik. Es werde heute «allzu sehr darauf los legiferiert. Dies ist weitgehend Folge der um sich greifenden Staatsgläubigkeit.» Die Konsequenz daraus, so Spühler: «Die Gesetze von heute atmen wenig Freiheit, zu wenig Freiheit. Sie werden mit wenigen Ausnahmen von zweit- und drittrangigen Verwaltungsjuristen, die bei den Vorentwürfen einseitig der Bürokratie huldigen, ‹fabriziert›.» Fänden auch einmal amtierende Bundesrichter solch klare Worte, könnten sie vielleicht den einen oder anderen Parlamentarier zum Nachdenken anregen. (lz)
Karl Spühler: Vom Dorfbub zum Bundesrichter. Edition Königstuhl, 2024.