Eigenständigkeit durch Verantwortung
Der Weg nach vorne gelingt nur mit dem Mut zum Unterschied. Die Idee der Willensnation gibt uns diese Möglichkeit – wenn wir denn wollen. Ansonsten bleibt nur die Angleichung.
Die schöne Aussicht vor dem Abstieg – eine Frage der Zeit, schlicht die faktische Macht der Geografie oder ein freier Entscheid? Der Titel des Dossiers verwendet eine Metapher, die wohl zeitlich gemeint ist. Sie erinnert aber auch an die Macht der Geografie. An ihre Zwänge, an ihre ungeheure Gravitation für die politischen Entwicklungen und damit für die Ideen, Konzepte, Vergleiche, die unser Handeln bestimmen. Und somit an die Notwendigkeit zur freien Willensbildung, so man auf dem Grat weiterwandern und nicht ins Tal absteigen möchte.
Die Schweiz liegt im Herzen Europas, durch die Alpen in unzählige Talschaften und Regionen zerteilt, von Seen umgeben, arm an Naturschätzen, reich an Wasser und Alpenübergängen. Hier entstand im langen 19. Jahrhundert der politische Sonderfall Schweiz: ein Bundesstaat mit vielen föderalen Kompetenzen, weltweit einzigartig ausgebauter direkter Demokratie, Subsidiarität, einem fein austarierten Proporz- und Majorzwahlrecht, das sachlichen Konsens in den Exekutiven befördert; eine diverse Willensnation, weder sprachlich noch konfessionell geschlossen, offen für Immigranten, die zu Konvertiten wurden. Dieser Sonderfall bestätigte sich auch in den Schlüsseljahren rund um 1848, als nur in der Schweiz die reaktionäre Gegenrevolution erfolglos blieb. Diese Institutionen beförderten die Entwicklung zu einer freiheitlichen, erfolgreichen Industrie- und Dienstleistungswirtschaft, die auf offene Märkte und Recht vor Macht angewiesen ist.
Um uns herum überzog sich unser Kontinent über dieselbe Zeit zuerst mit furchtbaren Kriegen, dann offenbar geläutert mit einer Wirtschafts- und Friedensunion, die nun aber im Korsett des Euros und einer wieder zunehmenden globalen Blockbildung protektionistisch und regulatorisch fordernd agiert. Die Welt um Europa herum wurde grösser, der Eurozentrismus des 19. Jahrhunderts ging über in die Pax Americana, mutierte dann zum Kalten Krieg, und heute stehen wir im asiatischen Jahrhundert – das wiederum die USA als ebenfalls pazifische Macht prägen werden. Wir entgingen den Kriegen – in welchem Ausmass Weisheit, Tapferkeit, Schlaumeierei und Zufall dazu beitrugen, steht hier nicht zur Debatte – und waren als kleiner, merkantiler und neutraler Staat meist wohlgelitten. So sahen und sehen wir uns selber gerne und verhalten uns entsprechend.
Es ist nicht alles gratis zu haben
Was uns auf den angesprochenen Aussichtspunkt gebracht hat, wissen wir also wohl, was aber gefährdet denn nun unsere Fähigkeit, von Grat zu Grat weiterzugehen? Einiges. Es ist auch die Macht der Geografie: das Angleichen und Vergleichen mit den Nachbarn. Die Unart der öffentlichen ökonomischen Diskussion, fast ausschliesslich in Aggregaten auf der Ebene von Nationalstaaten zu argumentieren und nur selten Veränderungen nach (Metropolitan)-Regionen oder pro Kopf nachzugehen. Und es ist die Logik der betrieblich-wirtschaftlichen Optimierung, an immer kürzere Zyklen gebunden, rational optimiert von global fungiblem Kapital.
Gefährdet ist unsere Position an der Spitze aber auch durch die Verwerfungen der Jahre 1989 bis 2022: das vermeintliche Ende der Geschichte; Staaten, die im Verbund mit ihren Zentralbanken jede Krise mit noch mehr Geld beantworteten; eine wachsende Expertokratie, von Klimawandel und Pandemie befeuert; die leere Illusion, dass für uns Europäer Sicherheit, Geld und Energie umsonst zu haben seien. Und zuletzt das gerade von zu vielen rechten, wirtschaftsfreundlichen Kräften immer noch negierte Faktum, dass im Anthropozän heutiger Ausprägung aus den Unvollkommenheiten globaler Märkte massive Risiken entstehen: Umweltschäden, Gefährdung der Biodiversität, Klimawandel und marktbeherrschende Geschäftsmodelle dank fast oder gar nicht mehr abnehmender Grenznutzen und der Erschliessung natürlicher Monopole durch Technologie.
So rutschen wir also langsam ins Tal. Wir wissen, dass Europa unser grösster Kunde ist, der Marktzugang an Regelangleichung knüpft. Für den Zugang zu den für uns wichtigsten Economies of Scale (Grössenvorteilen) wird die Angleichung der Produktionsbedingungen gefordert. In den Entscheidungszyklen der Wirtschaft ist der Rat oft ein einfacher: Marktzugang. Skalen scheinen wichtiger als der eine oder andere Standortvorteil. Im Horizont des über Generationen denkenden Nationalstaates und insbesondere des Sonderfalles Schweiz ist die Logik aber genau umgekehrt. Nichts ist wichtiger als das Aufrechterhalten eigener Handlungsfähigkeit. Denn nur so können wir langfristig Differenzierung und Wettbewerbsvorteile herstellen. Oftmals sehen dies langfristig denkende Unternehmen, beispielsweise solche mit starken Familienaktionären, identisch.
Eigenverantwortung auf dem Rückzug
Wir vergleichen unsere Wertschöpfung selbstzufrieden mit dem globalen oder europäischen Durchschnitt statt mit der Lombardei, Bayern, der Île-de-France, London, Singapur und New York. Wir sonnen uns auf einem hohen Niveau und vergessen wie der Frosch im Wasser, die langsame Veränderung im Auge zu behalten.
Überdies haben wir die Friedensdividende mehr als nur verfrühstückt und uns einer Energiewende ohne realistische Planungsgrundlage hingegeben. Zu meinen, der politische Sonderfall inklusive einer mythisch überhöhten Neutralität würde im Ausland viele Freunde finden, wenn man weder Sicherheit noch Energieversorgung eigenverantwortlich angeht, ist naiv.
«Zu meinen, der Sonderfall Schweiz würde im Ausland viele Freunde
finden, wenn man weder Sicherheit noch Energieversorgung
eigenverantwortlich angeht, ist naiv.»
Auch bei uns feiert der sorgende, sich kümmernde Staat Urständ. Eigenverantwortung und vorausschauendes Handeln für Generationen scheinen auch bei uns auf dem Rückzug zu sein. Die nicht enden wollenden Wehen um die scheibchenweise Sanierung unserer Sozialsysteme sind das beste Beispiel dafür. Ein Schelm, wer dahinter politische Kräfte vermutet, welche die Einheitskassen mit noch mehr Umverteilung erzwingen wollen.
Auch wir getrauen uns nicht, die realen Umweltprobleme mit Preiswahrheit zu beantworten, sondern verzetteln uns in Subventionen und Verboten. Ein Preis für CO2, der über eine Reduktion anderer Abgaben und Steuern an die Bevölkerung zurückgeführt wird, würde den unschlagbaren Entdeckungsmechanismus des Marktes erhalten und vieles an Regulierung und Eingriffen unnötig machen.
Auf dieser Rutschpartie wird eines Tages eine durch Angleichung geschwächte Wirtschaft den ungehinderten Zugang zu grossen Wirtschaftsblöcken fordern, um zu überleben und um über einige Jahre nochmals die Prämie des Einäugigen ernten zu können.
Wettbewerbsvorteile durch Differenzierung
Was also ist das Rezept, um wieder Tritt zu fassen und die Höhenwanderung fortzusetzen? Es ist der Wechsel der Perspektive – weg von Economies of Scale durch Angleichung, hin zu Wettbewerbsvorteilen durch Differenzierung. Damit ist die Notwendigkeit verbunden, selbstbestimmt handeln zu müssen, zu wollen und zu können. Wer anders sein will, muss besser sein, muss global gegen die Besten bestehen. Darauf ist unser Tun und Lassen auszurichten.
Wir müssen auf Qualität, Differenzierung und Leistungsfähigkeit setzen. Unsere Produkte und Dienstleistungen müssen so gut sein, dass sie in allen relevanten Weltmärkten gekauft werden wollen. Dazu müssen wir in erstklassige Rahmenbedingungen und Standortfaktoren investieren und uns über diese differenzieren: duales Bildungssystem, verlässliche Eigentumsrechte und Anreizsysteme, flexible Arbeitsmärkte, robuste Infrastruktur, glaubwürdige Energieversorgung, effizienter Service public, liberale Ordnungspolitik. Damit wir dies tun können, müssen wir zu unseren Institutionen Sorge tragen und sie behutsam weiterentwickeln. Damit unsere politische Andersartigkeit akzeptiert wird, müssen wir ein glaubwürdiger Partner sein, der auch einen Beitrag zu einer Welt leistet, in der Recht vor Macht weiterhin gilt.
Wir müssen in unsere Fähigkeit zur Autonomie, in eine Position der Stärke investieren. Dazu gehört das Bewahren einer wertemässig geschlossenen Willensnation. Wir müssen als Bürger Verantwortung übernehmen; der Staat ist kein durch eine herbeigeredete Classe politique ferngesteuertes Monstrum, in unserem System sind wir der Staat. Wir sind frei, zu handeln.
«Wir müssen in unsere Fähigkeit zur Autonomie, in eine Position der Stärke investieren. Dazu gehört das Bewahren einer wertemässig
geschlossenen Willensnation.»