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Editorial

 

 

«Nichts leistet der Arroganz mehr Vorschub, als wenn man ein Leben lang Maschinen bedient, die nicht zur Kritik fähig sind.»

Edward Snowden in «Permanent Record»

 

Die furchtbarsten Dinge geschehen, wenn Menschen andere Menschen nicht mehr als Menschen wie sie wahrnehmen, sondern als Nummern, als Zahlen, als Einträge in einer Statistik. In autoritären und sozialistischen Systemen, in denen der einzelne wenig gilt, verkommt der Mensch zur Verfügungsmasse. So kann ein mit Menschen unter unwürdigen Bedingungen vollgepferchter Zug auf seinem Weg ins Vernichtungslager für einen Beamten auf dem Papier nicht viel mehr sein als ein logistischer Vorgang, ein Transport von A nach B.

Wie eine Nummer, wenn auch weitaus profaner, fühlt sich auch jeder, der eine Auskunft wünscht von einem Dienstleister, sich aber vor verschlossenen Türen und im Dialog mit Computerstimmen in Warteschleifen wiederfindet. Auch neue Technologien sind an der zunehmenden gegenseitigen Entfremdung nicht unbeteiligt. In sozialen Medien fallen Worte, die von Angesicht zu Angesicht niemals geäussert würden. Kontakt im Alltag findet zunehmend mit dem und über das Smartphone statt. Von China aus winkt das Sozialkreditsystem (Social Scoring) – bis in diesem Jahr noch in der Testphase – als Realität einer totalen sozialen Kontrolle des einzelnen durch den Staat. Bei Erfolg droht dieses System auf die eine oder andere Weise eine weltweite Ausbreitung zu finden. Und das nicht nur in Autokratien.

Das Smartphone hat in den gerade mal etwas mehr als 12 Jahren seiner Existenz (das erste iPhone kam Ende 2007 auf den Markt) einen unglaublichen Siegeszug hingelegt: Fast alle besitzen eines, und die Zeit, die sie damit verbringen, steigt stetig an. Berichte darüber, wie Telefone, Laptops und Fernseher, aber auch Assistenten mit Spracherkennungssoftware wie Siri oder Alexa die Bürger ausspionieren können, werden ohne nennenswerte Proteste zur Kenntnis genommen. Warum? Überzeugt von unserer eigenen Intelligenz und Unabhängigkeit neigen wir dazu, uns für den Meister unseres Smartphones zu halten, und keinesfalls für dessen Diener. Doch bleiben wir kluge, unabhängige, selbstbestimmte Denker, wenn wir uns immer stärker von Algorithmen leiten lassen? Wer kein Smartphone besitzt oder dessen Benachrichtigungen konsequent deaktiviert, ist geneigt zu vergessen, dass es für viele Leute längst Alltag ist, sich von ihrem Smartphone sagen zu lassen, wie viele Schritte sie pro Tag machen sollen, wann sie zu Bett gehen sollen, wen sie mal wieder kontaktieren sollen.

Dem Gutenberg-Zeitalter, das ab dem 15. Jahrhundert Bücher und Zeitungen hervorgebracht hat, folgten Aufklärung, Rechtsstaat, Freiheit und Demokratie nach. Es neigt sich nun einer Art Ende zu. Welche «Brave New World» uns künftig erwartet, ist noch völlig unklar. Der Wandel jedenfalls kommt rascher, als wir ihn erfassen und verarbeiten können. Sollte sich daraus eine Welt entwickeln, wie sie George Orwell 1948 in «1984» beschrieben hat, sind wir als Bürger gefordert, ihr Einhalt zu gebieten.

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