Editorial
«Oh, ihr freiheitsliebenden ‹linken› Denker! Oh, ihr linken Anhänger der Labour Party! Oh, ihr fortschrittlichen amerikanischen, deutschen und französischen Studenten! Euch genügt das alles noch nicht. Mein ganzes Buch wird an euch spurlos vorbeigehen. Ihr werdet erst dann begreifen, wenn ihr, ‹Hände auf den R-rücken!›, selbst durch das Tor unseres Archipels marschiert.» Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag (1978)
Ein Leben in Wohlstand in einer freien Welt – etwas anderes haben die meisten jungen Menschen im Westen zeitlebens nicht erfahren. Sie können sich kaum mehr vorstellen, von einem Unrechtsstaat gegängelt zu werden, der persönlichen Handlungsfreiheit beraubt zu werden, keinen fairen Prozess zu erhalten, der Willkür eines Diktators ausgesetzt zu sein. Um voraufklärerische Zeiten selbst zu erleben, müssen sie schon reisen. Gewiss, es gibt auch Europäer, die von der Existenz einer EUdSSR faseln. Doch todbringende Zwangsarbeitslager, wie sie Solschenizyn in der UdSSR erlebt und beschrieben hat, finden sich in Europa nirgends.
Dafür verantwortlich ist auch der Siegeszug der Aufklärung. Er hat die Machthaber auf lange Frist dazu gezwungen, die Herrschaft des Volkes (Demokratie) zu akzeptieren und errungene Macht den in freien Wahlen und Abstimmungen zum Ausdruck gebrachten Volksentscheiden unterzuordnen. Aktuell scheint es den Westlern fast undenkbar, als könnte sich das jemals wieder ändern. Doch aufgepasst, der Lauf der Geschichte wendet sich meist sehr überraschend. Den just dreissig Jahre zurückliegenden Fall des realsozialistischen Sowjetreiches und des Warschauer Militärpakts haben die wenigsten vorhergesehen. Und auch nicht die Friedlichkeit des Zusammenbruchs: Die Ostberliner sind einfach über die Grenze in den freien Westen gelaufen, weil sie an der Grenze niemand mehr aufhalten wollte. Man sei deshalb gewappnet für kommende Ereignisse. Freiheit kommt überraschend, sie geht aber auch überraschend. Man frage etwa die Frauen im Iran, von denen vor der Kulturrevolution 1979 keine gezwungen war, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen.
In Gefahr kommen aufklärerische Werte spätestens dann, wenn der Westen seine Vormachtstellung gegenüber dem autoritär geführten China einbüsst. Dort zeigt sich bereits jetzt, wie gefährlich die seit Jahrzehnten zunehmende Macht des Staates werden kann, wenn er sich das von den Bürgern freiwillig und unfreiwillig im Netz geteilte Wissen über sie zunutze macht. «Der Staat ist eine Maschine», schrieb der Hauptverantwortliche für die sowjetischen Arbeitslager, Demokratiegegner Josef Wissarionowitsch Stalin, bereits in vordigitalen Zeiten in seinen «Grundlagen des Leninismus» 1924: «Der Staat ist eine Maschine in den Händen der herrschenden Klasse zur Unterdrückung des Widerstands ihrer Klassengegner.»