Editorial
«Ein gewarnter Mensch ist so viel wert wie zwei.» — Honoré de Balzac
Als ich wach wurde, war der Himmel dunkler als vor dem Mittagsschläfchen. Das Mittelmeer lag schiefergrau und matt unterhalb der Nachbarhäuser, die Sonne schien nur schwach durch einen bräunlich-verhangenen Himmel – und es rieselte feine Aschepartikel. «Ein Waldbrand», sagte ein Freund, während er sich auf der Terrasse seine Zigarette anzündete. «Etwa fünfzig Kilometer westlich von Athen.» Solche Brände haben in griechischen Sommern keinen Seltenheitswert, aber an diesem Montagnachmittag starrten wir doch öfter als sonst in den Himmel – um abzuschätzen, wie sich das Feuer hinter den Hügelketten im Westen wohl entwickelte. Am frühen Abend waren die dunklen Schwaden aber wieder verschwunden, und mit ihnen unsere Sorgen.
Dann kam eine SMS aus der Schweiz. Mein Schwiegervater schrieb, er hätte vom Brand gelesen, wir sollten uns über mögliche Fluchtwege bei Feuer informieren: über direkte Wege zum Meer also, möglichst fern von Pinien und Gastanks, von Gebäuden und Klippen. Im Moment, da ich über den gutgemeinten Hinweis schmunzelte, ihn mit Blick zum nahen, wieder blau glänzenden Meer als überbesorgt und angesichts weinseliger Ferienheiterkeit fast als absurd abtat, verbrannten knapp zwanzig Kilometer nordöstlich von uns in der Küstenstadt Rafina in der zweitschwersten Brandkatastrophe seit Aufzeichnungsbeginn in Europa fast einhundert Menschen. Als die Flammen sie wenige Meter vom Strand entfernt einholten, wollten sie alle nur eins: zum Meer.
Fürchterliche Katastrophen wie diese sind selten, und vielfach kann man ihnen sogar präventiv vorbeugen (siehe mein Gespräch mit ETH-Professor David Bresch) – weshalb etwa die Schweiz, die eine andere Risikokultur pflegt als Griechenland, auch nach dramatischeren Naturereignissen heute nur sehr selten Todesopfer zu beklagen hat. Menschen in westlichen Wohlfahrtsstaaten neigen deshalb dazu, den eigenen Informationsstand hinsichtlich drohender Gefahren zu überschätzen und die eigene Exponierung zu unterschätzen, frei nach dem Motto: «Verschwindet der Rauch, ist auch die Gefahr verschwunden.» Manchen treibt die ständig zunehmende Sicherheit paradoxerweise gar dazu, faktisch immer unbedeutendere Risiken erkennen und absichern zu wollen, um nur ja kein Risiko einzugehen. Die Versicherungsindustrie freut’s – die Lust am Wagen und Entdecken allerdings wird dadurch nicht unbedingt befördert. Gibt es also einen «richtigen» Umgang mit dem Risiko? Wir haben dem Thema ein ganzes Dossier gewidmet.
Statt einer Kurzgeschichte publizieren wir in dieser Ausgabe erneut eine grosse exklusive Fotoreportage des mehrfach ausgezeichneten Berner Fotografen Alex Kühni, der Nordkorea mit seiner Kamera bereiste. Welche Risiken er einging und welche Geschichten er mitgebracht hat, lesen und sehen Sie hier.