Editorial
«Unsere mittelfristige Inflationsprognose ist verhalten: nur 1,4 Prozent im Jahr 2023»
Isabel Schnabel, EZB-Direktorin, im Juli 2021
Die Dynamik im Finanzmarkt bringt die Europäische Zentralbank (EZB) dem Endspiel ihrer Politik näher. Sie ist im Dilemma zwischen zwei Zielen, die sie unmöglich beide erreichen kann. Soll sie weiterhin hochverschuldete Staaten und Banken der Währungsunion stützen und damit deren Haushalte vor dem Zusammenbruch bewahren? Oder soll sie, was ihre Aufgabe wäre, die Preisstabilität sichern und die Inflation unter Kontrolle bringen? Ersteres erreicht sie, indem sie ihre seit der Finanz- und Schuldenkrise vor 14 Jahren bekannte expansive Geldpolitik weiterführt. Letzteres erreicht sie, indem sie die Leitzinsen anhebt. Minischrittchen lösen hier das Problem aber nicht mehr, die Inflationsdynamik ist zu stark geworden.
Weil die Zinsen von europäischen Staatsanleihen und insbesondere auch die Zinsunterschiede (Spreads) zwischen verschiedenen Euroländern stark angestiegen waren, berief die EZB Mitte Juni eine Notfallsitzung ein. Und hielt so ihr Versprechen, keine Staatsanleihen ihrer Mitgliedsstaaten mehr aufzukaufen, gerade mal für ein paar Tage. Die EZB-Verantwortlichen interpretieren diese Anstiege politisch als Misstrauensvotum gegen die Währungsunion – und nicht als Ausdruck einer Entfesselung der Märkte, die durch ihre Anleihenkaufprogramme jahrelang geknebelt worden waren.
Es geht aber auch darum, eine mögliche Panik unter den Anlegern zu vermeiden. Wirken die Marktkräfte am Anleihenmarkt ungebremst, platzt die Schuldenblase, und das würde einen enormen Druck auf den Aktienmarkt ausüben. Sollten Aktien so rasant wie 1929 verkauft werden, ist es durchaus denkbar, dass die Finanzmärkte erst mal in eine Art Lockdown überführt und alle Transaktionen vorerst verunmöglicht werden. Altes Notrecht gepaart mit neuen technologischen Möglichkeiten haben wir ja alle vor kurzem schon mal erlebt. Auf einen zweiten Schock werden die Menschen angepasster reagieren, oder sagen wir: gefügiger.
Entscheidet sich die EZB auch weiterhin konsequent für die Staaten- und Bankenrettung, droht die Inflation völlig aus dem Ruder laufen. Ein Blick in den Libanon zeigt, wie eine Welt aussieht, wenn ein von Zentralbankern gestütztes Kartenhaus zusammenbricht. Das Land versinkt in Inflation und Chaos. Hunger, Armut und ein Gefühl der Ausweglosigkeit breiten sich aus, dazu riesiger Hass auf die dafür Verantwortlichen in Regierung und Zentralbank. Letztere haben jedoch noch immer einen Joker aus dem Ärmel gezogen, wenn ihre Situation mal wieder ausweglos erschien. Rund 40 Prozent der ausstehenden europäischen Staatsanleihen sind bereits heute in der Bilanz der EZB. Was, wenn es 100 Prozent sind? Der Kreativität bei der Umschuldung sind keine Grenzen gesetzt.