Editorial
«Den Sozialismus – so sagt man bei uns immer – in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.»
Erich Honecker
Als der Generalsekretär des Zentralkomitees der marxistisch-leninistischen DDR-Staatspartei SED, Erich Honecker, diese Worte im August 1989 äusserte – wenige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer –, wurde er ausgelacht.
Doch es könnte sein, dass Honecker recht behalten wird. Die marxistisch-leninistische Staatspartei Chinas mausert sich gerade zur neuen Weltmacht, während sich die USA nicht nur aus Afghanistan, sondern überhaupt aus der Weltpolitik zurückziehen. Die verbrannte Erde, die Mao Zedong nach seinem Tod 1976 hinterlassen hat, haben die Chinesen mit der Ausnutzung der wohlstandsbringenden, freien Marktwirtschaft höchst erfolgreich bewässert. Sie haben daraus einen Zugewinn an Macht in der Welt gezogen und es geschafft, die Kontrolle über die eigenen Bürger noch zu verschärfen.
Erst kürzlich veröffentlichte der «New Yorker» einen extralangen Text über die neusten Entwicklungen in der westchinesischen Provinz Xinjiang («Surviving the Crackdown in Xinjiang»). Darin ist aufgeführt, was praktisch umgesetzter Sozialismus auf lange Frist immer begleitet: Totale Überwachung. Willkürliche Inhaftierungen. Gefangenschaften mit Folter. Erzwungene Geständnisse. Eingeforderte Selbstbezichtigungen. Umerziehungslager mit einem «Unterricht», der das Singen von kommunistischen Liedern beinhaltet und die Repetition eingetrichterter Propaganda. In der ehemaligen Sowjetunion, als wäre sie nie untergegangen, wird Oppositionsführer Alexei Nawalny unter den aufmerksamen Augen der ganzen Welt ins Straflager verbannt. Wer Solschenizyn gelesen hat, weiss, was ihn dort erwartet: Krankheit, Einsamkeit, Verzweiflung, Tod.
Auch in anderen Nationen mit sozialistischer Tradition geht wieder willkürliche Gewalt vom Staat gegen einzelne Bürger aus: In Weissrussland werden Menschen von der Strasse hinweg in Kleinbusse gepfercht und entführt. In Myanmar wurde der 26jährige Protestführer Wai Moe Naing von einem SUV gerammt, geschlagen und abtransportiert. Welche Schreckenstaten in realsozialistischen Ländern wie Nordkorea und Venezuela ausgeführt werden, möchten viele gar nicht wissen.
In der Coronakrise haben Zentralgewalten weltweit bisher dezentral verteilte Macht an sich gerissen – auch in bisher freiheitlich ausgerichteten Staaten. Sie haben selbständige Bürger und Unternehmer mit faktischen Berufsverboten zur Untätigkeit gezwungen, sie in die staatliche Abhängigkeit getrieben. Auch einer der Grundpfeiler des helvetischen Selbstverständnisses, der Föderalismus, bröckelt. Gemeinden und Kantone geben immer mehr kleinteilig verteilte Macht an die Zentralregierung ab – gezwungen von ihr oder aus Angst vor eigener Verantwortung.
Soll Honecker wirklich recht behalten? Oder gibt es noch einen Ochs oder Esel, der dem Sozialismus in den Lauf tritt? Es geht um nichts als um unsere Freiheit. Also um alles.