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Statue von Alfred Escher © ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Vogt, Jules / Com_M12-0342-0069 / CC BY-SA 4.0

Editorial

Eine Kulturrevolution ist bereits im Gange.

«Von der Revolution und den Jahren vor der Revolution wissen wir bereits so gut wie nichts mehr. Alle Dokumente sind entweder vernichtet oder gefälscht worden, jedes Buch hat man umgeschrieben, jedes Gemälde neu gemalt, jedes Denkmal, jede Strasse und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Und dieser Prozess geht Tag für Tag, Minute für Minute weiter. Die Historie hat aufgehört zu existieren. Es gibt nur eine endlose Gegenwart, in der die Partei immer recht hat.»

George Orwell, «1984»

 

Wer vom Hauptbahnhof Zürich zur Bahnhofstrasse geht, kommt an einem Denkmal vorbei. Nicht für einen Kriegshelden, nicht für einen Monarchen, sondern für einen Unternehmer: Alfred Escher. Doch wie lange noch? Der Pionier, zu dessen Vermächtnis die ETH und der Gotthard-Eisenbahntunnel, die Credit Suisse und die Swiss Life gehören, könnte im Zuge von «Black Lives Matter» nächstens von Denkmalstürmern heruntergerissen werden, mit dem Argument, er sei ein Nutzniesser der Sklaverei gewesen. Schliesslich war sein Onkel, so zeigte der deutsche Historiker Michael Zeuske 2017 auf, einst im Besitz einer Kaffeeplantage auf Kuba gewesen, zu der auch über 80 Sklaven gehörten. Alfred Escher war nie auf Kuba, machte lediglich eine Erbschaft.

Die Statue von Edward Colston, einem britischen Unternehmer, Politiker und Sklavenhändler, wurde kürzlich heruntergerissen und ins Hafenbecken von Bristol geworfen. Eine Petition zur Entfernung einer Statue von Mahatma Gandhi in Leicester hat fast 5000 Unterschriften erhalten. Und die Statue von Winston Churchill in London wird bewacht, seit ein Schmierer den Namen Churchill durchgestrichen hat und «war ein Rassist» daruntergeschrieben hat. Ein Rassist? Da hätte er mal den Typen kennenlernen müssen, den Churchill vor 75 Jahren zur Strecke gebracht habe, schrieb jemand im Internet dazu. Historiker Zeuske findet übrigens, man müsse auch Immanuel Kant in den Blick nehmen, denn er habe «in seinen anthro­pologischen Schriften den europäischen Rassismus mitbegründet».

Im Internet beginnt derweil die Zensur: Der Streaminganbieter HBO max nimmt den Filmklassiker «Vom Winde verweht» aus dem Programm. Die wirklich witzige, im Übermass nazikritische Folge «The Germans» der Serie «Fawlty Towers» von 1975 wird von UKTV, zu 100 Prozent in Besitz der öffentlich-rechtlichen BBC, wegen «rassistischen Verunglimpfungen» («racial slurs») entfernt. Und auf der chinesischen Social-Media-App TikTok, dem jüngsten Trend auch unter Schweizer Schülern, gibt es Meinungsäusserungsfreiheit ­sowieso nicht. Zensur ist hier die Regel, nicht die Ausnahme.

Die Frage, wo das alles endet, bleibt offen. Man kann nur hoffen, dass sich der Kurs dieser Kulturrevolution, die offensichtlich bereits im Gange ist, nicht schrecklichen Vorbildern wie beispielsweise der maoistischen Kulturrevolution annähert. Klar ist: Die Arbeit, die reale Welt einer vermeintlich idealen anpassen zu wollen und sich dabei alles Unbequemen auch mit radikalen, undemokratischen und rechtswidrigen Mitteln zu entledigen, wird den Schönfärbern nie ausgehen.

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