Echo
Leserzuschrift zum Dossier «Zahlenwahn», Ausgabe 9/10, 2004
Ihre Ausgabe zum «Zahlenwahn» vom September/Oktober 2 4, zu der ich Sie herzlich beglückwünsche, hat mir ausserordentlich gut gefallen. Sofern ich es nicht etwa übersehen haben sollte, meine ich, Edgar Salin (1892–1974), der auch international anerkannte Sozialwissenschafter und von 1927 bis 1962 Professor für Nationalökonomie an der Basler Universität, sei in Ihrem Heft nicht gewürdigt worden. Deshalb erlaube ich mir, als dessen Schüler zu Ihrer Publikation, die sich grundsätzlich mit Methodologie befasst, über Salins Forschungs- und Lehrweise kurz folgendes beizutragen.
Zum Begriff Theorie: im ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes theoria meint er die unmittelbare, erkennende Schau der konkreten Wirklichkeit. Er hat also nicht die heute überwiegende Bedeutung, die sich leider auch in den Sozialwissenschaften als rationale Theorie in der Abstraktion, vor allem in Gestalt mathematischer Modelle, erschöpft. Wohl sind diese ein notwendiger Denkansatz mit faszinierender Eleganz; aber sie allein vermögen keine genügend erklärende Gesamtanschauung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu vermitteln – sie sind nur Teilerkenntnis. Ein taugliches Verfahren hingegen ist die von Salin vertretene anschauliche Theorie, die einen – obwohl eigentlich etwas pleonastisch – zum griechischen Wortsinn zurückführt. Sie ist nämlich nicht nur-rational, sondern auch-rational, weil sie, als Resultante aus Theorie und Geschichte, zusätzlich geschichtliche und schon seit eh und je interdisziplinäre Momente mitberücksichtigt; sie bemüht sich um Gesamtschau und somit um Gesamterkenntnis, die Vorrang vor der Teilerkenntnis geniesst. In ihr ist die rationale Theorie enthalten, d.h. nach Hegel aufgehoben. Also: etwas weniger Mathematik und dafür etwas mehr Geschichte und andere Humanwissenschaften dürfte Forschung und Unterricht gerade in der Ökonomik effizienter gestalten. Metaökonomisch ausgedrückt: der Grenznutzen der knappen Ressourcen von Forschung und Lehre würde auf diese Weise sehr wahrscheinlich steigen. Die zu sehr modellbehaftete und zu oft anschauungs- und damit wirklichkeitsfremde Über-Mathematisierung läuft Gefahr, gerade für den jungen, in die Lehr- und Unternehmenspraxis eintretenden Menschen kaum das zu Recht Erwünschte zu leisten. Eine unter vielen, sogar auch von der Mathematik herkommenden Professoren an den berühmtesten amerikanischen Universitäten durchgeführte Umfrage hat dies bestätigt. Menschliche Wesen gleiten immer mehr zu rein statistischen Grössen ab. Trotz allen Informations- und Kommunikationswissenschaften fehlt es immer wieder am zwischenmenschlichen Kommunizieren, und die vermassend wirkende Entfremdung beim Individuum droht zuzunehmen.
Hier darf ich in diesem Zusammenhang noch folgendes Zitat von Friedrich August von Hayek (1899–1992) anfügen: «Ich habe bei einer anderen Gelegenheit einmal ausgesprochen, und es scheint mir wichtig genug, es heute zu wiederholen, dass wer nur ein Nationalökonom ist, auch kein guter Nationalökonom sein kann. […] Nicht nur Staatslehre und Jurisprudenz, Ethnologie und Psychologie und natürlich die Geschichte sind Fächer, mit denen der Nationalökonom viel besser vertraut sein sollte, als es für einen Menschen möglich ist. Vor allem aber berühren sich seine Probleme immer wieder mit jenen der Philosophie.» Und zum Schluss noch folgende, für Salin feststehende Aussage: «…alle ökonomische Wissenschaft ist Sozialwissenschaft und darum von Anbeginn bis in alle Zukunft politische Ökonomie».
Silvio Bianchi, Basel