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Dunkler als tausend Schatten

Mit dem Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki vor 60 Jahren sollte das Kriegsziel der bedingungslosen Kapi-tulation Japans rasch und mit einer vergleichs-weise geringen Opferzahl erreicht werden. Doch zu welchem Zweck, so die Frage im folgenden Beitrag, wurden die Bomben tatsächlich eingesetzt?

Am 6. August 1945 wirft ein US-Bomber über Hiroshima eine Atombombe ab. Das Zentrum der Explosion liegt über dem Shima-Krankenhaus im Stadtteil Saiku-Machi. Es ist 8.16 Uhr. Etliche Uhren sind zur «Stunde Null» des Atomkriegszeitalters stehengeblieben. Das ist die Geschichtsschreibung der neuen Zeit.

Weniger genau fixierbar ist die Zahl der Opfer. Von den (je nach Schätzung) 170’000 bis 282’000 Toten (bis 1950 gerechnet) sind ungefähr 50 Prozent am Tag des Abwurfs gestorben, 35 Prozent in den folgenden drei Monaten, 15 Prozent danach. Dazu kommen über 163’000 Verletzte, aber die Kette der Spätfolgen, der genetischen Schäden, ist bis heute nicht abgerissen. Der Begriff «Latenzperiode» erhält einen nicht mehr entwicklungs-, sondern destruk-tionsgeschichtlichen Sinn.

Drei Tage später, am 9. August 1945, vernichtet eine zweite Atombombe Nagasaki; hier sind «nur» 70’000 Opfer zu beklagen.

Zwischen diesen beiden Tagen, am 8. August 1945, wird die Charta des Internationalen Nürnberger Militärtribunals verabschiedet, die erstmals juristisch den Begriff «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» formuliert. Der Philosoph Günther Anders, öfters als das «Gewissen des Atomzeitalters» zitiert, hat dieses Datum in dieser zeitlichen Nachbarschaft das «monströseste Datum» der Weltgeschichte genannt. Darüber mag man uneins sein, schwer ist indessen zu bestreiten, dass die Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki nicht ausschliesslich wegen ihrer quantitativen Dimensionen «monströs» ist. Die «Antiquiertheit des Menschen» (Günther Anders), der Riss zwischen Gewissen und Wissen, zwischen Seele und Apparat ist nur noch in Auschwitz so deutlich geworden wie hier. Die «Banalität des Bösen» hat in der Abnormität des Guten ihr Pendant gefunden.

Hiroshima ist zwar nicht das Auschwitz des Atomkriegszeitalters. Dazu fehlt viel. Das sollten gerade die Nationen nicht vergessen, die zunehmend gerne die Kriegsverbrechen gegeneinander ausspielen. Aber der Feuerball, der «heller als tausend Sonnen» über Hiroshima aufging, hat einen gigantischen Schatten auf das Ende des Krieges geworfen. Wie die jüngsten Auseinandersetzungen in den USA über das hier richtige Erinnern gezeigt haben, ist die Öffentlichkeit des Siegerlandes mehr denn je über ihr atomares Trauma tief zerstritten. Vergegenwärtigt man sich die Geschichte der Bombe, ist das nur folgerichtig. Seit Hiroshima und Nagasaki «strahlt die Erde im Zeichen triumphalen Unheils» (Adorno/Horkheimer, «Dialektik der Aufklärung»).

I. Die Bombe – das kleinstmögliche Übel?

«Manhattan-District» war der Deckname des streng geheimen Projekts, in dem seit September 1942 unter der Gesamtleitung von Generalmajor Leslie R. Groves etwa 150’000 Männer in den Laboratorien von Los Alamos (Leitung Robert Oppenheimer) und Chicago (Leitung Arthur H. Compton), in den Uran- und Plutonium-Fabriken von Oak Ridge und Hanford, auf dem Versuchsgelände von Alamogordo und der Wendover Air Force Base zum Zweck der Herstellung und des Einsatzes von Atomwaffen zusammenarbeiteten. Die Zielsetzung des Projektes war defensiv und präventiv: dem nationalsozialistischen Deutschland mit seinem anfänglichen Vorsprung in der physikalischen Forschung und seiner unzweifelhaften Bereitschaft zu einem gegebenenfalls auch atomaren «totalen Krieg» sollte zuvorgekommen werden.

Mit dem 8. Mai 1945 war dieser Zweck indessen hinfällig geworden, und etliche Wissenschafter, wie etwa der bedeutende ungarische Physiker Leo Szilard, hatten Zweifel, ob die neue schreckliche Waffe auch gegenüber Japan ein legitimes Mittel sei. Die Erinnerung an den Überfall auf Pearl Harbor und andere japanische Kriegsverbrechen sowie der erbitterte Inselkrieg im Pazifik sorgten allerdings dafür, dass Überlegungen dieser Art kein grösseres Gewicht bekamen.

Auch als im Sommer 1945 das «Manhattan»-Projekt Bombengestalt annahm, zugleich aber mit der Eroberung von Okinawa und Iwo Jima ein endgültiger konventioneller Sieg über Japan näherrückte, fehlte es nicht an Argumenten, die für den Einsatz der Atombombe zu sprechen schienen. Auf japanischer Seite zeichnete sich unter dem Diktat der militanten «Falken», mit deren Putschbereitschaft auch die friedenswilligen Teile der Regierung zu rechnen hatten, zunächst keinerlei Zustimmung zu einer bedingungslosen Kapitulation ab, wie sie auf der Konferenz von Casablanca gefordert worden war. Die japanische Militärtradition war ohnehin auf die Alternative «Sieg oder Tod» eingeschworen; eine ehrenvolle Ergebung als Mittel des Überlebens kannte sie nicht. Die blutigen Kämpfe um Okinawa hatten gezeigt, was auf der Heimatinsel zu erwarten war. Die Pläne zu ihrer Verteidigung sahen in der Tat Kamikaze-Unternehmen grössten Ausmasses vor. Und noch sieben Tage nach der Vernichtung von Hiroshima entwickelte der stellvertretende Stabschef der Marine, Onishi, der die Kamikaze-Angriffe gegen die amerikanische Marine organisiert hatte, einen Plan, der den Endsieg mit dem Opfer von 20 Millionen Japanern ermögliche sollte.

Angesichts dieser Situation war die Rechnung der verantwortlichen amerikanischen Militärs, dass bei einer Invasion Japans mindestens 500’000 tote US-Soldaten zu erwarten seien, durchaus plausibel; in manchen Kalkulationen spielte sogar die wahrscheinliche Zahl der japanischen Opfer eine gewisse Rolle. Und die bereitwillige Offerte des Fliegergenerals Curtis LeMay, Japan nach europäischem Muster mit unaufhörlichen Luftbombardements in die bedingungslose Kapitulation zu «brennen», schien auch keine akzeptable Alternative. Die über 83’000 Opfer – grösstenteils Zivilbevölkerung – des Angriffs auf Tokyo am 9. März 1945 hatten bei Kriegsminister Stimson und einigen anderen Politikern eher den Zweifel ausgelöst, ob man sich auf diese Weise nicht den barbarischen Methoden des Gegners angleiche, die man zuvor, etwa bei der Bombardierung Nankings durch Japan, immer wieder abgelehnt hatte. Kurz: der Einsatz der Bomben schien eine vollständige und zugleich schnelle Erreichung des Kriegszieles der «bedingungslosen Kapitulation» mit der vergleichsweise geringsten Zahl an Opfern zu gestatten.

II. Die Stellvertreter

Allerdings: Gab es keine Alternativen? Waren die skizzierten Kriegsziele wirklich die einzig bestimmenden? Ja, gegen wen (eine historisch nur auf den ersten Blick abstruse Frage) sind die beiden ersten Atombomben überhaupt eingesetzt worden? Die amerikanischen Beurteilungen der japanischen Kapitulationsbereitschaft ignorierten in der kritischen Phase vor den Bombenabwürfen eine wesentliche Information.

Am 13. Juli 1945, vier Tage vor Beginn der Potsdamer Konferenz, war es den Amerikanern gelungen, einen Notenwechsel zwischen dem japanischen Aussenminister Togo und dem Botschafter in Moskau, Sato, zu entschlüsseln, der die Möglichkeiten einer Friedensvermittlung durch die Russen zum Gegenstand hatte (die ihrerseits allerdings wegen des beabsichtigten Kriegseintritts und der damit verbundenen Annexionshoffnungen gar kein Interesse mehr an einem «vorzeitigen» Friedensschluss zeigten). Seitdem wusste man in den USA, dass es der «Herzenswunsch» des Kaisers war, den «Krieg rasch beendet zu sehen». Aus dieser Information ist keinerlei Konsequenz gezogen worden.

Die Bedingung der «bedingungslosen Kapitulation», die die Alliierten in ihrer Potsdamer Erklärung bekräftigt hatten, wurde in der Folge zum eigentlichen Friedenshindernis. Für alle monarchieloyalen Japaner, sowohl für die «Falken» wie auch für die «Tauben», war sie unakzeptabel, weil durch sie die Position des Tenno zumindest in Frage gestellt wurde. Die amerikanische Öffentlichkeit und die Kongressmehrheit hingegen waren in der Kapitulationsfrage eisenhart; gegenteilige Meinungen wurden schnell als die von «Verständigungspolitikern» diffamiert. Zwar war die «bedingungslose Kapitulation» im Aussen- und Kriegsministerium, aus der Kenntnis der japanischen Tradition und Psychologie heraus, nicht unumstritten; die ursprünglichen Konzeptionen für die Potsdamer Deklaration sahen denn auch zugleich mit der ultimativen Warnung vor der sofortigen und völligen Vernichtung einen Hinweis auf die mögliche Beibehaltung einer konstitutionellen Monarchie vor. Im endgültigen Text aber war, nachdem man schon die zunächst beabsichtigte Warnung vor der Bombe gestrichen hatte, von nichts dergleichen mehr die Rede. Das hinderte freilich nicht, dass in bezug auf die Rolle des Tenno bei der schliesslichen Annahme der japanischen Kapitulation ein Entgegenkommen bewiesen wurde, das nach der Einschätzung von Kriegsminister Stimson ein früheres Kriegsende ohne den Einsatz der Bomben gestattet hätte, wenn es beizeiten gezeigt worden wäre.

Das entscheidende Motiv dafür, den Krieg gegen Japan möglichst schnell mit atomaren Mitteln zu beenden, war indessen die Veränderung der Beziehungen zur UdSSR. War es zunächst die Absicht der amerikanischen Politik gewesen, Stalin unverzüglich zur Kriegserklärung gegen Japan zu bewegen, so vollzog sich hier nach Amtsantritt von Aussenminister Byrnes im Juli 1945 unter dem Eindruck der Konkurrenz auf dem «befriedeten» europäischen Kontinent und der künftig absehbaren Fronten ein vollständiger Gesinnungswechsel. Jetzt galt es, der Beteiligung der UdSSR am Sieg über Japan zuvorzukommen – ein Ziel, das mit dem russischen Kriegseintritt am 8. August nicht mehr ganz erreicht wurde – und der UdSSR, die nach – sehr divergierenden – amerikanischen Schätzungen bis zum Bau einer eigenen Bombe noch zwischen vier und zwanzig Jahren brauchte, zugleich ihre Grenzen zu zeigen.

Die Bombe ist daher aus Zeit- und Demonstrationsgründen ebenso als politisches Mittel gegen die UdSSR wie auch als militärische Waffe gegen Japan eingesetzt worden. Hunderttausende Japaner, Frauen, Kinder, Ungeborene, sind gleichsam auch als Stellvertreter, als Opfer einer «action indirecte», vernichtet worden.

Zu diesen politischen und militärischen Aspekten des «Manhattan»-Projektes kam schliesslich noch eine ökonomische, wenn man so will: «verantwortungsökonomische» Überlegung: man durfte doch nicht zwei Milliarden Dollar Steuergelder «umsonst» ausgegeben haben! Oppenheimer stellte noch 1964 fest: «Die Entscheidung (für den Einsatz) war ein wesentlicher Teil des Projektes. Ich weiss nicht, wie sie hätte aufgehalten werden können.» General Groves hielt es ohnehin «stets für seine Pflicht», den Abwurf «seiner» Bombe zu empfehlen.

Allerdings gab es auch Gegenstimmen. Vor allem im metallurgischen Laboratorium der Universität Chicago meldeten sie sich zu Wort. Der Überlegung des Institutsdirektors Arthur H. Compton, dass mit dem Einsatz der Bombe der Menschheit eine äusserst wirksame Warnung im Bkick auf etwaige künftige Kriege gegeben würde, hielt der Physiker Leo Szilard entgegen, gerade so werde ein Präzedenzfall für Wiederholungen geschaffen. Bei einer internen Umfrage sprachen sich insgesamt nur 15 Prozent der Wissenschafter für einen unmittelbaren nuklearen Einsatz aus. Und die Verfasser des «Frank-Reports» – sieben der führenden Chicagoer Physiker – forderten, es müsse zuvor wenigstens eine warnende Demonstration der Bombe veranstaltet werden. Die durch die Kernenergie entstandenen Möglichkeiten – die Ausübung politischen Drucks im Frieden, die plötzliche und totale Zerstörung ganzer Zivilisationen im Krieg – hätten nicht nur für die aktuell kriegführenden Mächte, sondern für die gesamte Menschheit eine gänzlich neue Situation geschaffen, in der «ein fliegender Start zu einem hemmungslosen Aufrüstungswettbewerb» drohe. Für die USA werde es künftig sehr schwierig werden, «die Welt davon zu überzeugen, dass man einer Nation, die eine neue Waffe insgeheim vorzubereiten und plötzlich anzuwenden in der Lage war, […] in ihrem Wunsch vertrauen solle, derartige Waffen aufgrund eines internationalen Abkommens abzu-schaffen».

Für Japan hätten die Empfehlungen des Franck-Reports gleichsam ein Urteil mit Bewährung bedeutet. Der Report ist aber nicht einmal an die zuständigen Stellen gelangt. Dafür nahm die verselbständigte militärische Maschinerie ihren Gang. Als – wahrscheinlich am 22. Juli in Potsdam – die politische Entscheidung für den Einsatz der Bombe unter Verzicht auf eine Vorwarnung fiel, waren die militärischen Operationen schon in vollem Gange. Der militärische Einsatzbefehl selber wurde einen Tag vor der ultimativen Kapitulationsaufforderung an Japan erlassen. Er sah den Einsatz der Bombe «und weiterer Bomben» nach blosser Massgabe ihrer Fertigstellung vor. Die politische Führung hätte zwar noch intervenieren können; ohne eine solche Intervention aber bestimmten die militärischen «Sachzwänge», was geschah.

Bei einer möglichen positiven Wendung hätten alle angelaufenen Operationen sistiert werden müssen; die Destruktion hingegen lief von selbst; bis zur Bombardierung von Nagasaki brauchte niemand mehr zu entscheiden und zu intervenieren. Gleichzeitig mit der Herstellung bisher unvorstellbarer Zerstörungskapazitäten wurde eine Organisationsstruktur gewählt, bei der eine humane Entscheidung nur noch «gestört» hätte. Dass eine ernsthafte politische und moralische Diskussion der schlechthin neuen atomaren Situation erst nach der Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki einsetzte, zeigt eine «Verspätung» des «antiquierten Menschen» gegenüber seinem avancierten destruktiven Potential, die eine Katastrophe zugleich möglich macht und dem Gewissen entzieht.

III. «Im Namen der Mutter»

Die Geschichte der militärischen Operationen selber illustriert diese «Verspätung» auf schlimme Weise. Bei den Bezeichnungen der Bombe war man zunächst bemüht, das Monströse, von dem man immerhin gelegentlich sprach («the beast»), auf einen unverfänglichen, sachlichen Begriff zu bringen: «S-1», «the thing», «the gadget» oder einfach «it». Im übrigen speiste sich das nukleare Vokabular aus den Quellen des Gemüts und eines – objektiv zynischen – Humors. Die Plutonium-Bombe aus Hanford, die in Alamogordo getestet wurde, trug mit einem Gruss an den Alliierten Winston Churchill den gutmütig-freundlichen Namen «fat man»; die Uranium-Bombe aus Oak Ridge hiess «little boy», und dieser «kleine Junge» meldete sich auch im weiteren zu Wort. Während die auserwählten B-29-Bomber sonst den Namen eines Flugzeugführers («Bock’s Car»), eines Poker-Blattes («Straight Flush») oder einer Künstlerfigur («Great Artist») trugen, wählte der Kommandeur der 509. gemischten Einsatzgruppe, der Oberst und spätere General Tibbets – dem Typus nach ein «harter Bursche» und unerbittlicher Perfektionist mit viel Sinn für «brutale Standards» –, der sich selber unter Umgehung des angestammten Bomberkommandanten das Kommando über den Flug und damit das Recht der Maschinentaufe vorbehalten hatte, eine liebevollere Bezeichnung. Er nannte die Maschine «Enola Gay» – nach dem Namen seiner Mutter. Ihr Bomben-Schoss sollte einen zweiten «little boy» gebären, auf dass der erste, nur militärisch erwachsen geworden, sie ehre, indem er sie zur Mutter des Verderbens machte.

Auch sonst fehlte es der Zerstörungsgeschichte von Hiroshima und Nagasaki nicht an Monstrositäten. Der erste Atombombentest in der Wüste bei Alamogordo wurde auf den Namen «Trinity», «Heilige Dreifaltigkeit» getauft – so wie in unseren Tagen ein dezidiert christlicher amerikanischer Präsident ein Atom-U-Boot auf den Namen der texanischen Stadt «Corpus Christi» taufen konnte. «Trinity» ist heute zur nationalen Gedenkstätte avanciert.

Vor dem Start der Bomber auf der Marianen-Insel Trinian fanden Gebetsgottesdienste statt, in denen der Militärgeistliche William B. Downey dem «Ewigen und Allmächtigen Gott», dem «Vater aller Gnade», der hier nach der Mutter Enola Gay und dem kleinen Sohn zu Ehren kam, alle diejenigen empfahl, die ihn liebten und das Verderben zu seinen und ihren Feinden brachen. Vater, Mutter, Sohn: in dieser Trinität war nun wirklich die ganze Heilige Familie beisammen.

Gebete dieser Art konnten zwar nicht verhindern, dass der Atombomben-Transporter «Indianapolis», der auf der Herfahrt knapp einem japanischen U-Boot entronnen war, auf der Rückfahrt mit Mann und Maus eben demselben U-Boot zum Opfer fiel. Ebensowenig war den kriegsgefangenen Amerikanern zu helfen, die wider Erwarten doch in Hiroshima und Nagasaki untergebracht waren und von ihren eigenen Kameraden getötet wurden. Schliesslich wurden den Bomberbesatzungen ungeachtet aller Gebote für den Fall aller Fälle Zyankalikapseln mitgegeben. Doch sie benötigten dergleichen nicht. Denn, wie Captain Parsons hinterher feststellte, die Amerikaner hatten «das grösstmögliche Glück», und die Japaner, die den «Vater aller Gnade» offenkundig nicht liebten und deswegen von ihm auch nicht geliebt wurden, «das grösstmögliche Pech».

Gewiss, da war Kyoto, Millionenstadt und einzigartiges Kulturzentrum, auf Betreiben der «Taube» Stimson gegen den Widerstand der Militärs von der Zielliste gestrichen worden. Stimson war vor dem Krieg einmal als begeisterter Tourist in Kyoto gewesen – schlimm fürwahr sich auszudenken, er hätte seinerzeit keine Reiselust gehabt. Und auch Kokura, vor Niigata Nummer zwei unter den Zielen, ist trotz dreimaligem Anflug dank widrigen Wetterverhältnissen gerettet worden. Dafür fiel Hiroshima, das sich bis dahin für eine glückliche Stadt gehalten hatte, weil es um der besseren Beobachtungsmöglichkeiten der Bombenwirkung willen bisher nicht angegriffen worden war, ohne jede Vorwarnung gleich dem ersten Anflug zum Opfer; «Mr. B.», wie die Bewohner die alltäglich zur Gewöhnung über ihrer Stadt auftauchende B-29 fast freundlich genannt hatten, rechtfertigte ihr Vertrauen nicht. Und Nagasaki wurde von «Bock’s Car» trotz weniger idealen Bedingungen schliesslich bombardiert, weil das Flugzeug nach den drei vergeblichen Anflügen auf Kokura dringend Gewichtsentlastung brauchte und man an die defekte Zuleitung des Reservetanks herankommen musste, die nur nach Abwurf der Bombe zugänglich war. Es war «nur» Ersatzziel – der Stellvertreter in einer insgesamt stellvertretenden Exekution.

Hier, bei der Rettung von Kokura und der Zerstörung von Nagasaki, spielte eine planungswidrige Verkettung von Umständen eine makabre Rolle; im übrigen, zumal bei der Vernichtung von Hiroshima, lief alles planmässig, ja manövermässig: Es war «der langweiligste Flug, den man sich denken konnte» (Tibbets). Spannend war es eigentlich nur beim Start gewesen, als es darum ging, die überschwere, hochschwangere «Enola Gay» hochzubringen und an Bord die Bombe scharf zu machen, auf dass sie todbringend «lebte», wie Captain Lewis es formulierte. Danach waren die Bedingungen so «gut», das «geradezu vollkommene Ziel» (Funker Abe Spitzer), das allerdings schon vorher aus der Luft einer entstellten Hand mit sechs Fingern glich, so ungeschützt, dass die Maschine auf die automatische Steuerung umgestellt werden konnte. Mit anderen Worten: das «Ding» wurde von einem Ding «abgeliefert» (Captain Lewis), auch wenn dabei noch Menschen beteiligt und betroffen waren.

Die Reaktionen der «Täter», denen die Auszeichnung der Wahl zuteil geworden war, unter denen aber nur Oberst Tibbets und der Waffenkonstrukteur Parsons eine ungefähre Ahnung von der Wirkung der Bombe hatten (die anderen kannten noch auf den anschliessenden Pressekonferenzen das Wort «Atombombe» nicht), kann man für sich sprechen lassen. Es gab zwar einige Regungen schlechten Gewissens in bezug «auf die armen Schweine da unten», auf die «bedauerlichen Zivilisten», die bei der nun einmal rücksichtslosen «modernen Kriegführung» auf der Strecke geblieben waren; und der sonst so «hoffnungsvolle» Copilot Lewis von der «happy and puzzled crew» fragte sich erschüttert in seinem Logbuch: «Mein Gott! Was haben wir getan!» Das hinderte diesen «Phantomkrieger aus dem 25. Jahrhundert» allerdings nicht, die hinterbliebenen «Japs» aufzufordern, ihm die Mühe der weiteren Berichterstattung abzunehmen, noch auch daran, sein Logbuch nach dem Krieg meistbietend versteigern zu lassen. Funker Abe Spitzer wiederum fühlte sich «eigentlich richtig selbstzufrieden», weil man den spöttelnden Kollegen auf Tinian bewiesen hatte, dass die «glory boys» und ihre Bombe doch kein «gimmick», kein «fauler Zauber» war. Und als Major Ferebee unter dem vereinbarten Codewort «Judge» («Richter») dem Hauptquartier, dem er die Vorbereitung weiterer Aktionen empfahl, versehentlich nur einen «guten», keinen «ausgezeichneten» Erfolg der Urteilsexekution meldete, da zog der Kommandant Tibbets ihn auf: «Was willst du für dein Geld eigentlich noch mehr sehen?»

IV. «It’s a pleasure»

Als diese Show vorüber war, fing eine andere an. Nach der Heimkehr wurden die «Helden von Hiroshima» für ihre «ausgezeichnete Arbeit» hochdekoriert, auf die sie und alle Amerikaner «stolz sein konnten». Im Anschluss daran gab es ein Festessen – und einen Technicolor-Film mit Sonja Henie in der Hauptrolle, Titel: «It’s a pleasure». An Bord der «Augusta» wiederum, auf der Truman von Potsdam heimkehrte, verbrachte man den Morgen in der Sonne und hörte sich ein Konzert der Schiffskapelle an, bis der «tiefbewegte» Präsident nach dem Erhalt der Vollzugsmeldung erklären konnte: «Das ist das grösste Ereignis der Geschichte.» Und damit diese Geschichte ihr «grösstes Ereignis» gleich zweimal feiern konnte, wurde drei Tage später bei Nagasaki ohne Verzug die Wiederholungstat begangen, wie sie von Leo Szilard nach dem Präzedenzfall befürchtet worden war. Die Welt ist also nach ihrem ersten atomaren Sündenfall keineswegs zum Stand der Unschuld zurückgekehrt, wie man im Sog des Kriegsendes nur zu gerne geglaubt hätte. Die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki, dieses allzu kurze «und» bedeutete vielmehr das Gegenteil.

Über die verstümmelten, verbrannten Opfer von Hiro-shima und Nagasaki, die ohne nennenswerte medizinische Versorgung starben, über die Überlebenden, von denen sich im Gegensatz zu «konventionellen» Bombengeschädigten keiner jemals seines Lebens sicher sein konnte, ist bald danach für fünf Jahre der eiserne Vorhang einer undurchlässigen Zensur niedergegangen. Das «Armeespital zum Studium und zur Behandlung der Atomkrankheiten» wurde von amerikanischen Spezialeinheiten geschlossen. Truman, der Gott dafür dankte, dass amerikanische und nicht feindliche Schultern die Last der atomaren Verantwortung zu tragen gehabt hatten, stand mit seinen Militärs ungebrochen zu dem Einsatzbefehl. Nur drei Monate nach Kriegsende wurden neue Bomben für neue Tests vorbereitet, die dann in der «Operation Crossroads» über dem Bikini-Atoll ihren Verlauf nahmen, während die Ärzte noch nicht einmal die seltsamen medizinischen Begleiterscheinungen zu deuten wussten. «Himmelslicht» war der Funkname des Testflugzeugs, das wie alle anderen B-29 der 509. gemischten Einsatzgruppe inzwischen zwei einschlagende Blitze und einen Atompilz als Einheitszeichen trug: die Ästhetik des Schrecklichen liebt es, die Phänomene zu zeigen und die Opfer zu vergessen. Und die Täter?

Oberst Tibbets vermerkte über einen Bummel durch das zerstörte Nagasaki, der den Fliegern als Belohnung zugedacht war: «Ich machte ein paar Einkäufe, Reisschalen, ein paar handgeschnitzte Sachen, wie ein typischer Tourist.» Noch 1976 simulierte er auf einer Luftfahrtschau mit einer restaurierten B-29 naturgetreu einen Atombombenabwurf – mit dem Zusatz, dass er bei einer Wasserstoffbombe genauso zum Abwurf bereit wäre. Und mit diesem unverwüstlich guten Gewissen stand und steht Tibbets keineswegs allein. Die höheren Chargen der Truppe konkurrieren noch heute um die Ehre, wem der grösste Anteil am Erfolg ihrer Operation gutzuschreiben sei. Die anderen, die allen Skrupeln damit begegneten, dass sie nur Glieder einer Kette gewesen seien, dass Job Job und Befehl Befehl sei und ohnehin kein qualitativer Unterschied zwischen einer sozusagen «normalen» und einer atomaren Vernichtungsaktion bestehe – sie feierten regelmässig bei Wiener Walzermusik und gutem Essen in Begleitung ihrer Frauen das Jubiläum der «Stunde Null» des Atomkriegszeitalters.

Nur drei Beteiligte haben andere Konsequenzen gezogen: der englische Captain Leonhard Cheshire, der als alliierter Beobachter im Kameraflugzeug bei der Vernichtung Nagasakis zugegen war und nach seiner Entlassung aus der Air Force wegen «seelischer Gestörtheit» als Laienbruder und Sozialpfleger gearbeitet hat; dann einer der beteiligten Funker, der sich nach nicht weiter spezifizierten Pressemeldungen am 40. Jahrestag der Zerstörung Hiroshimas selber getötet hat; schliesslich Major Claude R. Eatherly. Er war der Kommandant des Wetterflugzeugs, der der «Enola Gay» das «go ahead»-Zeichen gab. Er war also nicht der «Hiroshima-Pilot», als der er bekannt geworden ist. Der Briefwechsel zwischen ihm und dem eingangs erwähnten Philosophen Günther Anders, in zahlreiche Sprachen übersetzt, wurde mit diesem Untertitel publiziert. Das verfehlte gerade das Spezifische hocharbeitsteiliger technischer Destruktionsprozesse, die keine alleinverantwortlichen Einzeltäter mehr kennen.

Auch Eatherlys Motive, als er nach dem Krieg wiederholt kriminell wurde und mehrere Selbsttötungsversuche unternahm, sind umstritten. Versuchte hier ein reuiger Mittäter, der in der Öffentlichkeit als Held gefeiert wurde, sich auf diesem Wege indirekt selbst zu bestrafen, indem er sich mittels sozusagen «anerkannter» Delikte als der Schuldige zu zeigen versuchte, als der er sich empfand? Oder wollte Eatherly nur um jeden Preis die Aufmerksamkeit erregen, als er nach seiner Ausmusterung sonst nicht mehr fand? Günther Anders hat in Eatherly den Anti-Eichmann des Atomkriegszeitalters gesehen, der nach seiner «ersten Schuld» nicht auch noch die zweite des fatal guten Gewissens auf sich lud, vielmehr das von ihm Mitzuverantwortende gleichsam «einzuholen» versuchte. Die Gegenseite hat mit den Methoden einer für die Militärpsychiatrie in Dienst genommenen, trivialisierten Psychoanalyse in den von Eatherly bezeigten Schuldgefühlen wahnhaften Wirklichkeitsverlust, einen «Schuldkomplex», nicht just den obligaten «Ödipus»-, aber immerhin einen «Kainskomplex» entdeckt, wenn sie nicht gleich die kalkulierte Simulation unterstellte. Auch so kann eine Gesellschaft sich von ihren Traumata zu befreien versuchen.

Ludger Lütkehaus, geboren 1943, ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br.

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