Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Duell des Monats

Löst Putins Invasion eine Zeitenwende aus?

 

JA
Matthias Heitmann, zvg.

 

 

 

 

 

 

 

Die sicherheitspolitische Zeitenwende kommt überraschend, doch jetzt ist sie da. Für die Nato ist der Ukrainekrieg tatsächlich historisch; bis vor kurzem noch als hirntot bezeichnet, erscheint das Militärbündnis heute wichtiger als je zuvor. Selbst bislang zögerliche Mitgliedsstaaten wie Deutschland erhöhen ihre Militärbudgets nun sprunghaft.

Auch die Wirtschaftswelt erlebt eine Zeitenwende; einige reden hier sogar von einem Zeitenende für die Globalisierung. Denn für eine gewisse Zeit werden wichtige Handelsströme einen Bogen um Russland, den grössten Flächenstaat der Welt, machen.Die sicherheitspolitische Zeitenwende kommt überraschend, doch jetzt ist sie da. Für die Nato ist der Ukrainekrieg tatsächlich historisch; bis vor kurzem noch als hirntot bezeichnet, erscheint das Militärbündnis heute wichtiger als je zuvor. Selbst bislang zögerliche Mitgliedsstaaten wie Deutschland erhöhen ihre Militärbudgets nun sprunghaft.

Inwiefern der Krieg auch zu einer demokratischen Zeitenwende führt, bleibt noch abzuwarten. Denn dazu braucht es zuallererst Menschen, die unsere Demokratien für verteidigungswürdig erachten – höhere Armeeausgaben alleine reichen dafür nicht aus. Die Bewunderung für den ukrainischen Widerstandswillen rückt eine Frage in den Mittelpunkt: Sind westliche Gesellschaften zu ähnlicher Robustheit und Entschlossenheit in der Lage? Bis vor kurzem haben wir uns noch verbal die Köpfe darüber eingeschlagen, ob Frauen Penisse haben oder ob Verbrennungsmotoren per sofort verboten werden sollen. In den wütend-erhitzten Zeitgeistdebatten wimmelte es von mehr angeblichen «Nazis» (in den Farbtönen Klima-, ­Corona-, Gender- oder Fleisch-), als Putin in der Ukraine verortet.

Die ukrainische Gegenwehr führt uns vor Augen, wie wenig wir unsere Freiheit und Demokratie schätzen und in der Praxis leben. Es wird Zeit, den mentalen Lockdown unserer Tage zu überwinden. Meinungsverschiedenheiten sind in einer offenen Gesellschaft nicht die Vorstufe zum Bürgerkrieg, sondern die Energiequelle einer robusten und gelebten Demokratie. Wenn wir es wieder wagen, uns produktiv zu streiten, wird dieser Krieg auch im Westen eine echte Zeitenwende einläuten.

 

NEIN
Georges Bindschedler, zvg.

 

 

 

 

 

 

 

Die Kommentatoren überbieten sich in der Beurteilung des Kriegs in der Ukraine. Es wird von einem Paradigmenwechsel gesprochen und einer neuen Teilung der Welt in Ost und West. Doch das ist vorschnell. Die grossen Worte sind nur eine weitere Episode in der langen Reihe moralischer Empörungen und Überhöhungen. Aufrüstung und Bewaffnung gelten zwar als Gebot der Stunde. Sie sind aber nicht Folge eines neu erwachten Realismus, sondern werden moralisch begründet, mit dem Kampf gegen das Böse. Und böse ist alles, was unmoralisch scheint.

Typisch für diese moralische Haltung von Politik und Medien ist das Wechselspiel zwischen Inklusion und Exklusion. In der Pandemie etwa wurden die «Vulnerablen», die im Altersheim Eingesperrten, moralisch inkludiert, wenn auch zulasten der «bösen» exkludierten Skeptiker, die es wagten, Fragen zu stellen. Im Ukrainekrieg werden jetzt die Ukrainer inkludiert zulasten der exkludierten «bösen» Russen. Man denkt sogar daran, die Ukraine im Schnellzugstempo in die EU aufzunehmen.

Bedenklich ist, dass die Moral das Recht allmählich verdrängt. Die Pandemie rechtfertigte moralisch alles: Im Wochentakt wurden Massnahmen erlassen, die auf Behauptungen und nicht auf Begründungen fussten, also willkürlich waren. Im Ukrainekrieg überbieten sich Politiker und Medien mit Rufen nach Sanktionen und Enteignungen – ungeachtet dessen, ob sie juristisch zu rechtfertigen sind.

Die Rechtsstaatlichkeit sollte uns aber mehr wert sein, denn nur sie kann ein Leben in Frieden garantieren. Die Moral dagegen neigt zur Absolutheit, zu Exklusion und Willkür und legt die Grundlage für Zwistigkeiten; so ist auch der islamistische Terror moralisch begründet. Solange nicht Justitia mit der Waage in der Hand für Besonnenheit, Ausgewogenheit im Urteil und letztendlich Frieden sorgt, bleibt der politische Moralismus weiterhin vorherrschend. Von einer Zeitenwende kann nicht gesprochen werden.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!