Du sollst dir ein Bild machen
Bilder besetzen mehr und mehr unser Bewusstsein. Die kritische Distanz zu ihnen geht verloren. Die Bildtheoretikerin Marie-José Mondzain zeigt, wie durch den Verlust der Interpretationsvielfalt die Macht der Bilder zunimmt. Ihre Analysen, wie wir den kommerziellen Strategien von Werbung und Fernsehen entkommen können, wurden im deutschsprachigen Raum bisher ignoriert.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie in Zeiten der Globalisierung und der modernen Informationsgesellschaft wichtige Namen und tiefgründige Reflexionen den Sprung über die eigene Kultur und Sprache hinaus nicht schaffen. Dies trifft leider für Marie-José Mondzain zu, eine Philosophin und Kunsthistorikerin aus Paris, die sich vor allem durch Arbeiten in den Bereichen der byzantinischen Kultur, der Bildtheorie sowie der zeitgenössischen Kunst in Frankreich einen Namen gemacht hat.
Seit ein paar Jahren publiziert sie vor allem Untersuchungen zur Bildtheorie, die sich auch mit aktuellen politischen Fragen beschäftigen. Ihr Hauptwerk ist das 1996 erschienene «Image, icône, économie», in dem Marie-José Mondzain versucht, die byzantinischen Quellen unseres heutigen Bildverständnisses aufzuzeigen. Dabei geht es vor allem um das Verhältnis von Bildersturm (Ikonoklasmus) und gezielter Verbreitung religiöser Bilder (Ikonophilie). Ihr letztes Buch heisst «Le commerce des regards». Es handelt von der Bilderflut, die immer mehr und über alle möglichen Medien auf uns eindringt. In diesem Zusammenhang prägt Marie-José Mondzain den Begriff der «iconocratie», der Herrschaft, die Bilder auf Geist und Körper der Menschen ausüben. Diese Bilderherrschaft steht in einer langen Tradition, die sie in ihrem Buch darstellt.
Totalität durch Distanzverlust . . .
Gemäss Marie-José Mondzain ist paradoxerweise das Bild gerade durch die moderne Bilderflut vom Aussterben bedroht. Bis jetzt war es eingebettet in einen engen Bezug zur Sprache und zum Denken, was dem Betrachter Lebendigkeit und Freiheit im Umgang mit den Bildern verlieh. Dieser enge Bezug, der die Gewalt der Bilder in eine kritische Distanz zu bringen vermochte, wird durch das extreme Überhandnehmen der Bilderwelt in Frage gestellt. Dadurch entstehen immer mehr totalitäre Formen der Beherrschung durch Bilder.
Einem gängigen Pluralismus, der die Rede von dem Bild zurückweist und nur noch von Bildern im Plural sprechen möchte, setzt Marie-José Mondzain eine philosophische und historische Reflexion gegenüber, die die Art und Weise untersucht, wie ein Bild auf einen Betrachter einwirkt und welches die möglichen Strategien sind, um dessen Denken und Fühlen zu beeinflussen. Das, was ein Bild ausmacht, lokalisiert sie dabei in der Absicht, die ein Bild mehr oder weniger deutlich verrät und die darin besteht, eine allen Betrachtern gemeinsame Art des Sehen zu konstruieren, um dadurch auch die einzelnen Individuen zu erreichen.
Sehen wir Bilder, sei es am Fernsehen, im Kino oder in der Werbung, so werden wir Teil von Strategien, die versuchen, uns, mit Hilfe unserer leidenschaftlichen Beteiligung, in der Bildbetrachtung jeweils von etwas Bestimmtem zu überzeugen. «Faire croire, c’est faire voir.» Überzeugungsarbeit läuft oft über das Sichtbarmachen dessen, was geglaubt werden soll. Dabei ist es gerade das lapidare Vorzeigen, das den Betrachter täuschen und blenden kann. Dieser Konstruktion eines gemeinsamen Blicks liegt jeweils eine genaue Analyse der Sehgewohnheiten sowie der körperlichen Reaktionen auf Gesehenes zugrunde. In diesem Sinne ist auch der Titel des Buches «Le commerce des regards» zu verstehen. Es ist damit nicht nur die öffentliche Versammlung von Blicken gemeint, sondern auch die beinahe monetäre Prägung der Bilderwelt, die eine an beliebig vielen Orten beliebig oft anwendbare Symbolik erhält, die sich auch im engeren Sinn «kommerziell» auszuzahlen scheint.
. . . und Vergessen
Aber was heisst es, sich zu versammeln, um gemeinsam etwas zu betrachten? Was für eine Rolle spielt dabei der sprachliche Ausdruck dessen, was man sieht? Wie baut sich eine politische Gemeinschaft auf diesem «commerce», dem öffentlichen Aufeinandertreffen der Blicke und der Gespräche über das Gesehene auf? Was für ein Platz wird dabei dem Zuschauer als mündigem Denk- und Redesubjekt zugesprochen? Kann der durch die Bilder emotional berührte Zuschauer seine kritische Urteilsfähigkeit noch entfalten? Denn die Leidenschaftlichkeit in der Betrachtung von Bildern ist eng verbunden mit der beinahe körperlich-materiellen Präsenz, mit der sich Bilder uns zeigen. Dabei stellt sich die Frage, wie in einer von den modernen Medien dominierten Gesellschaft die Freiheit des einzelnen Betrachters noch gewährleistet ist.
Das Bild zeichnet sich für Marie-José Mondzain vor allem durch seine zeichenhafte Distanz zu etwas aus, was es selber nicht ist. Es hat die Eigenart, sich einerseits durch seine räumliche Begrenzung, seinen Rahmen, von der Umgebung zu unterscheiden und andererseits in eine Differenz zu sich selbst zu treten. In seiner Zeichenhaftigkeit geht es im bloss sinnlichen Vorhandensein nicht auf. Diese äussere und innere Differenz produziert denn auch die Vielfalt möglicher Bildinterpretationen. Zudem verfügt das Bild immer auch über einen Bildträger, sei es Papier, eine Leinwand, einen Bildschirm. Insofern trägt es trotz seiner materiellen Präsenz eine ihm immanente Absenz an sich, welche es dem Betrachter erst ermöglicht, dem Bild kritisch gegenüberzutreten. Gemäss Mondzain ist es die Absicht totalitärer Bilder, diese innere Differenz und Absenz vergessen zu machen und im Bild eine substantielle Geschlossenheit vorzutäuschen, die den Betrachter in dem Masse blendet, als er die Identifikation mit dem sich im Bild Aufdrängenden als einzig mögliche Sinngebung wahrnimmt. Die totalitären Bilder sagen dem Betrachter, was er in ihnen zu sehen hat. Und da er von ihrer scheinbaren Konsistenz im Moment der Betrachtung geblendet wird, liegt es in der Absicht dieser Bilder und ihrer Hersteller, die kritische Dimension der Erinnerung auszuschalten und das Vergessen möglichst stark zu fördern. Dies ist denn auch der Hauptzweck der modernen Bilderflut. Der kritische Betrachter soll mitsamt seinem Urteilsvermögen in ihr sprichwörtlich ertränkt werden
Damit wir Bildern unbefangen gegenübertreten können, dürfen diese nicht nur eine einzige Interpretation zulassen. In diesem Zusammenhang gewinnt das Märchenmotiv von des «Kaisers neuen Kleidern» zentrale Bedeutung. Marie-José Mondzain widmet ihm ein Kapitel, in dem sie an die Unbefangenheit und den Mut des Kindes erinnert, das nicht auf Täuschungen hereinfällt und mit seiner Bemerkung «Der Kaiser ist ja nackt» den trügerischen Bann bricht. Wie sagt doch Jean-Luc Godard? «Wer Angst hat, seinen Platz zu verlieren, vermag nichts zu sehen.» Das kritische Urteilsvermögen ist das eine und der Mut, den trügerischen Bann von Bildern durch einen öffentlichen Diskurs zu durchbrechen, das andere. Beide zusammen sind entscheidend für das Überleben einer demokratischen Gesellschaftsordnung.
Es wäre jedoch weit verfehlt, würde man «Le commerce des regards» auf diese bildkritischen Dimensionen reduzieren. Man findet darin ebenfalls faszinierende Untersuchungen zur Entstehung und der Bedeutung des Bilderverbots im Alten Testament. In diesem Zusammenhang geht Marie-José Mondzain auch der Frage nach, wieso das Christentum das jüdische Bilderverbot aufhob. Zudem diskutiert sie in überzeugender Weise zentrale Fragen der christlichen Bildtheorie, so etwa diejenige der Anwesenheit des Leibes Christi in der Eucharistie sowie der Differenz von Leib und Körper («chair» und «corps») innerhalb der christlichen Theologie. Weiter findet man in «Le commerce des regards» völlig neue Erklärungsansätze für das Verhältnis von griechischem Theater (Pathos) zur christlichen Darstellung des Leidens (Passio). Dabei arbeitet die Autorin in einer genauen Analyse der aristotelischen Poetik ein neues Verständnis des Begriffs der Katharsis heraus, der von den Kirchenvätern in kritischer Weise übernommen, verändert und in die christliche Bildtheorie eingebaut wurde.
Abschliessend lässt sich sagen, dass bei Marie-José Mondzain auf eindrückliche Art präzise theologische und philosophische Kenntnisse mit einem starken Interesse an aktuellen Fragen der Bildtheorie zusammenfallen. Dies eröffnet dem Leser Durchblicke in die geschichtliche Tiefe, die der modernen Bildtheorie oft fehlen.
Marie-José Mondzain, «Image, icône, économie». Paris: Seuil, 1996.
Marie-José Mondzain, «L’image peut-elle tuer?» Paris: Bayard, 2002.
Marie-José Mondzain, «Le commerce des regards». Paris: Seuil, 2003.
Marie-José Mondzain (Hrsg.), «Voir ensemble, autour de Jean-Toussaint Desanti». Paris: Gallimard, 2004.