Drei Säulen sind nicht (mehr) genug
Eine neue Sozialversicherung für die Langzeitpflege würde die Eigenverantwortung und die Generationengerechtigkeit stärken.
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Die Welt hat sich seit dem Inkrafttreten der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 1948 und der Einführung der drei Säulen vor 50 Jahren stark verändert. Eine der bemerkenswertesten Errungenschaften der letzten Jahrzehnte ist die gestiegene Lebenserwartung. 1948 konnten die Schweizerinnen und Schweizer im Schnitt damit rechnen, 67 Jahre alt zu werden – bloss zwei Jahre mehr als das gesetzliche Rentenalter.
Heute werden immer mehr Menschen älter als 65 Jahre. Die Lebenserwartung ist bis 2022 auf 83 Jahre gestiegen, das sind 24 Prozent mehr als 1948. Noch auffälliger ist die Entwicklung der Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren. Sie stieg um 63 Prozent – von 13 Jahren im Jahr 1948 auf 21 Jahre 2022. Das Alter ist kein Privileg mehr, sondern ein Massenphänomen.
Das dritte Lebensalter ist eine Neuheit
Der Ruhestand ist zum Symbol für eine Zeit der Ruhe und Gelassenheit geworden, aber auch für freie Zeit, um Reisepläne zu verwirklichen, sich ehrenamtlich für die Allgemeinheit zu engagieren oder sich um die Enkel zu kümmern. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts wird dieses idyllische Bild des Alters durch ein Marketing gestützt, das häufig lächelnde Rentner auf ihren Elektrovelos vor einer sonnigen Tessiner Landschaft abbildet, um die Gunst der zahlreichen Babyboomer zu gewinnen.
Aber den Ruhestand nur mit jungen Rentnern im Vollbesitz ihrer Kräfte zu illustrieren, ist genauso irreführend, wie wenn man die arbeitende Bevölkerung nur mit jungen Sportlern unter dreissig Jahren darstellt. Der Ruhestand hat viele Facetten, darunter das vierte Lebensalter, in dem uns die (körperlichen und geistigen) Kräfte allmählich verlassen.
Dieses vierte Lebensalter wird oft als etwas Neues dargestellt. Tatsächlich sind Familien, in denen vier Generationen nebeneinander existieren, nichts Ungewöhnliches mehr. Auch die «Demokratisierung» des hohen Alters ist eine Errungenschaft des 21. Jahrhunderts; immer mehr Menschen, auch aus den unteren Schichten, werden älter als 90 oder sogar 100 Jahre.
Das, was das vierte Lebensalter ausmacht, ist aber nichts Neues. Den körperlichen und geistigen Verfall, die immer stärkere Abhängigkeit von anderen (Angehörigen oder Pflegepersonal) hat es schon immer gegeben. Der aktive Ruhestand hat die Zerbrechlichkeit des Alters nicht beseitigt, sondern nur aufgeschoben. Die wirkliche Neuheit des 21. Jahrhunderts besteht in der Zwischenstufe des dritten Alters: junge, gesunde, aktive, oft finanziell gut situierte und gesunde Rentner.
Neue Bedürfnisse
Das Aufkommen dieser Gruppe schafft neue Bedürfnisse – und neue Herausforderungen. Aktive Rentner möchten diese Zeit ihres Lebens für Projekte nutzen, die Kaufkraft erfordern. Das Geld für das Alter soll nicht mehr «nur» die Bedürfnisse decken, die mit dem hohen Alter verbunden sind (Bedürftigkeit), sondern die notwendigen Mittel bereitstellen, um aufgeschobene Projekte in Angriff zu nehmen und die gewonnene Freizeit voll auszunutzen.
Darüber hinaus wird die Langzeitpflege älterer Menschen mit der Alterung der Bevölkerung in den kommenden Jahren eine immer wichtigere Rolle im Gesundheitssektor einnehmen. Die zahlreichen Kohorten von Babyboomern, die heute in den Ruhestand gehen, werden in 20 Jahren etwa 85 Jahre alt sein. Viele von ihnen werden gebrechlich oder auf professionelle Pflege angewiesen sein. Nach Schätzungen des Bundesamts für Statistik wird sich die Zahl der 85-Jährigen zwischen 2025 und 2045 fast verdoppeln. Der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der in der Schweiz für die Langzeitpflege aufgewendet wird, wird von 1,6 Prozent im Jahr 2013 auf geschätzte 3,4 Prozent 2045 steigen.
Duale Finanzierung auch im Gesundheitswesen
Das Dreisäulensystem war nicht darauf ausgelegt, die Langzeitpflege im vierten Lebensalter zu finanzieren, weder die Pflege zu Hause noch die Alters- und Pflegeheime. Derzeit liegen diese Kosten hauptsächlich bei den Krankenkassen (57 Prozent der Kosten) und den Kantonen (37 Prozent). Hinzu kommen 1,7 Milliarden Franken an Ergänzungsleistungen für Heimbewohner. Die Krankenkassenprämien und Steuern werden hauptsächlich von der arbeitenden Bevölkerung getragen. Im Jahr 2022 wurden 63 Prozent der Krankenkassenprämien von Personen zwischen 26 und 65 Jahren getragen, die ihrerseits nur 45 Prozent der Leistungen erhielten. Derweil wurden 73 Prozent der Einkommens- und Vermögenssteuern im Kanton Zürich von der erwerbstätigen Bevölkerung bezahlt.1
Um die jüngeren Generationen zu entlasten, braucht es eine neue Lösung, die stärker auf private Vorsorge setzt. Wir sollten uns an der dualen Finanzierung orientieren, die in der Altersvorsorge gilt, und sie auf die Pflege älterer Menschen übertragen. Die Kosten für die Akutversorgung (zum Beispiel Behandlungen in Arztpraxen oder Spitälern) würden wie bisher von der Krankenversicherung übernommen und damit umlagefinanziert. Im Kontext einer umfassenden Altersvorsorge kann man dies die vierte Säule nennen.
Die Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen oder zu Hause würde hingegen durch eine neue «fünfte Säule» der Finanzierung abgedeckt werden. Diese würde nach einem Kapitaldeckungsverfahren funktionieren, das der beruflichen Vorsorge ähnelt.
Diese Säule hätte die Form eines individuellen Pflegekapitals. Die Versicherten würden ab einem bestimmten Alter (zum Beispiel 55 Jahre) einen Pro-Kopf-Beitrag (beispielsweise zwischen 100 und 250 Franken pro Monat) auf ein Sperrkonto einzahlen. Dieses Geld würde für die Bezahlung der Langzeitpflege verwendet werden. Das zum Zeitpunkt des Todes nicht verbrauchte Sparguthaben würde auf die Erben übergehen. Damit würde das Schweizer Vorsorgesystem zu einem Fünfsäulenmodell.
Risiko diversifizieren
Die Einführung einer dualen Finanzierung der Langzeitpflege hätte drei Hauptvorteile. Erstens würden über das Pflegekapital hauptsächlich die Senioren zu ihrer eigenen Pflege beitragen. Dies würde die Generationengerechtigkeit stärken, da die Belastung der aktiven Bevölkerung verringert würde.
Zweitens würde eine kapitalgedeckte fünfte Säule eine ähnliche Risikodiversifizierung wie in der Altersvorsorge ermöglichen. Die umlagefinanzierte erste und vierte Säule beruhen auf einem lokalen demografischen Risiko. Sie sind abhängig vom Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Rentnern sowie von der Konjunktur in der Schweiz. Die kapitalgedeckte zweite, dritte und fünfte Säule hingegen beinhalten ein internationales finanzielles Risiko, da die Guthaben auf den internationalen Finanzmärkten angelegt werden können. Die Risikodiversifikation stärkt die Widerstandsfähigkeit des Systems. Sie verleiht ihm die Fähigkeit, sich an neue demografische und soziale Realitäten anzupassen.
Drittens: Die grundlegende Bedeutung des Kapitaldeckungsverfahrens für das Vorsorgesystem räumt der individuellen Verantwortung eine wichtige Rolle ein. Diejenigen, die am meisten in das System einzahlen, profitieren auch am meisten davon. Das Modell belohnt also Arbeit und fördert das Sparen. Durch die kapitalgedeckte Finanzierung sind die Beitragszahler auch Aktionäre. Sie sind also am Wirtschaftswachstum beteiligt und ernten dessen Früchte.
Ein Fünfsäulensystem ist mit einer liberalen Gesellschaft vereinbar, die auf einer sozialen Marktwirtschaft basiert, in der sich Leistung lohnt und jeder Verantwortung übernimmt.
Josef Perrez: Altersstruktur und Steuerertrag. Statistisches Amt des Kantons Zürich, 2012. ↩