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Doping für die Staatsfinanzen

Die hohe Zuwanderung hat Bund, Kantonen und Gemeinden in den letzten 20 Jahren Rekordeinnahmen beschert. Die Kosten kommen erst mit Verzögerung.

Doping für die Staatsfinanzen
Zürich, im Juni 2024: Menschen baden in der Letten-Badi in der Limmat. Bild: Keystone/Michael Buholzer.

An der diesjährigen Tour de France purzelten die Rekorde. Der Gesamtsieger Tadej Pogačar benötigte für den 16 Kilometer langen Aufstieg zum Plateau de Beille nur gerade 39 Minuten und 50 Sekunden. Es war die beste je im Radsport erzielte «Kletterleistung». Wenn jemand die bisherige Bestzeit um fast 10 Prozent unterbietet, kommt im Spitzensport – zu Recht oder zu Unrecht – schnell die Frage auf, ob leistungssteigernde Substanzen im Spiel waren.

Auch Bund, Kantone und Gemeinden haben in den letzten 20 Jahren rekordverdächtige Ergebnisse erzielt. Während in vielen europäischen Ländern die Staatsschulden unaufhaltsam anstiegen, sank die Verschuldung des Bundes seit 2002 von 25 auf 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Kantone schrieben im gleichen Zeitraum einen kumulierten Überschuss von mehr als 5 Milliarden Franken.

Diese erfreulichen Ergebnisse haben selbstredend viele ­Ursachen – die gute konjunkturelle Entwicklung, strukturelle Reformen um die Jahrtausendwende, die Einführung der Schuldenbremse. Doch auch die hohe Zuwanderung in den letzten 20 Jahren hat das Ihre zu den guten Abschlüssen beigetragen. Professor Reiner Eichenberger von der Universität Freiburg prägte dafür den Begriff vom «Zuwanderungsdoping». Denn: Während strukturelle Reformen den Staat dauerhaft fitter machen, führt hohe Zuwanderung nur in den Anfangsjahren zu hohen Zusatzeinnahmen für den Staat. Sobald Zuwanderer ihrerseits vermehrt das Rentenalter erreichen, schwächt sich der fiskalische Effekt ab. Doch beginnen wir von vorn.

Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 zog es jährlich netto 60 000 Menschen in die Schweiz, was der Einwohnerzahl von Lugano entspricht. Zuwanderung ist für die Schweiz zwar kein neues Phänomen, doch das anhaltend hohe Ausmass der Zuwanderung seit 2002 war auch für Schweizer Verhältnisse aussergewöhnlich.

320 Milliarden zusätzlich

Die Zuwanderung hat einen Verjüngungseffekt: Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Zuwanderung beträgt 30 Jahre, während die einheimische Bevölkerung derzeit im Schnitt 42 Jahre alt ist. In der Altersklasse der 30- bis 39-Jährigen haben bereits 39 Prozent der Bevölkerung einen ausländischen Pass. Durch die hohe Zuwanderung hat die Schweiz aktuell eine deutlich jüngere Bevölkerung als ihre Nachbarländer. Auf 100 Personen im Erwerbsalter kommen in der Schweiz derzeit «erst» 31 Rentner. In Deutschland sind es 37, in Frankreich 38 und in Italien gar 41. 1

Für die Staatsfinanzen ist das Alter bei der Zuwanderung entscheidend: Personen im Erwerbsalter beziehen deutlich weniger staatliche Unterstützung als Kinder oder Pensionäre und bezahlen gleichzeitig mehr Steuern und Abgaben (siehe Abbildung 1). Gemäss einer Studie im Auftrag des Bundes bezahlt die Durchschnittsperson zwischen 30 und 64 Jahren jährlich 17 500 Franken mehr an Steuern und Abgaben, als sie staatliche Leistungen bezieht. Basierend auf dieser Zahl lässt sich schätzen, dass die Zuwanderung der Staatskasse zwischen 2002 und 2024 Zusatzeinnahmen von netto insgesamt 320 Milliarden Franken bescherte. Dies entspricht durchschnittlich 6 Prozent des gesamten Staatsbudgets in diesen Jahren.

Welche Folgen der Geldsegen hatte, lässt sich exemplarisch am Beispiel der AHV zeigen. Das Umlageergebnis der AHV war in den letzten Jahren stets besser als prognostiziert. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass die Prognosen das Ausmass der Zuwanderung unterschätzten. Der Gewerkschaftsbund nutzte diesen Umstand, um zu betonen, dass für eine 13. AHV-Rente genug Geld vorhanden sei und der Bund in seinen Prognosen Schwarzmalerei betreibe. Während viele westliche Länder wegen der bereits weiter fortgeschrittenen Alterung über Kürzungen bei der Altersvorsorge nachdenken, votieren die Schweizer für einen Ausbau.

Auch in anderen Bereichen gibt es Zweifel, ob der Geldsegen sinnvoll genutzt worden sei. Bei steigender Bevölkerung würde theoretisch Raum bestehen für Skalenerträge. Die Kosten für die Armee, die öffentliche Verwaltung oder für die Grundlagenforschung können beispielsweise auf mehr Steuerzahler verteilt werden. Der Blick auf die Staatsquote zeigt aber, dass diese seit 2000 konstant geblieben oder sogar leicht angestiegen ist. Der Anteil der Beschäftigten, die beim Staat oder bei staats­nahen Betrieben arbeiten 2, stieg gar von 17,7 auf 23,0 Prozent. 3 Die Zahlen scheinen das Wagner’sche Gesetz zu bestätigen, ­wonach die Staatsausgaben überproportional zum Brutto­sozialprodukt wachsen. Einmal eingenommene Steuern werden ausgegeben.

«Die Zuwanderung bescherte der Staatskasse zwischen 2002 und
2024 Zusatzeinnahmen von netto insgesamt 320 Milliarden Franken.»

Nachhaltig ist anders

Für die Zukunft sind wir mit zwei Problemen konfrontiert. Erstens: Weil das Ausmass der Zuwanderung unterschätzt wurde, hinkt der Staat beim Ausbau der öffentlichen Infrastruktur in gewissen Bereichen hinterher. In der Stadt Zürich – Zielort von 10 Prozent aller Zuwanderer in die Schweiz – wurde der Bedarf an zusätzlichen Schulhäusern unterschätzt. Allein in den letzten drei Jahren gab es sieben Abstimmungen über einen Neu- oder Ausbau von Schulhäusern, wovon jedes über 80 Millionen Franken kostete. Natürlich erhöht nicht nur die Zuwanderung den Bedarf an Schulraum – auch die Einführung von flächendeckenden Tagesschulen erfordert beispielsweise zusätzlichen Platz. Dennoch zeigt das Beispiel, dass gewisse Kosten der Zuwanderung erst mit Verzögerung auftreten. Was für Schulhäuser gilt, gilt auch für den öffentlichen Verkehr, die Strassen oder das Stromnetz.

Zweitens erwerben die Zugewanderten mit ihren heutigen Steuerzahlungen Leistungsansprüche in der Zukunft. Dies kann wiederum am Beispiel der AHV gezeigt werden. Über den gesamten Lebenszyklus hinweg beziehen die meisten Personen mehr Leistungen aus der AHV, als sie selbst zu deren Finanzierung beigetragen haben: Pro Franken an Lohnbeiträgen erhalten Zugewanderte 1.93 Franken und Inländer 1.83 Franken an Rente. 4 Die AHV lässt sich somit mit den heutigen Beitragssätzen auf Dauer nur finanzieren, wenn das aktuell vorteilhafte Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnern auch in Zukunft so bleibt.5  Jede nachfolgende Generation müsste dazu grösser sein als die vorangehende. Das System funktioniert nur, wenn die Bevölkerung ständig wächst. Nachhaltigkeit sieht anders aus.

«Weil das Ausmass derZuwanderung unterschätzt wurde, hinkt der Staat beim Ausbau der öffentlichen Infrastruktur in gewissen Bereichen hinterher.»

Belastung der Jüngeren

Wer profitiert und wer verliert durch diese Entwicklung? Mittlerweile sind zwei Drittel der Stimmberechtigten 50 Jahre oder älter. Diese Menschen hätten aus finanzieller Sicht allen Grund dazu, für eine hohe Zuwanderung einzustehen, sichert sie doch ihre jetzige oder kurz bevorstehende Altersvorsorge. Was danach kommt, belastet vor allem künftige Generationen. Und weil der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in jüngeren Jahrgängen viel höher ist, treffen künftige Budgetdefizite Ausländer proportional stärker als Schweizer. Schweizer sind auch überproportional Immobilienbesitzer und profitierten von steigenden Immobilienpreisen durch Zuwanderung. Es ist also nicht so, dass Schweizer durch Zuwanderung generell verlieren, während Zugewanderte profitieren. Ziel müsste aber sowieso sein, dass die Politik für alle künftig in diesem Land wohnenden Generationen möglichst gute Rahmenbedingungen schafft – unabhängig von deren Herkunft.

Die Zuwanderung hat viele positive Seiten. Sie bereichert uns kulturell und verleiht uns wirtschaftliche Impulse. Auch verschafft uns der dank Zuwanderung gemilderte demografische Wandel mehr Zeit für notwendige Reformen. Es liegt aber an den Entscheidungsträgern, diese Reformen anzugehen und den gemilderten Handlungsdruck nicht dafür zu verwenden, kurzfristige Wahlkampfgeschenke zu machen. Denn eines ist klar: Die hohen Zusatzeinnahmen durch Zuwanderung in den letzten 20 Jahren waren ein Einmaleffekt, der sich in selbem Umfang nicht nochmals wiederholen wird.

  1. Staatssekretariat für Wirtschaft (2023), 19. Bericht des Observatoriums zum ­Freizügigkeitsabkommen Schweiz–EU: Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf ­Arbeitsmarkt und Sozialleistungen. http://www.seco.admin.ch/dam/seco/de/­dokumente/­Publikationen_Dienstleistungen/Publikationen_Formulare/Arbeit/­Personenfreizuegigkeit_Arbeitsbeziehungen/Studien%20und%20Berichte/­Observatoriumsberichte/19-observatoriumsbericht_zum_fza.pdf.download.pdf/19-­Observatoriumsbericht_zum_FZA_de.pdf

  2. OECD: Quarterly Employment by Economic Activity, 2024.

  3. Angestellte beim Staat sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen.

  4. Sandro Favre, Reto Föllmi und Josef Zweimüller: Migration und Sozialversicherungen: Eine Betrachtung der ersten Säule und der Familienzulagen. Studie im Auftrag des BSV, 2023.

  5. Kritiker mögen einwenden, dass die Lohnsumme und nicht das Verhältnis von
    Pensionierten zu Erwerbstätigen entscheidend sei. Aber auch ein hohes Lohnwachstum vermag die strukturellen Probleme der AHV kaum wettzumachen.

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