Dörfler mit urbanen Vorteilen
Beat Habegger, zvg.

Dörfler mit urbanen Vorteilen

Statt über reale und eingebildete Gräben zwischen Grossstädten und Bergdörfern zu jammern, sollten wir den Föderalismus als Chance für eine vielfältige Schweiz nutzen.

Die Schweizer Städte boomen. Nach der Stadtflucht der 1980er- und 1990er-Jahre wachsen sie seit mehr als zwanzig Jahren. Gemäss den Bundesstatistikern leben rund 17 Prozent der Bevölkerung in den zehn grössten Städten.1 Wer durchs Mittelland fährt – vom Bodensee an den Lac Léman –, braucht jedoch keine Statistik, um die Verstädterung des Landes zu erkennen. Wenn die Bevölkerung auf rund 10 Millionen im Jahr 2035 zunimmt, soll dieses Wachstum zu 80 Prozent in den Städten stattfinden. So will es die 80/20-Regel der Raumplanungsgesetze, um die Zersiedelung und das Zubetonieren des Landes zu verhindern. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Verstädterung der Schweiz weiter voranschreitet.

Das Dazwischen ist die Realität

Statistik ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Als in Horgen, einer Gemeinde am Zürichsee mit rund 23 000 Einwohnern, ein Parlament die Gemeindeversammlung hätte ablösen sollen, haben die Stimmberechtigten dieses Vorhaben an der Urne versenkt. Horgen sei ein Dorf, in dem man sich noch persönlich kenne und an der Gemeindeversammlung die Dinge ausdiskutiere.

Vermutlich würden die meisten Leute in Horgen ihre Gemeinde dennoch als Mischung aus städtisch und ländlich beschreiben. Diese Einschätzung teilen sie mit den meisten Schweizerinnen und Schweizern. Gemäss dem Stadt-Land-Monitor 2021 der Forschungsstelle Sotomo ordnen über 60 Prozent ihre Gemeinde auf einer Siebnerskala von «sehr ländlich» bis «sehr städtisch» auf den drei mittleren Positionen ein.2 So richtig Land, wie es Gotthelf beschrieb und vielleicht bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vielerorts Realität war, ist die Schweiz kaum noch. So richtig Grossstadt war sie nie und wird es wohl nie sein.

Was der Monitor aber auch zeigt: Der Sehnsuchtsort ist das Land. Viel mehr Leute sehen sich als Ländler, als es gemäss den Statistikern geben sollte. 38 Prozent wollen am liebsten auf dem Land leben und 24 Prozent könnten es sich zumindest gut vorstellen. Und kein Wohnort ist nur annähernd so unbeliebt wie die grössere Stadt. Eigentlich paradox, wenn dort das Wachstum stattfinden soll, wo bereits heute das Wohnangebot am knappsten ist.

Stadt und Land haben erkennbar mehr mit Selbstzuschreibung und individuellen Vorlieben zu tun als mit der raumplanerisch-statistisch erfassbaren Realität. Möglicherweise steht das Land im «nationalen Gedächtnis» weiterhin als Chiffre für das traditionelle, naturverbundene Leben in einer intakten Dorfgemeinschaft. Mit dem Leben in der Stadt verbindet sich hingegen die Vorstellung einer grossstädtischen Metropole, in der rund um die Uhr das Leben in allen Facetten pulsiert. Mit der Schweiz 2022 hat beides wenig zu tun.

Dennoch gibt es in der Schweiz selbstverständlich Unterschiede zwischen Stadt und Land. Bern, Basel, Genf und Zürich einerseits, das Emmental, Schwarzbubenland, Val de Travers und Tösstal andererseits lassen sich nicht über einen Leisten schlagen. Zu unterschiedlich sind diese Orte hinsichtlich ihrer Traditionen und ihrer Infrastrukturen. Genauso unterscheiden sich die Interessen, Werthaltungen und Bedürfnisse der Bevölkerung.

Faule Städter, fleissige Ländler?

Wer Stadt und Land politisch auseinanderdividieren möchte, rückt oft wirtschaftliche Argumente ins Zentrum. So beklagte etwa SVP-Präsident Marco Chiesa 2021 die «Schmarotzerpolitik» und «Privilegien der Städte», die von der Landbevölkerung bezahlt würden.3 Von links wird gern gewettert gegen die hochsubventionierte, mit Pestiziden die Landschaft verseuchende Agrarlobby. Sobald die Argumente über den wirtschaftlichen Stadt-Land-Graben seziert werden, fallen sie jedoch in sich zusammen. So kam etwa die NZZ zum Schluss, dass sich die Regionen der Schweiz wirtschaftlich nicht auseinanderentwickelt hätten und die Klagen über das «abgehängte Land» müssig seien.4

Wenn eine neue Studie nun behauptet, die Grossstädte finanzierten das Land, ist das ebenfalls zu kurz gegriffen. Dass beide Zürichseeufer als «Grossstadt» gelten sollen, widerspricht offensichtlich der Wahrnehmung der allermeisten Leute. Trotz solcher Mängel sind die Schlussfolgerungen der Studie letztlich vermittelnd: «Ob…