Digitale Trollfabriken
Wie Fake News und Desinformation funktionieren – und wie eine freiheitliche Gesellschaft damit umgehen könnte.
Nach dem Mord an einer Studentin in Freiburg kursierte im Netz ein vermeintliches Zitat der deutschen Grünen-Politikerin Renate Künast, wonach der Täter, ein «traumatisierter Flüchtling», «zwar getötet» habe, man «ihm aber jetzt trotzdem helfen» müsse. Innerhalb eines Tages bekam die Meldung gut 4000 Emotionen auf Facebook, vor allem wütende, und wurde 4500-mal geteilt. Die Meldung, Papst Franziskus empfehle Donald Trump zur Präsidentschaftswahl1, war ungleich erfolgreicher: im angelsächsischen Netz wurde sie innerhalb weniger Tage 960 000-mal geteilt.
So unterschiedlich die Resonanz, eines haben beide Meldungen gemeinsam: es handelt sich um Fälschungen. Der Fall Künast ist dabei auf dem Mist des Schweizer Rechtspopulisten Ignaz Bearth gewachsen, der die frei erfundene Meldung über sein Facebookprofil verbreitete. Bearth handelte sich dafür eine Strafanzeige2 ein. Der Fall Franziskus hat seinen Ursprung auf der Satirewebsite «WTOE 5», wurde aber – was die Reaktionen darauf belegen – nicht selten für bare Münze gehalten.
Immer öfter haben derartige Fakes auch in der realen Welt nachweisbar fatale Folgen: Die Social-Media-Anschuldigung, Hillary Clinton betreibe zusammen mit ihrem Wahlkampfmanager John Podesta in einer Washingtoner Pizzeria einen Ring für Kinderpornographie, geistert weiter durch den Cyberspace – auch nachdem ein irregeleiteter 28-Jähriger mit einer Waffe das Lokal gestürmt hat, um die Kinder zu befreien. Der Fall hat als «PizzaGate» medial Furore gemacht, das Phänomen «Fake News» ist seither in aller Munde: Frei erfundene Infamie, Viertelwahrheiten, Verschwörungstheorien, Hassbotschaften, Propaganda – kurz: Desinformation – seien längst zur Pest der digitalisierten Medien und damit auch zu einer ernsten Bedrohung unserer Demokratie und freiheitlichen Gesellschaft geworden, heisst es. Was ist dran an dieser Behauptung?
Geschichte eines Niedergangs
Viele Journalisten und Forscher haben in den letzten Jahrzehnten geglaubt, dass der Siegeszug der Aufklärung im Zuge der Digitalisierung nicht mehr zu bremsen sei. Einige Intellektuelle allerdings haben es bereits lange vor dem Digitalisierungsschub anders kommen sehen: Eingeprägt haben sich George Orwells düstere Vorahnungen von «1984» und Neil Postmans «Wir amüsieren uns zu Tode», aber auch Paul Virilios Warnungen vor «rasendem Stillstand», den fatalen Folgen der Beschleunigung und der geistigen Umweltverschmutzung.
In Deutschland hatten die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender bereits Mitte der 1960er Jahre begonnen, messen zu lassen, wie das Publikum die Glaubwürdigkeit von Medien wahrnimmt. Die ermittelten Werte in dieser «Langzeitstudie Massenkommunikation» zeigten schon damals regelmässig nach unten. Je nachdem, welcher Umfrage man sich heute bedient, geht es aktuell weiter in den Keller – oder die Werte haben sich auf erschreckend niedrigem Niveau stabilisiert. Dabei ist die Situation in der Schweiz deutlich entspannter als im nördlichen Nachbarland oder in den USA.
Wie kam es zu diesem Glaubwürdigkeitsverlust? Er dürfte erheblich damit zu tun haben, dass der Journalismus über Jahrzehnte hinweg von Public Relations nicht nur ergänzt, sondern mehr und mehr durchdrungen, ja usurpiert wurde. 1997 präsentierte der österreichische Sozialforscher Georg Franck sein Konzept der «Aufmerksamkeitsökonomie»3. Er zeichnete vor, wie Institutionen, aber auch Prominente, Politiker und CEOs immer mehr nach Präsenz in der Öffentlichkeit gierten und wie diese wachsende Konkurrenz um Publizität den öffentlichen Diskurs veränderte. Weil Aufmerksamkeit knapp ist und sich in Geld oder Macht ummünzen lässt, wurde und wird immer mehr investiert, um sie zu generieren. Zugleich sank die Bereitschaft der Mediennutzer, für Journalismus zu bezahlen, so dass nicht nur in den USA viele Redaktionen drastisch schrumpften oder ganz verschwanden. Den Journalisten steht in Amerika inzwischen eine fünf- bis sechsfache Übermacht an PR-Experten gegenüber. Gleichzeitig fehlen aufgrund des Spardrucks immer öfter Zeit und Geld für Recherchen, die den Namen «Journalismus» noch verdienen: nicht selten befinden sich Leitmedien nur noch in einem Wettbewerb um die schnellste Lieferung von Content. Wenn dabei Falschmeldungen nicht sauber geprüft, Zusammenhänge unvollständig oder tendenziös dargestellt werden und es an Einordnung fehlt, beginnt das Vertrauensfundament der Leser zu bröckeln.
Mit dem wachsenden Einfluss der PR geht eine Machtverschiebung einher: Die Entscheidung, ob und wann welche News ins Mediensystem eingespeist werden, hat sich in den letzten Jahrzehnten ins Vorfeld der Redaktionen verlagert. Lange bevor Nachrichten die Redaktionen erreichen, filtern PR-Experten im Tagesgeschäft, womit die Redaktionen abgefüttert werden – und womit nicht. US-Präsident Donald Trump, der mit seiner Gefolgschaft ohne Rücksicht auf Kollateralschäden Direktkommunikation und (aus dem Militär bekannte) Kommandokommunikation über Twitter betreibt, ist die bisher prominenteste Ausnahme von dieser Regel. Vermutlich nicht zuletzt deshalb bewerten viele seiner Wähler diese Auftritte bislang immerhin als «authentisch».
Zunehmende Konkurrenz um Aufmerksamkeit allein reicht allerdings nicht aus, um zu erklären, weshalb sich die Aufmerksamkeits- so schnell zur Desinformationsökonomie weiterentwickelt. Es muss sich vielmehr für eine Vielzahl von Akteuren machtpolitisch oder wirtschaftlich lohnen, durch Fakes, Halbwahrheiten und Propaganda Aufmerksamkeit zu erzielen – und das mitunter so massiv, dass Wahrheitsfindungsversuche von Journalisten und Wissenschaftern ins Hintertreffen geraten.
Content statt Information – die realen Auswirkungen
Suchmaschinen und soziale Netzwerke sind heute, anders als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, ein zentrales Werkzeug vieler Menschen, um an Informationen heranzukommen. Worüber sich die meisten Nutzer weit weniger klar sind, ist, dass beide dank der Algorithmen hochgradig personalisiert Information liefern. Bei Suchanfragen erhält Nutzer A andere Links als Nutzer B, und selbst wenn A und B über Facebook sich mit dem «Guardian» oder der NZZ «angefreundet» haben, bekommen sie von Facebook ganz unterschiedliche Newsfeeds serviert.
Facebook und Google behandeln als Plattformbetreiber dabei jedweden «Content» zunächst gleich: es ist egal, wer der Urheber ist, wer ihn verbreitet, ob er stimmt oder nicht – Hauptsache, er erzielt Klicks, passt zu bestimmten Nutzerprofilen und taugt, um im Beipack Werbebotschaften zu lancieren. Das System funktioniert. Die etablierten Medienhäuser, hierzulande Tamedia, Ringier, Axel Springer, suchen deshalb ihr Heil darin, den Erfolg von Google und Facebook zu kopieren. Sie werden so ebenso zu Klickmaschinen, denen der Gehalt ihres Contents (und ob er noch etwas mit Journalismus zu tun hat) nahezu egal ist. Sie sind im Vergleich mit Google und Facebook allerdings weniger erfolgreich, weil sie nicht über deren gigantische Datenmengen verfügen.
Mit dem Aufstieg der sozialen Netzwerke und der Suchmaschinen konnten sich so Fake News an allen regulierenden Instanzen vorbei viral verbreiten. Donald Trump4 und andere Vereinfacher nutzen diese Möglichkeiten besonders virtuos, um bewusst falsche Informationen zu streuen, die dann wiederum von ihren Anhängern geglaubt und in ihren jeweiligen Echokammern weiterverbreitet werden. Craig Silverman5, der vermutlich prominenteste amerikanische Experte für Fake News, will allein in einer mazedonischen Kleinstadt 100 Websites verortet haben, die Trumps Präsidentschaftskampagne mit nachweislich frei erfundenen Meldungen unterstützten. Das Ganze war, so stellte sich heraus, noch nicht einmal politisch motiviert, sondern bloss ein einträgliches Geschäft für kreative Start-up-Unternehmer. Sie partizipierten an Werbeerlösen, die sie mit ihren erfundenen Geschichten generieren konnten. Das Geschäftsmodell hat es in sich: Im Gegensatz zu tatsächlichem Journalismus entstehen beim Erfinden von Nachrichten so gut wie keine Kosten, man braucht dazu nur Phantasie und etwas kriminelle Energie.
Wer heute «Likes» und «Shares» generieren möchte, um in der virtuellen Welt Stimmung zu machen, benötigt dazu keine «Troll-Fabriken» mehr6, wie sie Wladimir Putin nachweislich in St. Petersburg für den Kreml hat arbeiten lassen. Billiger und effizienter ist der Einsatz von Textrobotern, von sogenannten «Social Bots». Sie können bestimmte Meldungen pushen und ihre Kommentare tausendfach variieren. Ihre Botschaften werden dann mit Hilfe der Facebook- und Google-Algorithmen weiterverbreitet, und so potenziert sich der Impact. Dem Münchner Politologen und IT-Experten Simon Hegelich zufolge sind 10 000 Twitter-Konten samt «Roboter-Intelligenz» längst zum Spottpreis zu haben. Bereits ein erheblicher Anteil aller Twitter-Nutzer, so schätzte er bereits im Frühjahr 2016, könnten «Social Bots» sein, Facebook veranschlage die Zahl der Bot-Accounts weltweit auf rund 15 Millionen. Fraglos werden so die sozialen Netzwerke zum idealen Nährboden für PR und Propaganda, zumal der Robotereinsatz für die Betreiber günstig und obendrein schwer nachweisbar ist. Wenn sich die Schleusen derart öffnen, verschieben sich innerhalb der PR-Branche ebenfalls die Gewichte: Seriöse Öffentlichkeitsarbeiter verlieren Terrain, hemdsärmelige Spin Doctors bekommen Oberwasser7.
Zu allem Überfluss kolonisieren die grossen Plattformbetreiber die verbliebenen Nachrichtenlieferanten. So verteilt Google mit seiner «Digital News Initiative» nicht nur Geld unter Medienhäusern und bindet diese so an sich. Der Konzern verschafft sich damit auf geniale Weise zugleich einen Überblick, was gerade in der digitalen Start-up-Szene läuft – und zwar bis in die hintersten Winkel Europas. Die SRG macht es in der Schweiz ganz ähnlich: Sie verteilt Gratisinhalte unter den Medienhäusern und bindet diese so an sich. Google geht sogar noch einen Schritt weiter und beraubt mit seinem «Accelerated Mobile Project» (AMP) Medienunternehmen ihrer Identität: Die Nutzer können jetzt zwar den Content der Medienhäuser schneller hochladen, aber um den Preis geringerer Identifizierbarkeit; die Nutzer wissen immer weniger, wo der jeweilige Inhalt herkommt. Facebook verfährt mit seiner «Instant Articles»-Initiative ganz ähnlich. Wenn die Autorschaft von (Falsch-)Nachrichten für die Nutzer gar nicht mehr erkennbar ist, leistet dies einer weiteren Erosion des Vertrauensverhältnisses in die Medien Vorschub.
Gegenwehr und «Bullshiterkennungskompetenz»
Im Blick auf Gegenwehr ist in den letzten Monaten einiges in Bewegung geraten. Nachdem Facebook-Chef Mark Zuckerberg zunächst das Fake-News-Problem zu leugnen versucht hatte, ist sein Konzern inzwischen zurückgerudert: In Zukunft sollen mit Hilfe der User in einer kollektiven Crowdsourcing-Anstrengung verdächtige Inhalte markiert werden. Im deutschen Sprachraum will sich das Journalismus-Start-up Correctiv um die genauere Prüfung kümmern. Eines der profitabelsten IT- und Medienunternehmen der Welt greift also nicht in die eigene Tasche, sondern betreibt Outsourcing seiner «Corporate Social Responsibility». Mit Spenden- und Stiftungsgeldern will man richten, was Zuckerbergs Truppe bisher nicht zu leisten bereit ist.
Diskutiert – und da und dort auch umgesetzt – wird vermehrte Faktenüberprüfung auch ausserhalb von herkömmlichen Redaktionen. Forscher des Reuters Institute in Oxford zählten kürzlich weltweit 113 Factchecking-Websites8; rund 50 von ihnen sind in Europa beheimatet, und ebenfalls circa 50 sind allein in den letzten zwei Jahren entstanden.
Zu nennen sind auch Netzwerke wie die First Draft Coalition. Ihr gehören neben namhaften westlichen Medienunternehmen bemerkenswerterweise so unterschiedliche Akteure wie Amnesty International und Al Jazeera an, aber – man höre und staune – auch Facebook, Google und Twitter, die bisher mit der Verbreitung von Desinformation viel Geld verdient haben. Sicher ist: solche Netzwerke dürften beim «Debunking», also beim Aufdecken von Falschmeldungen, wirksamer als Einzelaktivitäten sein.
Lässt sich damit aber genügend Resonanz erzielen? Das ist fraglich, denn solche Initiativen sind teuer und lassen sich kaum monetarisieren. Ausserdem verbreiten sich gerade absurde Nachrichten und Verschwörungstheorien mitunter erst dann viral, wenn es Bemühungen gibt, sie als solche zu enttarnen. «PizzaGate»9 war – mit seinen realen Folgen – dafür das bisher wohl prominenteste Exempel. Weitere Forschungen belegen auch, wie sehr die Echokammern im Netz gegeneinander abgeschirmt sind. Gerade Donald Trumps Erfolg hat aller Welt gezeigt, dass mit Aufklärung und Wahrheitsfindung all denen kaum beizukommen ist, die sich von Gefühlen und Vorurteilen leiten lassen. Die neue US-Regierung ist schon in den ersten Tagen als Serientäter beim Erfinden ihrer eigenen «Wahrheiten» (z.B. «Bowling Green Massacre») aufgefallen. Mit der Formel von den «alternativen Fakten» gibt Trumps Mannschaft obendrein zu erkennen, dass sie diese Vorgehensweise beizubehalten und damit für die amerikanische Regierungskommunikation «stilbildend» zu wirken gedenkt. Dieser Umstand wirkt bereits massiv auf die sich verändernden Realitäten des Alltagslebens zurück: angefangen beim 5-Jährigen (!), der unter Terrorverdacht mehrere Stunden von seiner Mutter isoliert und in Handschellen festgehalten wurde, bis zur Wissenschafterin des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam, die nicht mehr in die USA einreisen darf, weil sie aus dem Iran stammt.
Der «Erfolg» dieser Strategie lässt sich leicht erklären: Ein italienisch-amerikanisches Forscherteam um Walter Quattrociocchi hat im Jahr 2016 Facebook-Accounts in den USA und in Italien verglichen10 – solche, die sich redlich um wissenschaftlich oder journalistisch geprüfte Information bemühen, und Linkschleudern, die beinahe ausschliesslich Unsinn offerieren. Die beunruhigende Erkenntnis: in den sozialen Netzwerken verbreitet sich schrille Desinformation oft weitaus schneller und flächendeckender als seriöse Nachrichten. Tendenziell galt das natürlich ähnlich auch für die Boulevardpresse in Zeiten vor der Digitalisierung. Aber die Resonanzböden bei Twitter und Facebook sind dann doch von einer anderen Qualität.
Hier sind wir bei einem weiteren wichtigen Punkt: Milosz Matuschek hat in der «Neuen Zürcher Zeitung» mehr «Bullshiterkennungskompetenz» der Journalisten und der Leser im Hinblick auf die mediale Entwicklung gefordert. Neben eher naiven Versuchen, Nutzern online journalistisches Handwerk im Crashkurs beizubringen und sie zu trainieren, welche Fragen sie zur Überprüfungsrecherche an Nachrichten zu stellen hätten, wird ziemlich einhellig mehr Medienkunde an Schulen gefordert. Auf absehbare Zeit wird das nicht fruchtbar sein: Es wäre schliesslich erst einmal den Lehrern beizubringen, was sich selbst hochspezialisierte Medienforscher derzeit nur mühselig und partiell an gesichertem Basiswissen anzueignen vermögen. Wir alle hecheln den Innovationen im Netz und den sich überschlagenden wissenschaftlichen Publikationen hinterher. Das Veränderungstempo reduziert ständig die Halbwertszeit von Kenntnissen und Erkenntnissen im Umgang mit digitalen Medien.
Hinzu kommen die Alltagsprobleme beim Versuch, mehr «Media Literacy» zu lehren. Danah Boyd beschreibt diese besonders anschaulich: Zu oft sei Teenagern beispielsweise beigebracht worden, Wikipedia sei keine glaubwürdige Quelle – sie sollten stattdessen recherchieren. Im Ergebnis führe das dann dazu, dass die Teenies googelten und dann dort den jeweils erstbesten Link nutzten, den sie fänden. Ein Teil der medienpädagogischen Initiativen sollte also aus verstärkten Aktivitäten der Medien selbst bestehen. Wenn man die Entwicklung umkehren und journalistische Glaubwürdigkeit zurückgewinnen möchte, ist und bleibt es essentiell, Fehler zu korrigieren, sich um Beschwerden über die Berichterstattung zu kümmern und dem Journalismus und den Medien in der Medienberichterstattung mindestens genauso viel Aufmerksamkeit zu widmen wie den klassischen Ressorts. Darüber hinaus sollten sich auf Seriosität bedachte Journalisten und Wissenschafter im Kampf um Wissenschafts- und Pressefreiheit sowie um eine zivilgesellschaftlich «verträgliche» Meinungsfreiheit stärker engagieren. Auf jeden Fall sollten sie sich von den schwarzen Schafen in den eigenen Reihen mutiger abgrenzen – indem sie ihnen auf die Finger schauen und Fehlleistungen konsequent benennen.
Ausblick
Weil inflationierte Desinformation letztlich aber auch das Geschäftsmodell der Plattformbetreiber bedroht, ist es auch nicht ausgeschlossen, dass sich das Problem irgendwann «von selbst» löst. Immerhin scheint den Tech-Giganten allmählich zu dämmern, dass sie sich ihrer Verantwortung für die Inhalte, die sie verbreiten, nicht länger entziehen können. Die Zürcher Medienforscherin Natascha Just hat sie zutreffend als «Giant Teenagers» bezeichnet: Ihrem Organisationsalter entsprechend, haben sie sich bisher im Blick auf ihre gesellschaftliche Verantwortung wie Kleinkinder benommen.
Nicht viel besser kommt aber die grosse Koalition der politischen Besserwisser und Bevormunder von links bis rechts weg, deren ordnungspolitischer Wille und wohl auch die entsprechende politische Gestaltungsmacht zur Durchsetzung einer Zerschlagung von Monopolen wie Google und Facebook fehlen. Offenbar sind selbst unter denen, die sich «Marktwirtschafter» nennen, nur wenige wirklich an Informationsmärkten interessiert, auf denen der Wettbewerb – dazu gehört der Preis (!) für ein Angebot und auch eine entsprechende Nachfrage – funktioniert. Dabei wäre gerade Wettbewerb ein zentrales Element der Machtkontrolle.
Und wir alle? Die allermeisten von uns haben sich von den wunderbaren Scheinbar-Gratis-Offerten der IT-Giganten längst existentiell abhängig gemacht, sie sind aus unseren Leben kaum mehr wegzudenken. Verantwortungsvoller mit den sozialen Medien umgehen dagegen ist möglich. Was bedeutet das? Prüfen, bevor wir impulsiv «liken», vorsichtiger teilen – und vor allem uns unseres eigenen «Confirmation Bias» bewusst werden, der dazu führt, dass wir jene Nachrichten bevorzugen, die unsere Vorlieben und Vorurteile bestätigen. Wir sollten uns auch bewusst machen, dass die IT-Giganten möchten, dass wir möglichst lange auf ihren Plattformen verweilen, und ihre Algorithmen uns entsprechend bedienen, damit wir uns in unseren Filterblasen möglichst wohl fühlen. Serviert wird Zucker statt Spinat und Lebertran. Es schadet also sicher nicht, in unseren «Freundeskreis» ein paar Leute, Medien und Plattformen aufzunehmen, die nicht die eigenen Überzeugungen teilen. Der «Third-Person-Effekt» ist nämlich ebenfalls trügerisch: Es sind eben nicht nur «die anderen», die auf raffinierte Desinformation hereinfallen oder Satire nicht von Nachrichten unterscheiden können. Niemand hat die Wahrheit gepachtet, sie muss mühselig zusammengesucht werden, aus vielen Einzelteilen, aus Widersprüchen und sogar scheinbar Absurdem. Vielleicht führt das zu guter Letzt sogar zum Eingeständnis, dass wir gerade jetzt professionelle journalistische Lotsen brauchen – und dafür eben bezahlen sollten. Die steigenden Abozahlen, die Medien wie FAZ, «New York Times», «Washington Post», «The New Yorker» und selbst ein Titel wie «Vanity Fair» seit Donald Trumps Wahl vorweisen können, sind vor allem eins: Hoffnungsschimmer.
Stephan Russ-Mohl
ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Lugano und Leiter des Europäischen Journalismus-Observatoriums, das u.a. ländervergleichende Journalismusforschung betreibt. Von ihm u.a. erschienen: «Journalismus. Das Hand- und Lehrbuch» (Frankfurter Allgemeine Buch, 2003). Russ-Mohl lebt in Lugano.
1 Vgl. Adrian Lobe: Nachrichtenlese. FAZ.net, 25.11.2016.
2 Vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kampf-gegen-fake-news-kuenast-stellt-strafanzeige-wegen-falschnachricht-auf-facebook-14568472.html
3 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. München: Hanser, 1998.
4 Jan-Werner Müller: Wahrheit? Welche Wahrheit? In: NZZ, 8.2.2017.
5 Craig Silverman: How Teens in the Balkans Are Duping Trump Supporters with Fake News. Buzzfeed.com (4.11.2016).
6 Adrian Chen: The Propaganda about Russian Propaganda. In: The New Yorker, 9.1.2017.
7 George Monbiot: Frightened by Donald Trump? You don’t know the half of it. In: The Guardian, 30.11.2016. Web: https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/nov/30/donald-trump-george-monbiot-misinformation
8 Vgl. http://en.ejo.ch/media-politics/alarmed-unsettled-wary-european-media-ponder-a-trump-presidency
9 Danah Boyd: Did Media Literacy Backfire? Web: https://points.datasociety.net/did-media-literacy-backfire-7418c084d88d#.ilf3927nn
10 Walter Quattrociocchi, Antonio Scala und Cass R. Sunstein: Echo Chambers on Facebook. IMT Lucca, CMR Rom, Harvard University, 2016. Web: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=2795110