Digitale Neozensur
Wie kommt unsere Gesellschaft nur darauf, ihre Meinungsäusserungsfreiheit heute derart einzuschränken?
Gut 200 Jahre ist es her, dass Voltaire den Ausspruch tätigte: «Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äussern dürfen.» Ein Glanzpunkt humanistischer Kultur und freiheitlicher Aufklärung in Europa. Im Jahr 2018 erwirken die deutschen Sozialdemokraten das «Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (NetzDG)» – und die schweizerischen eifern ihnen nach. Das «NetzDG» zwingt die Anbieter sozialer Netzwerkplattformen, «offensichtlich rechtswidrige» Äusserungen ihrer Mitglieder umgehend zu löschen – andernfalls drohen z.T. millionenschwere Strafen. Um diese zu vermeiden, löschen die Plattformen lieber einige Meldungen zu viel als zu wenig. Ein Rechtsweg wird dabei nicht beschritten. In den ersten Tagen ihrer Gültigkeit fielen diesem privatisierten Zensurmechanismus neben rechten Politikern schon Satirekünstler und offenbar auch der zuständige Justizminister selbst zum Opfer.
Wie kommt unsere so freie, reiche und sichere Gesellschaft nur darauf, ihre Meinungsäusserungsfreiheit derart einzuschränken? Fragt man die Gesetzesurheber, so geht es um den Kampf gegen «Fake News» und «Hate Speech» im Internet. Beide Phänomene sind jedoch rechtlich unbestimmt, sie sind nicht justiziabel. Die Folge: formell bezieht sich das Zensurgesetz auf «rechtswidrige» Inhalte, faktisch setzt es jedoch handfeste Anreize für das Unterdrücken nur schon zweifelhafter, verdächtiger oder anstössiger Äusserungen.
Von Voltaire stammt übrigens auch der Satz: «Es ist eher hinzunehmen, dass ein Schuldiger freigesprochen, als dass ein Unschuldiger verurteilt wird.» Deutlicher könnte der Kontrast zwischen dem Geist der Aufklärung und jenem der digitalen Neozensur kaum ausfallen.
Der zivilisatorische Fortschritt unterliegt leider keinem Automatismus. Im Jahr 2018 erscheint unsere Politik beschämend reaktionär – wir sind der Zukunft Besseres schuldig.