Diese Patina, die über der Schweiz liegt…
…ist Ausdruck echter Gelassenheit, sagt Hans Ulrich Gumbrecht, vor sich Eiger, Mönch und Jungfrau. Im Ernst? Aus einer lockeren Plauderei mit dem in Stanford lehrenden Romanisten wird ein sportliches Gespräch über europäische Abgründe.
Herr Gumbrecht, wir treffen uns hier in Magglingen, am Rande einer Veranstaltung der Eidgenössischen Hochschule für Sport. Sie sind ein Sportfreak, zumal einer, der viel zum Thema publiziert hat. Lassen Sie uns darum über was ganz anderes reden…
…ich bin ganz Ohr.
In Ihrem Kopf dreht es immer, egal, wo Sie gerade sind. Das ist jedenfalls der Eindruck des Lesers, der sich in Ihre Schriften und Essays vertieft.
Stimmt. Ich kann nicht abschalten. Aber das sollte sich besser nicht in meinen Publikationen zeigen…
Und der Laptop ist stets dabei? Sie beantworten E-Mails zu allen Tages- und Nachtzeiten in Windeseile.
Ich arbeite eigentlich immer, das ist die unvermeidliche und eigentlich auch bejahte Lebensform, und der Laptop ist das Arbeitsgerät, das mich – leider – überallhin begleitet. Im Hintergrund des Schreibens laufen die E-Mails, und wenn dann etwas aufscheint, das mich interessiert oder eilig ist, antworte ich. Der Flow wird dadurch nicht unterbrochen. Verboten habe ich mir ein Handy – das wäre die permanente Ablenkung bei einem wie mir, der zu Suchtverhalten neigt.
Sie klinken sich aus, wenn Sie schreiben?
Klar. In meinem offiziellen Büro in Stanford herrscht der Austausch mit Studenten vor. Aber ich habe auch eine geniale Rückzugsmöglichkeit. Die University hat da ein typisch amerikanisches Programm: Aus den Präsenzstunden in der Bibliothek, aus der Zahl der ausgeliehenen Bücher und aus der Anzahl der Publikationen pro Jahr wird ein Quotient berechnet, der ungefähr fünfzig Professoren und Studenten, denen mit dem höchsten Quotienten, erlaubt, ein eigenes abgeschottetes und vor allem anonymes Büro in der Bibliothek zu benutzen. Man ist dann unerreichbar für die Welt und kann an seinen Dingen arbeiten. Und klar – auch auf Reisen bin ich ungestört und kann meinen Gedanken nachhängen. So wie bis eben.
Legen wir also los. Was ist Ihnen diesmal auf Ihrer kleinen Tournee durch die Schweiz als engagierter Beobachter aufgefallen – irgendwelche Objekte, Gesichtsausdrücke, Haltungen?
Wo Sie mich fragen – es gibt da ein Leitmotiv. Eine spezifische Art von Patina liegt über sehr vielen helvetischen Bauten, und sie ergibt sich aus einem Nichtrenovierenwollen. Wer aus dem Silicon Valley kommt wie ich, wo das gnadenlose Runderneuern vorherrscht, bemerkt diese Lässigkeit besonders. Das ist mir in Kloten aufgefallen, in Genf, dann entlang dem Bieler See, in diesen Gemeinden, die einst Fischerdörfer waren und immer noch so aussehen, und selbst hier im Sporthotel in Magglingen, das sich in derselben spartanischen Eleganz präsentiert wie vor Jahren, nur eben mittlerweile auch mit dieser Patina. Die helvetische Patina hat dabei absolut gar nichts mit der südlichen Nonchalance zu tun, die man in Italien oder Spanien antrifft.
Machen Sie erste Zerfallserscheinungen des helvetischen Wohlstandsperfektionismus aus?
Nein – und nicht nur weil mir der Wohlstandsperfektionismus ja durchaus imponiert. Ich sehe darin vielmehr den Ausdruck einer erstaunlichen Gelassenheit. Das ist genau das Wort: Gelassenheit. Man muss niemanden beeindrucken, alles ist sehr solide, auch ordentlich, aber eben nicht obsessiv herausgeputzt und zur Schau gestellt. Ich würde sagen: Das ist eine maximal souveräne Haltung. Mein Stanforder Kollege Robert P. Harrison hat diese Einstellung auch mit Blick auf Institutionen beschrieben. Man lässt sie laufen, auch wenn es gerade mal etwas kriselt, man ist zuversichtlich, man hat Vertrauen in bewährte Mittel und Mechanismen. Stimmen Sie überein mit meiner Einschätzung?
Gute Frage. Ich stelle in der Schweiz eine Zunahme an gesellschaftlicher Beunruhigung fest – die Zahl der Volksinitiativen nimmt zu, jene der angeblichen Schicksalsfragen ebenfalls, apokalyptische Töne dominieren, die Medien bombardieren die Leser, Seher und Hörer täglich mit Empörungsangeboten.
Sie sind selber Publizist, also Erregungsmacher, und darum vielleicht zu nahe dran oder drin. Die meisten Schweizer, denen ich begegne, kommen mir ziemlich gelassen vor. Diese Leute interessieren sich kaum für Erregungsangebote. Sie vertrauen auf ihre Institutionen, auf ihre Alltagsintelligenz, kurz darauf, dass ihnen schon was einfällt, sollte es denn nötig sein.
Das Leben im Silicon Valley ist dagegen nervöser, aufgeregter, auch erregender?
Ja schon, mein Lieber! Alle schürfen da nach Ideen, jede neue Idee ist ein neues Versprechen, eine Option auf Innovation, Geld, Macht, Ansehen. Die richtige Idee im richtigen Moment – und du bist reich! In Silicon Valley soll man – und das ist nicht übertrieben – mit dreissig so weit sein, dass man noch arbeiten kann, aber nicht mehr muss, wenn man in Unternehmerkreisen ernst genommen werden will. Das mag wie völliger Irrsinn wirken, aber es ist ein Irrsinn, der mir gefällt. Und die Schweiz, als auch sehr innovatives Land, stellt eher das Gegenteil dar: Jetzt lass mal, die Dinge funktionieren gut, reg dich mal wieder ab.
Das klingt nun so, als wären die jungen Unternehmer im Silicon Valley von Anfang an auf der Suche nach einem Rentnerdasein: Free Lunch auf Lebenszeit. In der Schweiz sind es die Neosozialisten, die so denken.
Guter Punkt, so habe ich das noch nicht gedacht. Mark Zuckerberg hat in dieser Hinsicht wirklich ein Problem. Was soll er nun sein ganzes Leben lang noch machen? Gut, er kann Philanthrop werden wie Bill Gates, er kann Kunst sammeln, aber auch das wird auf die Dauer und ausschliesslich wohl ermüdend. Jetzt fälltʼs mir ein: Er kann sich an der Macht laben. Viele dieser Leute sind machtfasziniert. Ich kenne Marissa Mayer, CEO von Yahoo, die hat in Stanford Philosophie studiert. Sie war – und ist – jene Art von Mädchen, die du bei der Tanzstunde nie auffordern möchtest. Sie errötet sofort, sie ist ein wenig steif. Aber sie hat angeblich den Navigator erfunden, und wenn sie vor ein Publikum tritt, ist sie schon in ihrem Element. Marissa will Macht, im Sinn von Einfluss nehmen, die Welt gestalten. Sie weiss, dass es sozusagen ihr Chip ist, der in den Gehirnen der Hälfte der Menschheit steckt und deren Bewegungsmuster verändert hat.
Zurück zur helvetischen Gelassenheit. Die Stimmbürger haben das Mindesteinkommen verworfen, ebenso eine Erhöhung der Ferien auf sechs Wochen. Die Leistungsbereitschaft der Schweiz ist nach wie vor beträchtlich. Wie passt das zu Ihrer Theorie?
Mir sind beide Entscheidungen äusserst sympathisch – der Neosozialismus ebenso wie der allgemeine EU-Sozialdemokratismus sind so was von öde. Da liegt auch ein ästhetisches Problem: allein an der Minimierung der Arbeitszeit zu arbeiten, die Dinge aus der Perspektive des Betroffenen zu betrachten, den anderen ständig die Schuld zu geben, mein Gott, das ist zwar bequem, aber auch so langweilig, oder? Der Durchschnittsschweizer ist, gemessen am europäischen Durchschnitt, schon sehr leistungsbereit, auch wenn erʼs vielleicht nicht übertreiben will. Viel wichtiger im Zusammenhang mit den von Ihnen genannten Initiativen scheint mir aber, dass er sich eine Grundskepsis gegenüber staatlichen Interventionen bewahrt hat. Er will nicht, dass der Staat alles regelt, was er selbst regeln kann, zum Beispiel Lohn, zum Beispiel Ferien, zum Beispiel Vorsorge. Diese Schweizer Mentalität hat viel mit der amerikanischen gemeinsam. Es gibt tatsächlich Amerikaner, die lieber an einer Blinddarmentzündung sterben, als sich vorschreiben zu lassen, dass sie für die potentielle Operation sparen müssen – und diese Haltung kann ich keinem Deutschen erklären, den meisten Schweizern aber schon.
Stellt sich die Frage: Ist diese Staatsskepsis eine vornehme Form der Paranoia oder doch eher Ausdruck des guten alten Bürgerstolzes?
Wenn das die Alternative ist, dann möchte ich, dass sich da der Stolz zeigt. Der Staat ist ja stets der anonyme Dritte, der sich in alle möglichen Dinge einmischt und den Bürger fremdbestimmt. Das mögen die meisten Schweizer Bürger immer noch nicht. Sie legen Wert auf freiwillige Interaktion, das ist historisch gewachsen – sie wollen wissen, wer was wie entscheidet. Sie sind für übersichtliche Verhältnisse in lokalen Kontexten und wollen sich keine Dinge von anonymen Dritten vorschreiben lassen. Das ist in Kalifornien nicht anders. Ich wohne in Palo Alto. Die wichtigsten Wahlen dort sind die für die Elternbeiräte an den beiden staatlichen High Schools, dicht gefolgt von der des Sheriffs. Die US-Präsidentenwahl interessiert hingegen nur die Intellektuellen – Washington, der anonyme Dritte, ist vor allem ein Medienthema, aber eigentlich nie eines, das die Kalifornier mobilisiert.
Die Kalifornier hätten also auch gegen sechs Wochen zwangsverordneter Ferien gestimmt?
Klar. Das heisst ja nicht, dass jemand nicht sechs Wochen Ferien machen darf – er muss sich einfach mit seinem Arbeitgeber einigen, und wenn er was zu bieten hat, dürfte dies auch gar kein Problem sein. Dazu eine Anekdote aus meinem Umfeld. Eine meiner Habilitandinnen hat neulich bei der «Bild» in einer tatsächlich sehr interessanten Funktion zu arbeiten begonnen, weil sie sich am Ende dennoch gegen eine akademische Karriere entschieden hat, mit einem tollen Einstiegsgehalt, höher, als es sich ein Professor in Deutschland erträumen kann. Nun ist sie schwanger geworden. Und sie darf von Gesetzes wegen 12 Monate, glaube ich, nicht arbeiten. Sie darf nicht, auch wenn sie will, auch wenn sie es organisieren kann. Was ist die Konsequenz? Alle müssen sich nach den Bequemsten richten, weil es die Politik so will. Diese Art der Nivellierung nach unten ist einfach bescheuert, und dagegen haben die Schweizer – im Gegensatz zu den Deutschen – anscheinend etwas Triftiges einzuwenden.
Unser Gespräch schreitet flott voran. Wir sind schon beim nächsten Thema gelandet: Wollen Sie nun über Ihre einstige Heimat herziehen?
Das fällt mir in der Tat leicht. Ich war kürzlich wieder mal in Nordrhein-Westfalen, genauer gesagt an der Universität Bochum, aus meiner Sicht eine der besten deutschen Hochschulen. Aber die offizielle Prämisse da ist unerträglich: Alle Professoren sind angeblich gleich gut. Aber natürlich lässt sich trotz aller Kompensationsmassnahmen nicht verhindern, dass die einen besser sind als die anderen. Nur, dass die Besseren für das Mehr an Leistung auch mehr Freisemester oder Lohn bekommen, ist schwer denkbar und kaum durchsetzbar. Wer das so naiv anspricht wie ich, muss sich auf heftigste Empörung der Kollegen, auch der besseren Kollegen gefasst machen.
Sie waren mal im Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Wenn Sie heute sehen, wie sehr der Egalitarismus zum Mainstream geworden ist, dann packt Sie das nackte Grauen?
Ja, schon – und mittlerweile auch ohne schlechtes Gewissen! Das beginnen ja nun auch halbwegs vernünftige Sozialisten zu ahnen. Insgesamt ist mir diese Kultur des Sozialdemokratismus, die ja ein EU-weites Phänomen ist, sehr fremd geworden. In den USA weht ein anderer Wind. Jeder will der Beste sein – und wer es nicht wird, bewundert jene, die es geworden sind. Es gibt – objektiv, will ich behaupten – deshalb auch viel weniger Ressentiment. Niemand käme auf den Gedanken, eine Diskussion über zulässige Höchstgehälter zu führen – was ja keine andere Motivation haben kann als eben Ressentiment und Neid.
Sozialdemokratismus – was meinen Sie damit?
Bleiben wir in Deutschland, das Land kenne ich ja – unvermeidlich – gut. SPD, CDU, CSU, einstmals die FDP, ja selbst die Linke, das kann man kaum mehr unterscheiden. Der Sozialdemokratismus ist eine egalitaristische Grundeinstellung zur Gesellschaft, die längst unabhängig von den Parteien lebt. Konservative, Sozialdemokraten, Liberale – alle sind Vertreter des real existierenden Sozialdemokratismus! Nur die Neonationalisten scheren aus, in unsympathischer und zumal in Deutschland Ängste weckender Weise zwar, aber sie holen auch wohl Stimmen bei jener wachsenden Zahl von Bürgern, die dieses Sozialdemokratismus müde geworden ist. Ironie der Geschichte: oftmals sind es gerade die nominellen Sozialdemokraten, welche es sich leisten können, eine vergleichsweise freiheitliche Politik zu fahren, siehe Schröder. Sie müssen ja nicht beweisen, dass sie die besseren Sozialdemokraten sind, sie tragen das Label schon im Parteinamen.
Wen würden Sie denn wählen?
Niemanden. Es macht ja keinen Unterschied. Nur die Nichtwahl ist noch eine echte Wahl. Aber wer weiss, wenn ich in Europa lebte. In Amerika gehe ich schon meistens zur Wahl…
Können Sie den Sozialdemokratismus noch etwas genauer beschreiben? Welches sind die Eckpfeiler dieser modernen Soziallehre?
Ich beginne mit mir – ich komme, Sie haben es richtig gesagt, aus diesem Milieu. Ich bin sehr früh Professor geworden in Deutschland, mit 26 tatsächlich, ich publizierte bald bei Suhrkamp und schrieb für die FAZ. Sehr früh erhielt ich das damals maximale Gehalt – 6000 D-Mark oder so, wenn ich mich richtig erinnere. Das war kein leistungsbezogener Lohn. Das Ende der Fahnenstange war schnell erreicht. Zweitens: das akademische Ambiente war oft im Ressentiment erstickt. Auch darum bin ich 1989, mit einundvierzig, nach Stanford gegangen: Gehalt nach oben offen, Ambiente ohne Ressentiment, aber durchaus konkurrenzorientiert, neugierige und ehrgeizige Studenten, inspirierende Stimmung.
Sie stossen sich also vor allem an der Leistungsfeindlichkeit der legalitären Lehre?
Es geht ja nicht nur ums Geld, sondern um die Anerkennung in einem Beruf wie meinem – Geld ist da eigentlich vor allem eine Form der sozialen Anerkennung. Wenn man in Stanford was leistet, gewinnt man Prestige und informelle Privilegien. In Bochum oder Tübingen wird man scheel angeschaut, als ob man ein Betrüger oder ein von irgendeinem Chef Bevorzugter wäre. Ich bin, glaube ich, beides nicht, ich habe sehr lange sehr hart gearbeitet. Diese Benachteiligung der Leistenden, die dann als Gerechtigkeit verkauft wird, ist der Kernpunkt des europäischen Egalitarismus. Es ist eine Pervertierung des Gleichheitsgedankens. Alle sind gleich vor dem Gesetz, niemand soll daran gehindert werden, es zu etwas zu bringen, also die Chancengleichheit – das sind die wahren Errungenschaften der Aufklärung. Was darüber hinausgeht, ist in vieler Hinsicht ein Rückschritt. Und der Wettbewerb hebt am Ende das Niveau für die meisten, sofern alle die Besten sein wollen.
Was Sie sagen, ist sehr wohltuend, und ich wüsste nicht, wie man Ihnen widersprechen könnte. Anderseits sprechen Sie sehr amerikanisch. Und in den USA steht ja auch nicht alles zum besten – obwohl Barack Obama zweifellos stets sehr ambitioniert war, hält er nicht gerade die Werte des freiheitlichen Amerikas hoch. Kurz, übertreiben Sie nicht ein wenig?
Ich gebe gerne zu, dass ich in Stanford in einem Leistungsbiotop lebe. Da herrschen Agon und Arete, Wettkampf und Sich-selbst-überbieten-Wollen, jeden Tag, jede Stunde, wie übrigens sehr wahrscheinlich im Griechenland der Antike. Ansonsten ist klar – auch Teile der urbanen USA haben sich sozialdemokratisiert. Dennoch bleiben Leistung und Wettbewerb die leitenden Prinzipien in Beruf und Alltag.
Selbst ein nichtsozialdemokratisierter Schweizer könnte nun instinktiv einwenden: Ein elitärer Professor wie Sie hat leicht reden. Sie können doch nicht all die Menschen…
…die profitieren ja auch von denen, die was leisten. Wenn der eine mehr leistet als der andere, dann ist das am Ende – in einer anderen Proportion, aber immerhin – gut für beide. Das wollen, das können ein paar Leute einfach nicht begreifen.
Der Sozialdemokratismus ist das Gegenteil sportlichen Handelns.
So ist es! Wie die künstliche Kultivierung des Amateurstatus in den Olympischen Spielen bis Ende der 1980er Jahre.
Was treibt Sie an?
Ich komme aus einem deutsch-wirtschaftswunderlichen Haushalt, wir hatten sehr bald genug von allem. Ich wollte aus einem etwas verblasenen intellektuellen Ehrgeiz Professor werden – und habe plötzlich, aber doch zu spät gemerkt: Der Lohn reicht eigentlich bloss zu einem Schrebergartendasein, zumal wenn du vier Kinder hast. Das kannʼs nicht gewesen sein, Bescheidenheit in dieser Hinsicht wäre falsch. Das Leben muss mehr bieten können, für meine Kinder und für meine schöne Frau. Ausserdem ist ein Leben mit ehrgeizigen Zielen interessanter – gerade weil man an ihnen auch scheitern kann.
Waren Sie ein guter Schüler?
Meine Grundschullehrerin wollte meine Eltern davon überzeugen, dass es geboten sei, mich an die Hilfsschule zu überweisen. Aber so war das immer in meinem Leben. Fast jedes neue Kapitel begann bedrohlich schlecht – und hat sich dann mindestens leidlich entwickelt. Auch wenn das ein Klischee ist: ich wollte immer etwas machen aus meinem Leben. Dass ich philosophisch arbeite – und doch kein Plato, Descartes oder Heidegger geworden bin, das stört mich und das motiviert mich jeden Tag. Noch einfacher: ich will ein intensives Leben haben, kein bequemes. Dabei hatte ich, das muss ich zugeben, stets das Gefühl, zu wenig zu tun, zu wenig zu leisten. Das Gefühl verfolgt mich bis heute.
Am Anfang Ihrer Karriere stand ein Minderwertigkeitsgefühl?
Ja, wenn man den Begriff für einen späten Teenager verwenden kann. Und auch die Angst zu scheitern. Deswegen habe ich etwas gegen all jene, die eigene Leistung stets in Privilegierungen umzudeuten versuchen. Berühmt sein wollen ist eine legitime Ambition (vor allem, wenn man es nicht schafft). Unabhängig sein wollen ist ein ehrenwertes Unterfangen. Ein gutes Leben haben wollen ist ein respektables Motiv. Aber dieses ständige Jammern, Klagen, Sichdiskriminiertfühlen, das vergiftet die ganze gesellschaftliche Atmosphäre. Ich halte den Sozialstaat für eine grosse Errungenschaft, weil er das Versprechen ist, dass niemand alles verlieren kann, dass niemand durch alle Maschen fallen kann. Das ist wichtig. Und vielleicht gibt es ja eine Strategie, die Leute damit zu beflügeln. Kritisch wird es da, wo es die Ambitionen der Menschen lähmt.
Sehen Sie sich als Intellektuellen? Ich füge gleich hinzu, dass die basisdemokratischen Schweizer Mühe mit dieser Figur haben. Sie unterstellen den Intellektuellen gerne, dass diese sich für klüger und aufgeklärter halten als das gemeine Volk.
Ich komme ja aus dieser deutschen akademischen Tradition, die strikte zwischen Wissenschafter und Intellektuellem unterscheidet. Für den beamteten Fachwissenschafter ist der Intellektuelle einer, der unverantwortlich und unvorbereitet über alle möglichen Dinge spricht. Und der seriöse Akademiker, auch der Literaturwissenschafter, muss auf Distanz zu diesen unseriösen Zeitgenossen gehen. Mittlerweile habe ich meine Haltung um 180 Grad geändert: Wir Geisteswissenschafter müssen uns nichts vormachen, wir sind keine Wissenschafter – entweder Geist oder Wissenschaft, so einfach ist das. Aber gerade darum sollen die Geisteswissenschafter Intellektuelle sein, glaube ich. Sie reduzieren nicht die Komplexität der Welt durch Antworten und Lösungen, sondern machen die Welt, unser Bild von ihr komplexer und komplizierter. Das ist ihre wichtigste Aufgabe.
Wie bitte? Meinen Sie das nun zynisch oder ernst?
Todernst und enthusiastisch!
Dann dürfen Sie sich nicht beklagen, wenn die Welt, zumal die helvetische, glaubt, auf Intellektuelle verzichten zu können.
Das wäre ein Trugschluss. Intellektuelle sind keine Moralisten, diese Unterscheidung ist wichtig. Sie schreiben anderen nicht vor, was sie zu tun und zu lassen haben. Sie zeigen die Möglichkeit von Veränderungen auf, indem sie in Alternativen denken. Sie sollen daran arbeiten zu zeigen: alles hätte auch anders kommen können, alles könnte auch anders sein. Das ist eine sehr wertvolle Aufgabe, gerade für Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, in der besten aller möglichen Welten wohnen zu wollen.
Der Intellektuelle als Phantast, als phantastischer Erzähler?
Ja, warum nicht? Allerdings mit analytischen Fähigkeiten ausgestattet. Das scheint mir, in aller – mir eigentlich ja kaum eigenen – Bescheidenheit, eine ehrenhafte Rolle.
Muss denn der Intellektuelle heute ein Athlet sein, um in der neuen Unübersichtlichkeit noch halbwegs klar denken zu können?
Die Metapher gefällt mir. Darum unbedingt: ja! Ich bin 1948 geboren, schon übergewichtig auf die Welt gekommen trotz deutscher Nachkriegszeit, und war immer eher Sporttheoretiker als -praktiker. Aber ich habe meinen Willen und meine Konzentration Tag für Tag hart trainiert. Insofern sehe ich mich durchaus als Athleten – ich muss bis am letzten Tag, an dem mein Gehirn und meine Finger funktionieren, fit sein und Bücher schreiben, das ist ganz klar. Nicht weil die Welt unbedingt darauf wartet oder vielleicht sogar davon abhinge – sondern weil ich nicht anders kann.