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Die zwei Leisten des Vallotton

Félix Vallotton: «Die Seufzer des Cyprien Morus». Zürich: NZZ Libro, 2009
Rudolf Koella: «Über Félix Vallotton. Aufsätze aus 40 Jahren Forschungstätigkeit». Zürich: NZZ Libro, 2009

Schuster, bleib bei deinem Leisten, heisst es. Aber keiner hält sich dran. Sänger schauspielern, Schauspieler widmen sich den Sangeskünsten – vermutlich, weil hier die besseren Mädchen abzugreifen sind; andere, wie Herr Schwarzenegger, gehen gar in die Politik. Wer sprechen kann, wird wohl auch singen können. Wer nicht denken kann, kann immerhin politisieren. Kein Biologe käme allerdings auf die Idee, einen Atomkern spalten zu wollen, und jeder Physiker würde sich hüten, an den Genen herumzubasteln. Aber Künstler sind halt anders, fühlen sich zu vielem berufen. Immerhin hat Picasso sich zurückgehalten und keine Gedichte oder Romane geschrieben.

Doch es gibt tatsächlich ein paar wirkliche Doppelbegabungen. Einer dieser zweifach Gesegneten ist Félix Vallotton. Diesem Schweizer mit französischer Staatsbürgerschaft, der 1865 in Lausanne geboren wurde, aber schon 1882 nach Paris übersiedelte und dort bis zu seinem Tod 1925 lebte, sind gleich zwei Publikationen zu verdanken, die Ende vergangenen Jahres erschienen sind: ein Roman aus der Feder des Schriftstellers Vallotton und ein Sammelband mit Aufsätzen über den Maler und Graphiker Vallotton.

Zuerst zum Roman. Vallotton hat – neben einigen Schauspielen, Kritiken und Essays – insgesamt drei Romane verfasst. Der vorliegende, «Die Seufzer des Cyprien Morus», war chronologisch der erste, an dem Vallotton sich etwa um die Jahrhundertwende als Autor versuchte, ist aber als letzter ins Deutsche übertragen worden, vermutlich weil er der schwächste der drei ist. «Das mörderische Leben», sein zweiter Roman, um 1907/08 geschrieben, wurde 1985 durch die Aufnahme in die Bibliothek Suhrkamp geadelt, und «Corbehaut», 1920 als letzter entstanden, erschien 1973 in der Manesse-Bibliothek der Weltliteratur. Die beiden späteren Romane zeigen, dass Vallotton sein Zweithandwerk beherrscht. Es sind spröde, ein bisschen boshaft erzählte Geschichten mit herben, uncharmanten Figuren, Nichtsnutzen, Künstlern, Schriftstellern, voll morbiden Reizes, die anderen Klassikern der Moderne, von Hauptberuflern verfasst, in nichts nachstehen. Sie spielen mit Elementen der Genreliteratur, des Kriminal- und Schauerromans auf eine neue, überraschende Weise und plazieren das Grauen äusserst geschickt hinter die bürgerlichen Fassaden, die sie beschreiben.

«Die Seufzer des Cyprien Morus» dagegen wirken leider noch wie eine Fingerübung. Es ist so etwas wie ein satirischer Gesellschaftsroman, in dem Vallotton das Milieu auf die Schippe nimmt, in das er selbst 1899 eingeheiratet hat: das Geldbürgertum, die nouveaux riches. Protagonist ist besagter Herr Morus, der – von dubioser Herkunft – durch das geschäftliche Glück seines Vaters zu Reichtum gekommen und in die Pariser Gesellschaft geraten ist, wo man ihn des Geldes wegen zwar duldet, aber nicht wirklich respektiert. All sein Ehrgeiz richtet sich darauf, Ritter der Ehrenlegion zu werden. Fehlender Geschmack, mangelnde Umgangsformen und eine kaum zu unterdrückende Dummdreistigkeit seiner Anverwandten geben dann aber reichlich Anlass für zum Teil grotesk-komische Szenen, die dem ehrgeizigen Cyprien die titelgebenden Seufzer entlocken und sein Ziel in weite Ferne rücken. Auch der Versuch, sich standesgemäss eine Mätresse zu gönnen, geht im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose.

Ein gewisses Vergnügen, das will ich gern zugeben, ist schon dabei, wenn man diesem um Noblesse bemühten Grossbürger mit kleinbürgerlicher Seele beim Scheitern seines Lebensentwurfes zusieht, erinnert er einen doch immer wieder an die Männer und Frauen, die sich auch heutzutage ohne Stil und Geschmack, aber mit vollen Taschen grossmäulig in den Medien präsentieren. Viele davon so dämlich, dass es schmerzt. Aber ein bisschen Witz, ein dünner Plot und insgesamt ein paar wenige kluge Beobachtungen zu Kunstfragen reichen nicht hin, um einen konkurrenzfähigen Roman zu schreiben. Immerhin ist Vallotton als Erzähler bedeutend genug, um eine Publika-tion zu rechtfertigen.

Das zweite Buch, von dem ich eingangs sprach, enthält Aufsätze über den bildenden Künstler Vallotton, der ein grossartiger Maler und Graphiker war, dessen Holzschnitte, Porträts, Interieurs, Landschaften, Sonnenuntergänge und Akte so eigenwillig und besonders sind, dass eine Einordnung in die gängigen Epochen- und Stilkategorien der Kunstgeschichtsschreibung – wie etwa Symbolismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit oder Magischer Realismus – schwerfällt. So widmet sich der typographisch ausgesprochen schön gestaltete Sammelband Rudolf Koellas, mit Essays aus 40 Jahren Forschertätigkeit, vielen einzelnen Aspekten des Werks – etwa den Prägungen durch die altdeutsche Kunst, der Vallotton mehr Aufmerksamkeit und Begeisterung geschenkt hat als so manchem modernen Kollegen, seiner Beziehung zu Cézanne und Böcklin, seinen fabelhaften Sonnenuntergängen sowie dem Verhältnis von Graphik und Malerei und noch vielem mehr. Ein zweiter (kürzerer) Teil interpretiert ausgewählte Gemälde. Abgerundet wird das Ganze durch eine detaillierte Zeittafel.

Dass bei einer solchen Sammlung von Aufsätzen, die zu unterschiedlichen Anlässen und Zeiten verfasst wurden, gelegentliche Wiederholungen nicht zu vermeiden sind, liegt auf der Hand. Sie stören auch nur, wenn man den Band an einem Stück und nicht in kleineren Häppchen geniesst. Die mit sehr viel Kunstverstand geschriebenen und sehr lesbaren Überblicks- und Einzelaufsätze vermeiden den allzu akademischen Diskurs und erhellen Val

lottons Werk in seinen diversen biographischen und ikonographischen Bezügen.

Dabei wird deutlich, dass Vallotton auch als Maler und Graphiker zeitweilig eine ganz besondere Obsession für bürgerliche Interieurs hatte, die den Handlungs- und Lebensräumen seiner Romanhelden nicht unähnlich sind, oder umgekehrt. Nicht wenige seiner besten und berühmtesten Bilder, Radierungen und Holzschnitte zeigen Innenräume. Und zwar auf eine beklemmende Weise. Etwas Dramatisches scheint sich anzukündigen, scheint sich in dem schweren Plüsch der Vorhänge oder Sessel, den dicken Teppichen und dem schweren Holz der Möbel niedergeschlagen zu haben oder aus den Tapeten zu dunsten. Hier herrscht keine Idylle mehr. Hier lauert Unheil.

Walter Benjamin entdeckt in einer Miniatur seiner Prosasammlung «Einbahnstrasse» einen der Ursprünge des modernen Kriminalromans in den «Schrecken der Wohnung», wo, wie er schreibt, die «Anordnung der Möbel … zugleich der Lageplan der tödlichen Fallen» ist und «die Zimmerflucht» dem Opfer «die Fluchtbahn» vorschreibt. Das bürgerliche Interieur der sechziger bis neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts wird so, wie Benjamin es unnachahmlich formuliert, «adäquat allein der Leiche zur Behausung», es zittert, so heisst es weiter, «nach dem namenlosen Mörder … wie eine geile Greisin nach dem Galan».

In seinen besten Bildern und in seinen besten Romanen hat Vallotton dieses Zittern, diesen Schrecken, diese Unheimeligkeit hinter aller bürgerlichen Tünche durchschimmern lassen. Das verbindet seine literarischen Arbeiten mit seinem Werk als bildenden Künstler. Eine wahrhafte Doppelbegabung eben.

vorgestellt von Gerald Funk, Literaturwissenschafter, Marburg

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