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Martin Schlumpf, fotografiert von Markus Kriesi.

Die Zukunft der Kernenergie ist klein und modular

Grosse Kernkraftanlagen bleiben komplex. Doch die Entwicklung neuartiger Reaktoren, die günstiger, sicherer und flexibler sein werden, läuft auf Hochtouren.

Wir schreiben das Jahr 2030. Soeben wurde Block 1 des Kernkraftwerks (KKW) Beznau nach 60 Betriebsjahren wie geplant vom Netz genommen. Im Gegensatz zur Freudenfeier mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei der Stilllegung des KKW Mühleberg 2019 konnte Bundesrat Albert Rösti hier die planerische Voraussicht loben, die es ermöglicht hat, dass die wegfallende Leistung des alten Kraftwerks von 365 Megawatt bereits durch ein neuerstelltes KKW der Klasse Small Modular Reactor (SMR) ersetzt werden konnte.

Als Ersatz für «Beznau 1» wurde 2026 der neuzertifizierte kleine modulare Reaktor vom Typ VOYGR-6 des US-Herstellers NuScale ausgewählt. Und zwar die Version mit sechs Reaktoren, die insgesamt 462 Megawatt elektrisch leistet. Die ganze Anlage konnte in nur drei Jahren erstellt werden, weil lediglich die äussere Gebäudehülle inklusive unterirdischen Lagers für die Reaktoren neu gebaut werden musste. Die Reaktormodule selbst wurden in der europäischen Zweigfabrik von NuScale serienmässig vorfabriziert und von dort einbaufertig angeliefert.

Verglichen mit den Sicherheitssystemen der alten Anlage bringt das auf «Beznau 3» getaufte neue KKW deutliche Vorteile: Ausgestattet mit sogenannten passiven Sicherheitsvorrichtungen sind alle unterirdisch platzierten Reaktorenmodule imstande, mit selbstregulierender Wasser- und Luftkühlung auch den schlimmsten Betriebsunfall ohne Schaden zu überstehen.

Hohe Auslastung, günstige Stromgestehungskosten

Attraktiv ist ausserdem die Flexibilität neuer Anwendungsmöglichkeiten der einzelnen Module, die alle unabhängig voneinander gesteuert werden können: Während einige die Grundlast des Strombedarfs rund um die Uhr ­abdecken, können andere den volatilen Stromertrag aus Solaranlagen ausgleichen, für die Fernwärmeproduktion (REFUNA) eingesetzt werden oder sogar Prozesswärme für das nahe gelegene Zementwerk liefern.

Weil beim VOYGR die Brennelemente nur alle zwei Jahre ausgewechselt werden müssen, kann die Arbeitsauslastung dieser Anlage auf über 95 Prozent gesteigert werden. Entsprechend günstig sind die Stromgestehungskosten. Zudem ist dieser Reaktortyp nicht von der Flusskühlung der Aare abhängig, was bei «Beznau 1» im Sommer manchmal zu Problemen führte. Und auch ein Kühlturm ist nicht nötig.

Bundesrat Rösti hat bei der Eröffnungsansprache zudem angekündigt, dass die Stromlücke, die durch die Stilllegung von «Beznau 2» im Jahr 2032 entsteht, durch einen Ausbau des VOYGR-6 zum VOYGR-12 mit zwölf Modulen und einer Gesamtleistung von 924 Megawatt kompensiert werden könne. Das ist möglich, ohne die schon bestehende Gebäudestruktur umbauen zu müssen. Die zwei alten Beznauer Kernkraftwerke werden so durch eine Anlage ersetzt, die über ein Viertel mehr Leistung hat und weniger Platz braucht, was sich positiv auf die Investitionskosten auswirkt.

Klar, diese ganze Geschichte ist erfunden, insbesondere die naive politische Annahme, die heute bestehenden Genehmigungshürden könnten in der Schweiz so rasch überwunden werden. Darüber hinaus aber beruht sie auf einem realistischen technologischen Fundament: dem bestehenden Konzeptentwurf eines fortgeschrittenen SMR von NuScale, dem viele Experten zutrauen, dass er sich am Markt als erstes durchsetzen könnte – vielleicht noch in diesem Jahrzehnt.

Was der Markt heute anbietet

Welche KKW sind aber heute auf dem Markt? Soeben fertiggestellt wurde in Finnland das leistungsstärkste KKW der Welt, der Reaktor «Olkiluoto 3» vom französischen Typ EPR (European Pressurized Reactor) mit einer Leistung von 1600 Megawatt – über viermal mehr als «Beznau 1». Und in Kürze wird das letzte von vier KKW in den Vereinigten Arabischen Emiraten fertiggebaut: Dabei handelt es sich um den südkoreanischen Typ APR-1400 mit einer Leistung von 1400 Megawatt.

Heute erhältlich sind also grosse KKW mit Leistungen ab 1000 Megawatt. Doch solche Kraftwerke zu bauen, erfordert hohe technische Kompetenz und Erfahrung, ihre Grösse führt zu hohen Investitionskosten und sie bilden sicherheitstechnisch gesehen ein Klumpenrisiko. Beim finnischen «Olkiluoto 3» ist das aus dem Ruder gelaufen: Sowohl die geplante Bauzeit als auch die Kosten wurden mehrfach überschritten, weil der französische Hersteller Areva während Jahrzehnten keine Reaktoren mehr gebaut hatte. Viel besser sieht es bei den Südkoreanern aus: Dort läuft alles nach Plan, die Reaktoren wurden nach durchschnittlich acht Jahren Planungs- und Bauzeit im gegebenen Kostenrahmen vollendet.

Auch wenn die Hersteller bei der Einhaltung versprochener Bauzeiten und Kosten sehr unterschiedlich abschneiden, in einem Punkt stimmen sie überein: Alle heute gebauten Kernkraftwerke weisen ein deutlich besseres Sicherheitskonzept aus als die älteren Reaktoren. Dies gilt in besonderem Mass für den europäischen EPR. Die aktiven Systeme, bei denen der Mensch eingreifen muss, wurden verstärkt: Alle Notkühlsysteme sind gebunkert und vierfach redundant ausgelegt. Dazu kommt ein doppeltes Containment (Schutzhülle) aus Stahl und Beton.

Vor allem aber wurden passive Systeme entwickelt, bei denen menschliches Eingreifen nicht mehr nötig ist. Da ist speziell der «Core Catcher» zu erwähnen: Bei einem Betriebsunfall mit einer Kernschmelze folgen die radioaktiven Stoffe der Schwerkraft in ein speziell gesichertes unterirdisches Becken, wo sie verbleiben und weiter gekühlt werden.

Vorteile des modularen Bauens

Die technologische Entwicklung der KKW wird erfasst, indem man sie in Generationen aufteilt. Zur Generation I gehören frühe Prototypen seit 1950. Generation II besteht aus Leichtwasserreaktoren, die ab 1970 erstellt wurden (alle unsere Kernkraftwerke gehören dazu). Die oben beschriebenen, heute gebauten Reaktoren gehören zur Generation III, deren wichtigstes Merkmal die erhöhte Sicherheitsauslegung ist. Mit zunehmender Verwendung sogenannt inhärent sicherer Systeme wird die menschliche Fehleranfälligkeit beim Betrieb mehr und mehr ausgeschlossen und durch Systeme ersetzt, die allein aufgrund von physikalischen Grundgesetzen agieren.

Trotzdem bleiben Grösse und Komplexität der Anlagen auch in Zukunft eine Herausforderung. Darauf versuchen die Konzepte der Small Modular Reactors (SMR), die zur Generation III+ zählen, eine Antwort zu geben. Der VOYGR meiner Eingangsgeschichte gehört dazu. Zurzeit wird weltweit an über 70 solchen Konzepten geforscht. Das einzige bis heute realisierte ist allerdings nur ein kleiner russischer Kernreaktor auf einem Eisbrecherschiff, das in Nordsibirien eine Hafenstadt mit Strom versorgt.

Die SMR versprechen über diese spezielle Anwendungsmöglichkeit hinaus aber viele weitere Vorteile: Ein SMR kann zuerst mit wenig Reaktormodulen gebaut und erst später vergrössert werden, wodurch die Anfangsinvestitionen kleiner ausfallen. Zudem können die Module serienweise in der Fabrik vorproduziert werden, was ebenfalls kostendämpfend wirkt. Wirtschaftlich von Vorteil sind zudem ein einfacheres Design, weniger Platzbedarf, kleinere Baustellen, kürzere Bauzeiten und Einsatzmöglichkeiten in abgelegenen Regionen. Technisch gesehen punkten die SMR mit passiven Sicherheitssystemen, höheren Betriebstemperaturen (neue Anwendungsmöglichkeiten bei industriellen Prozessen), flexi­blem Einsatzbereich (Zu- und Abschalten von Modulen) und höherer Brennstoffanreicherung (weniger häufiges Nachladen von Reaktorbrennstoff).

Damit ist die Entwicklungsgeschichte aber nicht abgeschlossen: Seit dem Jahr 2001 gibt es das Generation IV International Forum, eine Plattform von 14 Ländern (inklusive der Schweiz), welche die Forschung an KKW der Generation IV koordiniert. Das Forum hat sechs Reaktorkonzepte bestimmt, in denen an unterschiedlichen Designs getüftelt wird: Hochtemperaturreaktor, Bleigekühlter Schneller Reaktor, Superkritischer Leichtwasserreaktor, Gasgekühlter Schneller Reaktor, Natriumgekühlter Schneller Reaktor und Salzschmelze-Reaktor.

Reaktoren der 4. Generation ab 2030

Schon diese kurze Übersicht zeigt, wie riesig dieses Forschungsgebiet ist. Mit den Reaktorkonzepten der Generation IV sollen das Sicherheitsniveau, die Ökonomie und die Flexibilität der Anwendungen von Generation III mindestens egalisiert oder verbessert werden. Neu und entscheidend wird aber sein, dass es gelingt, den langlebigen radiotoxischen Abfall auf ein Minimum zu reduzieren – und damit die Etablierung einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft für die endlichen Uran- und Thoriumressourcen zu ermöglichen.

Der offene Brennstoffkreislauf der bisherigen Leichtwasserreaktoren, bei dem nur wenige Prozent des Brennstoffs Uran-235 genutzt werden, soll zu einem vollständigen Brennstoffrecycling umgebaut werden. Damit hätten wir praktisch unbegrenzte Brennstoffvorräte (Uran/Thorium/Plutonium), die mit Wiederaufarbeitungsanlagen und Reaktoren der IV. Generation zum allergrössten Teil wiederverwendet werden könnten. Und der minimale Rest, der als Abfall in ein Endlager kommt, würde um Grössenordnungen weniger lang strahlen.

Das klingt nach einem Energieparadies – in vielen Labors gehen die Forscher davon aus, dass ihnen das gelingen wird. Niemand kann aber sagen, wann das der Fall sein wird. Die Experten gehen davon aus, dass Reaktoren der Generation IV irgendwann nach 2030 auf den Markt kommen sollten. Gut möglich, dass dies in China geschehen wird, wo schon heute am meisten neue KKW gebaut werden. Und mit der zweiten fertiggestellten Versuchsanlage eines Hochtemperaturreaktors (HTR-PM) liegen die Chinesen auch im Rennen der Generation IV weit vorne.

Die Zukunft der Kernenergie präsentiert sich also äusserst vielschichtig und international. Sehr zu wünschen wäre, dass auch wir in der Schweiz einen Beitrag zur Erforschung und Entwicklung leisten könnten, vor allem aber, dass es uns gelingt, unsere bestehenden Kernkraftwerke durch verbesserte Reaktoren der Zukunft zu ersetzen und zu ergänzen.

«Sehr zu wünschen wäre, dass auch die Schweiz einen Beitrag

zur Forschung und Entwicklung leisten könnte und

bestehende Kernkraftwerke durch verbesserte Reaktoren ersetzt.»

Damit das möglich wird, müssen in der Schweiz politisch zwei Ziele erreicht werden: Erstens muss das im Kernenergiegesetz verankerte Verbot für den Neubau von Kernkraftwerken verschwinden. Und wenn wir einen geschlossenen Brennstoffkreislauf mit Reaktoren der Generation IV anstreben, müssen wir zweitens dafür kämpfen, dass das Verbot für die nukleare Wiederaufarbeitung eliminiert wird.

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