Die Zentrale
Tucholskys Auseinandersetzung mit Sinn und Unsinn zentralistischer Strukturen war nicht wissenschaftlicher Natur. Zu einem Klassiker ist sein Text dennoch (oder gerade deswegen) geworden.
«Die Zentrale weiss alles besser. Die Zentrale hat die Übersicht, den Glauben an die Übersicht und die Kartothek. In der Zentrale sind die Männer mit unendlichem Stunk untereinander beschäftigt, aber sie klopfen dir auf die Schulter und sagen: ‹Lieber Freund, Sie können das von Ihrem Einzelposten nicht so beurteilen! Wir in der Zentrale… ›
Die Zentrale hat zunächst eine Hauptsorge: Zentrale zu bleiben, gnade Gott dem untergeordneten Organ, das wagte, etwas selbständig zu tun! Ob es vernünftig war oder nicht, ob es nötig war oder nicht, ob es da gebrannt hat oder nicht: erst muss die Zentrale gefragt werden. Wofür wäre sie denn sonst Zentrale! Dafür, dass sie Zentrale ist! merken Sie sich das. Mögen die draussen sehen, wie sie fertigwerden.
In der Zentrale sitzen nicht die Klugen, sondern die Schlauen. Wer nämlich seine kleine Arbeit macht, der mag klug sein – schlau ist er nicht. Denn wäre ers, er würde sich darum drücken, und hier gibt es nur ein Mittel: das ist der Reformvorschlag. Der Reformvorschlag führt zur Bildung einer neuen Abteilung, die – selbstverständlich – der Zentrale unterstellt, angegliedert, beigegeben wird… Einer hackt Holz, und dreiunddreissig stehen herum – die bilden die Zentrale.
Die Zentrale ist eine Einrichtung, die dazu dient, Ansätze von Energie und Tatkraft der Unterstellten zu deppen. Der Zentrale fällt nichts ein, und die andern müssen es ausführen. Die Zentrale ist eine Kleinigkeit unfehlbarer als der Papst, sieht aber lange nicht so gut aus.
Der Mann der Praxis hat’s demgemäss nicht leicht. Er schimpft furchtbar auf die Zentrale, zerreisst alle ihre Ukase in kleine Stücke und wischt sich damit die Augen aus. Dies getan, heiratet er die Tochter des Obermimen, avanciert und rückt in die Zentrale auf, denn es ist ein Avancement, in die Kartothek zu kommen. Dortselbst angelangt, räuspert er sich, rückt an der Kravatte, zieht die Manschetten grade und beginnt, zu regieren: als durchaus gotteingesetzte Zentrale, voll tiefer Verachtung für die einfachen Männer der Praxis, tief im Stunk mit den Zentralkollegen – so sitzt er da wie die Spinne im Netz, das die andern gebaut haben, verhindert gescheite Arbeit, gebietet unvernünftig und weiss alles besser.
(Diese Diagnose gilt für Kleinkinderbewahranstalten, Aussenministerien, Zeitungen, Krankenkassen, Forstverwaltungen und Banksekretariate und ist, selbstverständlich, eine scherzhafte Übertreibung, die für einen Betrieb nicht zutrifft: für deinen.)» (1925)
Zitiert aus: Kurt Tucholsky, «Zwischen Gestern und Heute». Reinbek: Rowohlt, 2003, S. 80 f.