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Die «Zeitenwende» in der Schweizer Sicherheitspolitik ist auf Eis gelegt

Nach dem russischen Einfall in der Ukraine drängte die Politik auf eine Stärkung der Armee. Deren «Fähigkeitslücken» dürften jedoch auf absehbare Zeit bestehen bleiben – oder gar noch grösser werden.

Die «Zeitenwende» in der Schweizer Sicherheitspolitik ist auf Eis gelegt
Angehörige der Genieschule 73 beim Schiessen. Bild: Pascal Gertschen / Mediathek VBS.

Die russische Aggression gegen die Ukraine wurde auch von der schweizerischen Landesregierung sehr bald nach dem 24. Februar 2022 als «Zeitenwende» bezeichnet. Ob sie es auch für die zukünftige Entwicklung der Schweizer Armee sein wird, ist weiterhin offen.

Der Bundesrat strebt den Wiederaufbau der Verteidigungsfähigkeit in engerer Kooperation mit der Nato (sowie der EU und Nachbarstaaten) an, die Armeeführung hat den Weg dahin mehrfach dargelegt. Eine Prognose bezüglich der Erreichbarkeit dieser Ziele hat allerdings verschiedene politische Parameter zu berücksichtigen.

Widersprüchliche Signale aus der Bevölkerung

Das Meinungsbild in der schweizerischen Bevölkerung bezüglich der militärischen Landesverteidigung hat sich in den vergangenen zwei Jahren durchaus signifikant verschoben. So liegt die Zustimmung zu einer «sehr gut ausgebildeten» und «vollständig ausgerüsteten» Armee bei 92 beziehungsweise 79 Prozent, jene zu einer Annäherung an die Nato bei 52 Prozent – beides rund zehn Prozentpunkte höher als in der vorausgehenden Dekade. Dem steht jedoch gegenüber, dass eine relative Mehrheit (45 Prozent) die aktuellen Verteidigungsausgaben für angemessen hält und nur 20 Prozent der Befragten sie erhöhen möchten. Für die Planung eines individuellen Partnerschaftsprogramms mit der Nato und für die Fortsetzung der technologischen Kooperation sowie des politischen Dialoges mit der Allianz gibt es zwar eine grosse Zustimmung (61 bis 88 Prozent), bezüglich operativer Formen der Zusammenarbeit mit der Nato sind die Meinungen jedoch geteilt: Je eine Hälfte (50 beziehungsweise 49 Prozent) befürwortet die Teilnahme von Milizsoldaten an gemeinsamen Verteidigungsübungen und die Durchführung der Luftraumüberwachung in Zusammenwirkung mit der Allianz. Ein Beitritt zur Nato wird hingegen weiterhin klar abgelehnt (30 Prozent) – allerdings auch eine rein autonome Landesverteidigung (39 Prozent).

Historische Weichenstellungen

Vor dem Hintergrund dieses – nicht ganz widerspruchsfreien – Meinungsbildes sind auch die anhaltenden Debatten um die militärische Landesverteidigung auf legislativer und exekutiver Ebene zu sehen. Immerhin sind einige Beschlüsse des Parlamentes und des Bundesrates erfolgt, die als Weichenstellungen in die Geschichte eingehen könnten:

Zunächst wurde im September 2022, offensichtlich unter dem Eindruck des Ukrainekrieges, eine Initiative gegen die Beschaffung von Kampfflugzeugen F-35 zurückgezogen. Dies ermöglichte die Unterzeichnung der Beschaffungsverträge für neue Kampfflugzeuge (36 Einheiten F-35 A Joint Strike Fighter) und ein neues BODLUV-System (fünf Feuereinheiten MIM-104 Patriot), gemäss dem Projekt «Air 2030». Als Folge des Ukrainekrieges bleiben indessen Unsicherheiten bezüglich der langfristig zu erwartenden Kosten sowie der vereinbarten Auslieferung der Systeme bestehen.

Kampfflugzeuge F-35. Bild: Christian Lucek / Mediathek VBS.

Sodann hat das Parlament seit 2022 die Militärausgaben wesentlich erhöht: Nachdem der Zahlungsrahmen für die Armee in der Periode 2017– 2022 noch 20 Milliarden Franken betragen hatte (und später sogar auf 18,4 Milliarden Franken reduziert wurde), stieg er in der Periode 2021–2024 auf 21,7 Milliarden Franken an. Für die Jahre 2025–2028 beantragt der Bundesrat dem Parlament 25,8 Milliarden Franken, der Ständerat verlangt sogar 29,8 Milliarden Franken. Langfristig, das heisst bis 2035, verfolgen Bundesrat und Parlament das Ziel, ein Prozent des Bruttoinlandproduktes für die Armee auszugeben, was wohl eine weitere Erhöhung des Zahlungsrahmens bedeuten würde. Der Widerstand gegen solche Bestrebungen hat sich in den letzten Monaten jedoch als gross erwiesen und dürfte weiter zunehmen, da klar geworden ist, dass Erhöhungen der Militärausgaben nur durch Einsparungen bei anderen nicht gebundenen Bundesaufgaben möglich sind.

Eine dritte Folge des Ukrainekrieges dürfte das erstmals formulierte Ziel sein, die Kooperation mit der Nato «in den Verteidigungsbereich hinein» zu erweitern. Die zentrale Begründung dafür ist natürlich die manifeste Bedrohung Europas durch Russland, gleichzeitig scheinen das Bewusstsein der eigenen militärischen Verwundbarkeiten gestiegen zu sein und das Vorbild Finnlands und Schwedens zu wirken, die ihren Status als enge Kooperationspartner der Nato zugunsten einer Vollmitgliedschaft abgelegt haben. Schon vor dem 24. Februar 2022 hatte die Schweiz ihre Beziehungen zur Nato intensiviert, dies jedoch innerhalb der Partnerschaft für den Frieden (PfP). Erst danach wurde der Bereich der kollektiven Verteidigung der Nato explizit ins Auge gefasst, wobei der Bundesrat auf Unterstützung aus dem Parlament zählen kann, namentlich durch die FDP, die mit der Forderung einer «kooperativen Dissuasion» (zusammen mit der Nato) an die Öffentlichkeit trat.

Selektives Kooperationsverständnis

Einer Vertiefung der Zusammenarbeit mit der Nato im Verteidigungsbereich stellen sich jedoch, wie die vergangenen Monate gezeigt haben, beträchtliche Hindernisse in den Weg, primär seitens der Schweiz. Zum einen haben politische Vorstösse eine unsichere Rechtslage geschaffen: So ist im April 2024 eine Initiative für eine Konkretisierung der Neutralität in der Bundesverfassung eingereicht worden, die zwar Vorbereitungen mit «Militär- oder Verteidigungsbündnissen» zuliesse «für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs». Wie weitgehend dieser Schulterschluss jedoch vorbereitet werden dürfte, ohne den gleichenorts primär betonten «immerwährenden» Charakter der Neutralität der Schweiz zu tangieren, bleibt unklar. Zwei Monate später verlangte der Nationalrat mit grosser Mehrheit ein Verbot für die Armee, an Bündnisfall-Übungen der Nato teilzunehmen. Aber selbst ohne explizite rechtliche Schranken wäre die Vorbereitung einer militärischen Kooperation im Ernstfall erheblich erschwert. Denn Milizsoldaten können bislang nicht zum Dienst im Ausland verpflichtet werden und Milizformationen dürften auch kaum fähig sein, mit den professionalisierten und zertifizierten Verbänden der Nato mitzuhalten. Das heisst, dass allein schon Übungen im Hinblick auf den Verteidigungsfall auf die professionellen Teile der Spezialkräfte, der Militärpolizei und der Luftwaffe beschränkt wären.

«Einer Vertiefung der Zusammenarbeit mit der Nato im

Verteidigungsbereich stellen sich, wie die vergangenen Monate gezeigt haben, beträchtliche Hindernisse in den Weg, primär seitens der Schweiz.»

Im Hinblick auf den Ernstfall pflegt die Schweiz eine Reihe von Vorbehalten anzumelden, die sich aus dem Neutralitätsrecht gemäss der Haager Landkriegsordnung von 1907 ableiten. Dieses verlangt, dass die Schweiz gegenüber den Kriegsparteien – ungeachtet der Kriegsschuldfrage – bestimmte Massnahmen ergriffe, wie etwa die Verweigerung von Transitrechten oder die Einstellung von Rüstungslieferungen. Zum anderen versieht die Eidgenossenschaft ihre militärische Kooperation schon in Friedenszeiten standardmässig mit einer Opting-out-Klausel, die ihr das Recht gibt, sich jederzeit aus der Zusammenarbeit zurückzuziehen. Im Kern scheint die Schweiz also einem Kooperationsverständnis anzuhängen, das den Erwerb von Know-how anstrebt, um einem Aggressor vorzugsweise und so lange wie möglich alleine standzuhalten, ohne aber ihren Partnern in einer analogen Situation beizustehen. Ob die Schweiz mit diesem Verständnis – und mit ihren relativ bescheidenen Verteidigungsanstrengungen – ein attraktiver Partner für die Nato «unter Artikel 5» sein kann, erscheint daher grundsätzlich fragwürdig. Es liegt somit nahe, dass die Kooperation der Schweiz mit der Nato den bisherigen Rahmen der kooperativen Sicherheit kaum übersteigen dürfte, und dies im Rahmen des Individually Tailored Partnership Programme ITPP und des Operational Capability Concept OCC der Atlantischen Allianz.

Unter Berücksichtigung dieser innenpolitischen und aussenpolitischen Parameter kann die Prognose bezüglich der Wiedererlangung der Verteidigungsfähigkeit und der Annäherung an die Nato nur verhalten optimistisch ausfallen: Viele der von der Armee identifizierten «Fähigkeitslücken» dürften auf absehbare Zeit bestehen bleiben, unter dem Druck knapper Budgets sich sogar eher noch vergrössern, insbesondere bei den Bodentruppen, und die Annäherung an die Nato dürfte den Bereich der kollektiven Verteidigung dauerhaft ausklammern und sich im Wesentlichen auf die bisherigen Kooperationsfelder beschränken: Ausbildungszusammenarbeit zur Friedensunterstützung und koordinierte Rüstungsbeschaffungen, mit der Aussicht auf kompatible Technologie.

«Viele der von der Armee identifizierten ‹Fähigkeitslücken› dürften auf absehbare Zeit bestehen bleiben, unter dem Druck knapper Budgets sich sogar eher noch vergrössern.»

 

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch «Die Schweizer Armee im Zeitalter der Illusionen, 1990–2023. Schrittweiser Niedergang der Verteidigungsfähigkeit», das am 9. September 2024 im Schwabe-Verlag erscheint.

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