Die Zahlen sagen…
…die Einkommensungleichheit in der Schweiz nimmt nicht zu – Ein Beitrag zur Versachlichung der Debatte
Seit dem Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise stehen Lohn- und Einkommensunterschiede noch stärker im medialen Fokus als ohnehin schon. Dies auch in der Schweiz. Gemäss einer Studie von Travail.Suisse, der neben dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund zweitgrössten Dachorganisation der Arbeitnehmer in der Schweiz, hat sich die Kluft zwischen den Tiefstlöhnen und den Bezügen der Konzernleitung über die letzten zehn Jahre in einigen Unternehmen verdoppelt.1 Im Jahr 2011 überragte der Höchstlohn den Tiefstlohn um das 94fache im Durchschnitt der 27 ausgewerteten Firmen.2 Stimmt es also, dass die Schweiz einem international beobachtbaren Trend folgt und die Einkommenskonzentration zugenommen hat?
Internationale Studien kommen für die OECD-Staaten zum Schluss, dass in den letzten 30 Jahren die obersten Einkommen beispielsweise in den USA, Grossbritannien und Kanada deutlich stärker angestiegen sind als die mittleren und tiefen Einkommen.3 Regierungen fühlen sich dadurch legitimiert, die Minderheit der Bestverdienenden stärker an die Kandare zu nehmen – nicht nur in Frankreich, wo François Hollande Einkommen von über einer Million jährlich mit 75 Prozent besteuern will. Auch in den USA sorgte jüngst die nach dem Multimilliardär Warren Buffett benannte «Buffett-Regel» für Aufsehen. Nach dieser Regel wird gefordert, dass Einkommensmillionäre in den USA mindestens 30 Prozent Steuern zahlen sollen. In der Schweiz gibt es ebenfalls ähnliche Bestrebungen. Die Jungsozialisten wollen mit ihrer Volksinitiative «1:12» die Top-Einkommen relativ plafonieren.
Über die Aussagekraft von relativen Ungleichheitsmassen zur Gerechtigkeit in einer Gesellschaft lässt sich natürlich trefflich streiten. Man könnte mit gutem Grund argumentieren, dass die Entwicklung der absoluten Einkommen wichtiger sei als die relativen Positionen in einer Gesellschaft. Wie dem auch sei: um für die Schweiz eine sachliche und vergleichbare Diskussionsgrundlage zu schaffen, ist es sinnvoll, sich die Daten zur langfristigen Entwicklung der Einkommen anzuschauen. Über einen längerfristigen Zeitraum lässt sich besser beurteilen, ob die Einkommen der obersten Einkommensbezieher tatsächlich gestiegen sind.
Einen guten Überblick über die Einkommensverteilung erhält man, wenn man die Markteinkommen – Löhne, Gehälter sowie Einkommen aus unternehmerischer Tätigkeit und aus Vermögen – berücksichtigt. Solche Daten sind aus der Einkommenssteuerstatistik ersichtlich und geben ein detailliertes Bild über die Top-Einkommen und deren zeitlichen Verlauf.
Für die Schweiz liegen Daten für das steuerbare Einkommen seit dem Jahr 1917 vor, als die I. Eidgenössische Kriegssteuer eingeführt wurde; die Politik begegnete den aus dem drohenden Krieg entstehenden Lasten mit der Erhebung einer neuen Steuer auf dem Erwerb. Ab dem Jahr 1933 folgte dann eine umfassendere Einkommenssteuer, die ab 1941 in die Wehrsteuer und ab 1983 in die direkte Bundessteuer mündete.
Stabile Einkommensverteilung seit den 1970er Jahren
Die Entwicklung der Einkommensverteilung in der Schweiz ist in Abbildung 1 ersichtlich. Werden die realen Einkommenszuwächse für die Normalsteuerpflichtigen seit den 1970er Jahren betrachtet, so fällt auf, dass das Medianreineinkommen seit Mitte der 1980er Jahre relativ konstant geblieben ist, also jenes Einkommen, das gleich viele Steuerpflichtige oberhalb wie unterhalb dieses Einkommens kennt. Ähnliches gilt, wenn auch bei einem volatileren Verlauf, für das reale Durchschnittsreineinkommen. Entsprechend nahm auch der Abstand zwischen Median- und Durchschnittseinkommen nur geringfügig zu, was auf eine bemerkenswerte Stabilität der Einkommensverteilung hindeutet. Verglichen mit den frühen 1970er Jahren sind die Durchschnittseinkommen sogar um 8 Prozent gesunken, wobei das Medianeinkommen um 18 Prozent gestiegen ist.
Es überrascht daher auch nicht, dass die Entwicklung des Gini-Koeffizienten als relatives Mass für die Ungleichheit in einer Gesellschaft keine deutliche Zunahme über die Zeit aufweist. Zusammengefasst deutet nichts auf eine stark wachsende Ungleichheit der Markteinkommen in der Schweiz hin.
Kein Anstieg der Top-Einkommen
Wie sieht es aus, wenn wir uns der Entwicklung der Einkommensdezile zuwenden, also desjenigen Anteils am gesamten Einkommen, den die obersten Einkommensbezieher bezogen haben? Im Jahr 2008 verdienten die oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher etwa 32 Prozent der gesamten erzielten Einkommen – ein Wert, der bereits Anfang der 1970er Jahren erreicht wurde. Ein ähnliches Bild vermittelt die Entwicklung des obersten Hundertstels: 43 000 Steuerpflichtige stellen die Top-1-Prozent der Einkommensbezieher dar, die heute knapp 10 Prozent allen Einkommens erzielen (vgl. Abbildung 2). Der entsprechende Wert lag Anfang der 1970er Jahre sogar über 10 Prozent. Eine ausgeprägt konstante Entwicklung vollzog der obere Mittelstand (Next-4-Prozent), also jener Teil, der im Jahr 2008 vor Steuern durchschnittlich über 320 000 Franken verdiente.
Wir können somit festhalten, dass der Anteil, den die obersten Einkommensbezieher am gesamten Einkommen seit den letzten 40 Jahren auf sich vereinigen konnten, anderslautenden Berichten zum Trotz sehr konstant geblieben ist.
Interessant ist zudem der Vergleich mit dem Ausland. Während die Entwicklung der Einkommensdezile in der Schweiz über die letzten 40 Jahre relativ konstant verlief, zeigt sich in vielen entwickelten Ländern eine U-Kurve. Konkret: Grossbritannien, USA oder auch Schweden kannten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine hohe Einkommenskonzentration, die sich mit dem Übergang von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft stark abschwächte. Seit den 1970er Jahren ist insbesondere in den angelsächsisch dominierten Ländern ein Wiedererstarken der Top-Einkommen zu beobachten. Abbildung 3 gibt für verschiedene Länder die Einkommenskonzentration für das oberste 1 Prozent der Einkommensbezieher seit dem Jahr 1970 an. Anders als in der Schweiz zeigt sich, dass die obersten Einkommensbezieher heute bessergestellt sind als in den 1970er Jahren. Für die USA lässt sich dieser deutliche Anstieg insbesondere durch die steigenden Lohneinkommen und Kapitalgewinne am gesamten Einkommen erklären, wohingegen die Kapitaleinkommen weniger stark gestiegen sind.
Fazit
Während die Einkommenskonzentration in einigen Ländern seit den späten 1970er Jahren wieder zunimmt, zeichnet sich die Schweiz durch eine bemerkenswert stabile Verteilung der Einkommen aus. Unabhängig davon, wie man zu dieser Entwicklung steht: Entrüstete Meldungen über die Zunahme der Spitzensaläre von Leitungspersonen internationaler Konzerne in der Schweiz dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Top-Einkommen in der Schweiz ähnlich wie die Durchschnitts- und Medianeinkommen entwickelt haben. Es kann also nicht von einer stark wachsenden Ungleichheit in der Schweizer Gesellschaft gesprochen werden.
Dafür verantwortlich dürfte in erster Linie das fein austarierte föderale System der Schweiz sein, das zentralstaatliche Institutionen der Umverteilung mit dezentraler Steuerautonomie verbindet. Insgesamt resultiert daraus eine relativ milde Steuerlast mit nach wie vor intakten Arbeits- und Einkommensanreizen für alle Bevölkerungsschichten. Arbeiten lohnt sich in der Schweiz – nicht nur für Grossverdiener, sondern auch für Leute mit mittleren Einkommen.