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«Die WHO hat die Ängste in der ­Bevölkerung geschürt»
Pietro Vernazza, fotografiert von Daniel Jung.

«Die WHO hat die Ängste in der ­Bevölkerung geschürt»

Für Infektiologe Pietro Vernazza ist es entscheidend, dass die Schweiz auch in künftigen Krisen eine eigenständige und evidenzbasierte Gesundheitspolitik betreiben kann. Das geplante Pandemieabkommen darf unser Land darin nicht einschränken.

Herr Vernazza, Sie haben während der Coronakrise immer wieder betont, wie wichtig es sei, auch in der Öffentlichkeit Fragen zu stellen und nicht einfach «wissenschaftliche ­Wahrheiten» zu akzeptieren. Sie selber zählten damals zu diesen «Troublemaker». Waren Sie aus heutiger Sicht zu kritisch?

Nein, im Gegenteil, ich hätte noch mehr insistieren und nachhaken sollen. Ich habe immer versucht, die Pandemie zu verstehen und meine Erkenntnisse zu kommentieren. So habe ich bereits im Frühling 2020 darauf hingewiesen, dass 90 Prozent der Infektionen mild oder ohne Symptome unbemerkt verlaufen und daher Null-Covid-Strategien nicht sinnvoll sind – und lag damit richtig. Ein weiteres Beispiel ist Vitamin D, mit dem sich das angeborene Immunsystem einfach, kostengünstig, wirksam und weitgehend nebenwirkungsfrei stärken lässt – nicht nur gegen Covid. Das ist unter einigen Infektiologen weitgehend bekannt, wurde aber zu wenig publik gemacht. Studien kommen zum Schluss, dass mit einer Abgabe von Vitamin D an ältere Bevölkerungsgruppen in den USA 120 000 Todesfälle hätten vermieden werden können. Allerdings konnte ich mir in den Medien auch nicht immer Gehör verschaffen …

«Ich hätte noch mehr insistieren und nachhaken ­sollen.»

 

… aber Sie waren dort doch recht präsent.

Ich weiss aus internen Quellen, dass mich Mitarbeiter bestimmter Zeitungen oder auch von SRF nicht mehr zitieren durften.

 

Lag das daran, dass Sie als Massnahmenkritiker dem Lager zugerechnet wurden, in dem sich auch Personen tummelten, die grundsätzlich an der Schulmedizin und an Impfungen zweifeln?

Ich habe mein ganzes Berufsleben mit Impfungen gearbeitet, Impfungen erforscht, Leute zum Impfen motiviert und bin daher alles andere als ein Impfskeptiker. Aber auch wenn Impfungen wichtig sind, darf und soll man kritische Fragen stellen dürfen. In der Pandemie wurde ich von einigen Leuten gehypt, die meine Aussagen aus dem Zusammenhang rissen und für ihre Zwecke instrumentalisierten. Von diesem Lager habe ich mich klar abgegrenzt.

«Ich habe mein ganzes Berufsleben mit Impfungen gearbeitet, Impfungen erforscht, Leute zum Impfen motiviert und bin ­daher alles andere als ein Impfskeptiker. Aber auch wenn ­Impfungen wichtig sind, darf und soll man kritische Fragen stellen dürfen.»

 

Sie monierten damals auch, dass sich die Schweiz bei ihrer Pandemiepolitik stark an ausländischen Massnahmen ­orientierte. War diese Abstimmung nicht sinnvoll, weil auch das Virus bekanntlich keine Landesgrenzen kennt?

Entscheidend ist, ob man ausländische Massnahmen aus den richtigen Überlegungen übernimmt. Schweden hatte für seinen liberalen Sonderkurs gut fundierte Argumente, und die Bilanz ist nun besser als in vielen anderen Ländern, die Schweiz inklusive. Wir hätten offener sein müssen und uns bei den Massnahmen mehr von der Evidenz leiten lassen sollen. Ein Beispiel: Im Mai 2020 empfahl eine Gruppe von Infektiologen, der auch ich angehörte, dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) – basierend auf Studienergebnissen –, die Isolationsdauer von 10 Tagen auf maximal 5 Tage oder bis zur Symptomfreiheit zu verkürzen. Das BAG teilte unsere Beurteilung inhaltlich, wollte aber nicht von der Praxis im Ausland abweichen. Im Herbst 2020 legte ich Bundesrat Alain Berset meine Position dar, einer seiner Berater bemerkte danach: «Vieles, was Sie sagen, ist wissenschaftlich richtig, aber es wäre gut, wenn Sie es nicht in den Medien verbreiten würden.»

 

Zwei Forschern wurde für ihre Verdienste bei der ­Entwicklung von mRNA-Impfstoffen gegen Covid-19 vor kurzem der Nobelpreis für Medizin verliehen. Wie wichtig und ­effektiv war die Impfung für die Bewältigung der Krise?

Im Gegensatz zu klassischen Impfungen ist die Covid-Impfung keine «sterilisierende Impfung». Sie verhindert weder Ansteckung noch Übertragung, sondern reduziert vor allem das Risiko schwerer Verläufe. Die relevante Wirkung ist die zelluläre Immunantwort, die vor einer chronischen Infektion schützt. Der Erstkontakt mit dem Impfstoff führt im Immunsystem, wie übrigens auch eine Infektion, zu einer Antwort der T-Zellen, die diese Information lebenslang speichern und auch bei veränderter Virusoberfläche noch wirksam sind. Eine wiederholte «Erinnerung» durch eine erneute Impfung ist nicht notwendig. Bei der Schweinegrippeepidemie 2009 stellten wir beispielsweise fest, dass Menschen mit Geburtsjahr vor 1956 nur leicht erkrankten. Diese Menschen hatten in jungen Jahren ein ähnliches Virus «gesehen», und das Immunsystem bot auch 60 Jahre später noch einen guten Schutz.

 

Wie beurteilen Sie die Sicherheit des Covid-Impfstoffes und die Nebenwirkungen?

Es gibt kein nebenwirkungsfreies Medikament, selbst wenn es sich um ein rein pflanzliches Präparat handelt. Das gilt auch für Impfungen. Letztlich sind bei jeder Impfung die Vor- und Nachteile abzuwägen. Im Vergleich zu anderen Grippeimpfstoffen sind aber bei Covid viele Vorfälle von Impfnebenwirkungen gemeldet worden. Ich kann daher keiner Person mit gutem Gewissen empfehlen, der aktuellen Booster-Empfehlung des BAG zu folgen. Praktisch alle hatten die Krankheit schon. Der Booster bringt kaum einen Vorteil und schwächt möglicherweise das angeborene Immunsystem; Swissmedic zum Beispiel beobachtet eine Häufung von Gürtelrosen nach der Impfung.

«Der Booster bringt kaum einen Vorteil und schwächt möglicherweise das ­angeborene Immunsystem.»

 

Hat die Corona-Impfdebatte der Reputation des medizinischen Mittels der Impfung allgemein geschadet?

Ich befürchte tatsächlich, dass das noch eintreffen könnte. Dazu trägt auch das Verhalten vieler Schweizer Ärzte bei. Sie sagen ihren Patienten bei Beschwerden, dass es sich nicht um Nebenwirkungen der Impfung handeln könne, und sehen daher von einer Meldung ans BAG ab, obwohl sie dazu verpflichtet sind. Das Resultat: Bei uns werden 10mal weniger Nebenwirkungen gemeldet als beispielsweise in den Niederlanden. Wenn wir die Reputation der Impfung langfristig wieder stärken wollen, müssen wir mit den Fakten sorgfältiger umgehen.

 

Sie sprachen sich in der Coronakrise gegen staatlichen Druck auf Nichtgeimpfte aus, gegen den vorgenommenen Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben oder die ­angedachte Zweiklassenmedizin. Könnte es aber nicht Fälle geben, in denen Druck bis hin zu einer Impfpflicht ­medizinisch sinnvoll sein könnte?

Es war falsch und unverantwortlich, junge Menschen mit minimstem Risiko einer schweren Erkrankung zum Impfen zu drängen. Eine Impfpflicht könnte sinnvoll sein, wenn dadurch ein gefährliches Virus ausgerottet werden könnte, die Impfung also vor Infektion und Übertragung schützen würde. Das ist bei Grippe- und Coronaviren aber nie der Fall.

 

Wie sind Sie in Ihrer Berufslaufbahn mit der Weltgesundheits­organisation WHO in Berührung gekommen?

Ich hatte vor allem im Zuge der in den 1980er-Jahren grassierenden HIV-Aids-Epidemie in verschiedenen Expertengruppen mit der WHO mitgearbeitet. Ein Meilenstein war 2008 das Swiss Statement, in dem wir festhielten, dass Infizierte, die sich einer Therapie unterziehen, nicht mehr ansteckend sind. Die Gespräche waren jeweils offen und anregend. Allerdings waren auch damals wissenschaftliche Erkenntnisse allein nicht immer ausschlaggebend. Als ich eine vom Mainstream abweichende Evidenz mit Daten begründete – es ging um die Frage, ob das Risiko beim Analverkehr wirklich viel höher sei als beim Vaginalverkehr –, zeigte man sich zwar inhaltlich einverstanden, aber die WHO wollte ihre Aussagen dazu doch nicht ändern, weil sie diese über zwanzig Jahre aufrechterhalten hatte.

 

Hat sich Ihr Bild der WHO durch die Pandemie ­gewandelt?

In der Pandemie hatte ich keinen direkten Kontakt mehr. Aber die WHO hat die Ängste in der Bevölkerung geschürt, indem sie die Gefährlichkeit des Virus – auch nach damaligem Wissensstand – übertrieb und immer und immer wieder betonte. Die Gründe dafür sind für mich nicht nachvollziehbar.

 

Ein globaler Ansatz zur Bekämpfung einer weltweiten ­Pandemie ist aber schon wünschenswert, oder?

Zweifelsohne. Ein positives Beispiel ist wieder die HIV-Epidemie; hier trug die WHO über Jahrzehnte wesentlich zur Bekämpfung bei. Namentlich wirkte sie darauf hin, dass sich auch arme Länder Therapien leisten konnten, was die Aids-Gefahr weltweit reduzierte. In Staaten wie Russland, die sich der Zusammenarbeit verweigerten, ist die Situation auch heute noch viel schlechter. Bei Covid jedoch sind auf Druck der WHO radikale Massnahmen ohne genügende empirische Grundlage sehr rasch und global umgesetzt worden. Man muss immer vorsichtig sein, wenn nur wenige Leute die Wahrheit zu kennen glauben.

«Bei Covid sind auf Druck der WHO radikale ­Massnahmen

ohne genügende empi­rische Grundlage sehr rasch und global umgesetzt worden.»

 

Geht die WHO, die aufgrund der Erfahrungen mit der ­Pandemie ein neues Abkommen abschliessen und die ­Internationalen Gesundheitsvorschriften revidieren will, heute in die richtige Richtung?

Die Vertragsbestimmungen sind nicht immer verständlich, und es ist nicht klar, was verbindlich übernommen werden müsste. Eine so folgenschwere Entscheidung für unser Land darf nicht auf dem Verordnungsweg durchgeschleust werden. Die Schweizer Bevölkerung muss vorher genau wissen, worauf sie sich einlässt, und das letzte Wort haben.

 

Kann es sich die Schweiz als Gründungsmitglied der WHO, Sitzstaat und Pharma­hochburg überhaupt leisten, dieses ­Abkommen nicht zu unterzeichnen?

Wir müssen weiterhin die Freiheit haben, evidenzbasiert und selbständig handeln zu können, was in der Covid-Pandemie in vielen Bereichen leider nicht der Fall war. Entscheidend ist natürlich, wie man den Begriff «evidenzbasiert» definiert. Ich wurde gerade von sogenannten Faktencheckern wegen einer Äusserung zum angeborenen Immunsystem zerzaust. Dabei habe ich nur festgestellt, dass die Impfung das angeborene Immunsystem hemmt und deshalb vermehrt Gürtelrosen auftreten können. Ich kann diese Aussage nicht beweisen, aber die Evidenz dafür ist erdrückend. Man muss das ansprechen dürfen. Ich sorge mich schon ein bisschen darum, was in der Medizin und Gesundheitspolitik künftig unter «evidenzbasiert» verstanden werden könnte.

 

Kritiker unterstellen der Pharmaindustrie, die WHO zu ­instrumentalisieren, um sich langfristig hohe Gewinne ­sichern zu können. Wie haben Sie als Arzt das Geschäfts­gebaren der Pharma erlebt?

Bei HIV ist mir klargeworden, dass die Pharmaindustrie nicht nur das Wohl der Menschen verfolgt, sondern auch ihre eigenen Interessen. Das ist ihr gutes Recht, aber viele Ärzte sind sich der starken Interessenkonflikte nicht bewusst. Studien zeigen, dass die Pharmaindustrie schon mit kleinen «Investitionen» in Ärzte deren Verhalten erheblich beeinflussen kann. Die Branche geht sehr clever vor und steuert auch Patientenorganisationen.

 

Mit Blick auf die nächste Pandemie: Welche Vorkehrungen sollten die WHO und die Schweiz schon heute treffen?

Die WHO soll ihr sehr gutes internationales Überwachungssystem für Infektionserkrankungen beibehalten und ausbauen. Die Schweiz sollte zuerst die Corona­krise unabhängig aufarbeiten lassen und dann ein Gremium schaffen, das in Zukunft Massnahmen interdisziplinär und evidenzbasiert beurteilt und entsprechende Empfehlungen abgeben kann.

 

Eine Taskforce 2.0?

Nein. BAG-Abteilungsleiter Daniel Koch bezeichnete die Taskforce zu Recht als «Gruppe von Personen, die sich selber zusammengesetzt hat». Eine solche Auswahl spottet demokratischer Prinzipien, und dadurch wurden auch kaum kritische Geister einbezogen.

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