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Die Welt ist ungerecht!

Zuerst die Quizfrage: Was ist schlimmer, echte oder gefühlte Ungerechtigkeit? Die Antwort aus dem Munde von Hans-Ulrich Wehler, dem Verfasser des fünfbändigen Opus magnum «Deutsche Gesellschaftsgeschichte» und einem der renommiertesten deutschen Historiker der Gegenwart: «Das Gefühl von gefühlter Ungerechtigkeit dürfte schwerer wiegen.» Dies gab Wehler in einem «Spiegel»-Interview zu Protokoll. Anklagend. Betroffen. Ich hatte die […]

Zuerst die Quizfrage: Was ist schlimmer, echte oder gefühlte Ungerechtigkeit? Die Antwort aus dem Munde von Hans-Ulrich Wehler, dem Verfasser des fünfbändigen Opus magnum «Deutsche Gesellschaftsgeschichte» und einem der renommiertesten deutschen Historiker der Gegenwart: «Das Gefühl von gefühlter Ungerechtigkeit dürfte schwerer wiegen.» Dies gab Wehler in einem «Spiegel»-Interview zu Protokoll. Anklagend. Betroffen. Ich hatte die Zeitschrift wieder einmal gekauft, um mir ein Bild davon zu machen, was «man» so denkt. Und ich kam voll auf meine Kosten.

Weiter war da zu lesen: Wir leben im «bisweilen grenzenlos habgierigen Turbokapitalismus». Oder: «Die Oetkers hier in Bielefeld verfügen mittlerweile über viele Milliarden Euro privater Mittel. Das sprengt jedes Vorstellungsvermögen, auch wenn ich deshalb nicht dazu aufrufe, die Villen zu stürmen.» Da ruft also ein angesehener Professor öffentlich dazu auf, die Villen zu stürmen, im grössten deutschen Wochenmagazin. Unwidersprochen. Er sagt ja bloss, was «man» so denkt.

Das «Man» kommt nach einem in Demokratien bekannten Muster zustande: Ich behaupte das, von dem ich glaube, dass die Mehrheit es behauptet. So wird eine Meinung zur Mehrheitsmeinung – obwohl dahinter weder eine Mehrheit noch eine Wirklichkeit steht.

Fakt ist: Wir leben in einer Gesellschaft des entfesselten Direktvergleichs. Jeder vergleicht sich mit jedem und gebärdet sich zugleich als Richter über alle anderen. Dabei läuft der Vergleich nach oben auf eine ständige Erniedrigung hinaus. Ist es gerecht, dass der einstige Schulkamerad zehnmal mehr verdient als ich, der ich doch erwiesenermassen weder dümmer noch weniger fleissig bin als er? Kann es denn mit rechten Dingen zugehen, wenn der Nachbar einen Porsche vor seinem Haus stehen hat, während ich nicht mal das Geld habe, einen zu leasen? Diese Welt ist ungerecht! Sie ist ungerecht, weil sie meinen plausiblen Massstäben widerspricht. Alles könnte auch anders sein, wenn nicht die anderen das Sagen hätten. Und überhaupt: Woher nehmen die anderen das Recht, über den Wert meiner Arbeit zu richten? Ich weiss doch besser als sie, was meine Arbeit wert ist, was sie mir abverlangt, wie viel ich in sie investiere. Ich bin schutzlos dem Diktat der anderen unterworfen. Das ziemt sich einfach nicht für eine fortschrittliche Gesellschaft.

Wer die Welt aus dieser Warte betrachtet, hat sich die letzten Reste marktwirtschaftlichen Denkens erfolgreich abtrainiert. Dass es die anderen sind, die mit ihren freiwilligen Kaufentscheidungen über den gesellschaftlichen Wert meiner Tätigkeit bestimmen, stellt sich so nicht als gelebte Demokratie, sondern als Skandal sondergleichen dar.

Aber eben: so oder ähnlich denkt «man» heute.

Es gehört zu den Paradoxien avancierter Wohlstandsgesellschaften, dass sich eine übersteigerte Form des Egozentrismus mit vermeintlich objektiven Gerechtigkeitsvorstellungen paart. Je ichbezogener die Sicht des Bürgers auf die Welt sich darstellt, desto stärker wird sein Bedürfnis nach einem vermeintlich über allen subjektiven Präferenzen stehenden Agenten – der Staat soll gefälligst meine Vorstellungen durchsetzen. Ein ebenso erstaunlicher Charakterzug moderner Gesellschaften besteht umgekehrt darin, dass objektive Errungenschaften in subjektive Defizite umgedeutet werden. Je mehr ich verdiene, desto ausgebeuteter komme ich mir vor – weil andere noch mehr verdienen. Je gesünder ich bin, desto stärker empfinde ich mein Leiden – weil es anderen noch viel besser geht. Je mehr ich habe, desto ärmer fühle ich mich – weil andere noch viel mehr haben.

Keine Frage: die Einübung von Mangeloptiken ist ein Luxusphänomen. Darum zum Schluss die Facts: von Wehlerschem Turbokapitalismus kann bei Staats-, Steuer- und Sozialquoten von 50 Prozent keine Rede sein. Die freie Marktwirtschaft wurde längst durch das ersetzt, was Raymond Aron bereits in den 1960er Jahren treffend als «flexible Planwirtschaft» beschrieb. Eigentum hat sich als staatliche Leihgabe auf Zeit erhalten. Seit es politische Grosskörper wie die unsrigen gibt, war die Gesellschaft nie egalitärer und umverteilungsaffiner als heute. Die oberen 10 Prozent der Bestverdiener bezahlen in der Schweiz 80 Prozent der Einkommenssteuern, in Deutschland bestreiten die obersten 10 Prozent 50 Prozent des Aufkommens. Das müsste ein Mann mit historischem Sinn wie Wehler eigentlich wissen. Die Frage ist bloss: Warum freut er sich nicht darüber?

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