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Die Welt als
Wille und Verstellung

Kann man einfach nur mit angelernter Fachsprache und etwas forschem Auftreten als Oberarzt für Psychiatrie durchkommen? Ja, kann man.

 

Gert Postel ist einmal von einem Gericht zu vier Jahren Haft für seine zweijährige Tätigkeit als psychiatrischer Oberarzt in einer Klinik in der Nähe von Leipzig verurteilt worden – weil er eben kein psychiatrischer Oberarzt, sondern nur ausgebildeter Postbote mit mittelmässigem Hauptschulabschluss ist.

Wie schafft man das? Kann man durch den trickreichen Einsatz von Sprache nicht nur die Tonlage eines Gesprächs, sondern womöglich auch die Wirklichkeit ein Stück weit verändern? Ja, meint Gert Postel, der Psychiatrie für reine Wortakrobatik, letztlich also Scharlatanerie hält. Ich hole ihn in der Eingangshalle des Hotels «Baur au Lac» in Zürich zum Gespräch ab und schlendere mit ihm zur Kunsthalle. Wer erwartet mich? Ein Werber, ein Verführer, ein Sprach- und Menschenmanipulator? Postel sieht sich am ehesten als Hochstapler unter Hochstaplern. «Ich hätte Sie damals jederzeit zwangseinweisen lassen können», eröffnet er mir mit der freundlichen Bestimmtheit des falschen Arztes a.D. – und beisst in sein Pastrami-Sandwich.

«Ich bin der ehrlichste Mensch, den man sich vorstellen kann.»

Unnahbar, arrogant sein: Wer fragt, führt

Schon bei der ersten Begegnung mit ihm fällt es mir auf: Postel dampft jede zwischenmenschliche Distanz in kürzester Zeit ein; mit Bemerkungen über das Wetter hält er sich nicht lange auf. Schon nach wenigen Minuten sinnieren wir beim Spaziergang darüber, warum ich als Jurist denn nun Journalist sei, als Jurist verdiene man doch mehr; ausserdem will er unbedingt meine Examensnoten erfahren. Das Stellen vieler Fragen ist – wie er mir später erklärt – Teil seiner Kommunikationsstrategie: Wer fragt, führt. Viele Gesprächspartner sind zudem geschmeichelt, wenn sie gefragt werden, es suggeriert Interesse am Gegenüber. Ich kann das gut nachvollziehen. Postel erschlägt einen fast mit einer brutalen Form von Empathie: Er saugt Infos aus seinem Gesprächspartner im gleichen Masse, wie er ihm zu verstehen gibt, dass man mit ihm auf der gleichen Welle liegt. Postel will möglichst schnell verstehen, wie jemand «tickt».

Auf zu bohrende Fragen reagiert Postel abweisend und macht dann auch mal plötzlich «dicht», weiss ich aus Interviews, die ich auf YouTube gesehen habe. Er kann mal höchst einnehmend freundlich und dann wieder genauso abweisend unfreundlich sein. Das musste er als falscher Arzt aber auch: Man kann sich sehr gut vorstellen, wie er in der Klinik im sächsischen Zschadrass schnoddrig, kurz angebunden und auch arrogant mit Kollegen und Patienten umging. Postel meint, dass er so nicht wirklich sei und auch zu normalen Menschen, Freunden gar, nie unehrlich sein könnte: «Ich bin der ehrlichste Mensch, den man sich vorstellen kann.» Den persönlichen Kontakt zu Mitarbeitern blockte er mit seiner nassforschen Art stets ab. Freundschaften innerhalb des Klinikbetriebs hätten seine Rolle gefährdet.

Postel ist belesen, intelligent und er hat eine empathische Begabung – all das kann man schwerlich bestreiten und man kann das auch nicht von allen Akademikern, geschweige denn Ärzten behaupten. Er hat also durchaus Fähigkeiten, die ihm geholfen haben, seine Rolle zu spielen und lange damit durchzukommen. Für ihn war die Hochstapelei eine Art «Kunstwerk», ein tägliches Happening. Das Buch «Die Welt als Wille und Vorstellung» des Philosophen Arthur Schopenhauer wurde für ihn quasi zu einer Blaupause, zu einer Art Schlüssel für eine neue Welt. Er merkte, dass Realität nicht das ist, was da ist, sondern das, was man durch willentliche Steuerung selbst erschaffen kann. Wenn er will, dass andere ihm glauben, dass er Arzt ist, dann kann er es so einrichten. Es war dann so, als hätte er einen Zauberspruch aufgesagt, mit dem ihm alle aufs Wort folgten. Die plötzlich erlangte Macht über Menschen muss für einen Postboten wie eine Droge gewirkt haben. Lange plagten ihn Minderwertigkeitskomplexe, erzählt er mir. Er suchte sich immer Freundinnen mit akademischem Hintergrund, fühlte sich ihnen aber häufig unterlegen, was ihn quälte. Plötzlich war er wer. Eine Autoritätsperson.

38 Ärzte bewerben sich – den Job bekommt der Postbote

Man muss nicht gut finden, was Postel getan hat – die Zunft der Psychiater und Psychologen hasst ihn heute verständlicherweise für sein Schelmenstück. Doch man fragt sich schon, wie das sein kann: Da werden 39 überwiegend promovierte, teils sogar habilitierte Ärzte zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen – und wer erhält am Ende den Job? Der Postbote! Das Thema seines Bewerbungsvortrags hätte dreister nicht sein können: «Pseudologia Fantastica – die Lügensucht im Dienste der Ich-Überhöhung am literarischen Beispiel der Figur des Felix Krull aus dem gleichnamigen Roman von Thomas Mann». Frechheit siegt eben. Nachfragen erhält er keine. Auf die Nennung seines Doktorarbeitsthemas «Kognitive Verzerrungen in der stereotypen Urteilsbildung» (was nach seiner Aussage nur eine Ansammlung leerer Begriffe ist) bekommt er gesagt: «Wunderbar, Sie werden sich bei uns sicher wohlfühlen.»

Postel mag auf der akademischen Leiter nicht weit gekommen sein, aber er hat dafür nie aufgehört zu lernen: Jedes Gespräch, jede Begegnung, seine gesamte Umwelt ist für ihn eine Art Volkshochschule, ein ständiges learning by doing. Postel imprägnierte und imitierte eine Fachsprache und machte sich so zum Arzt. Kurz kommt mir der Gedanke: Wenn ich als gelernter Jurist Journa­lismus betreibe – ich habe nie eine Journalistenschule von innen gesehen –, kann dann nicht auch ein Postbote ein Psychiater sein? Er traut sich übrigens auch noch die Rolle des Soziologen oder aber des Strafrichters zu, und auch Aussenminister oder Bundespräsident könnte er sein. Nicht aber ein Zivilrechtler oder ein Chirurg: «Die müssen wirklich was können.» Es geht ihm also nicht pauschal darum, Akademiker blosszustellen oder geringzuschätzen. Er will vielmehr aufzeigen, dass es für manche Tätigkeiten weit weniger Wissen braucht als vielmehr eine Art von Begabung und Berufung.

Einfühlung ist ein Talent, das man hat oder nicht hat. Es ist der Zugang zur Psyche eines Menschen, was ihn nach eigenen Angaben von seinen Kollegen unterschied: Nur wenige machten sich die Mühe, die Patienten wirklich zu verstehen, die meisten verschrieben einfach gleich irgendeine Standardmedikation. Die Schelte von Postel mag pauschal und böse sein, aber er trifft doch einen Punkt: Psychiater, die geschult wurden, Menschen zu durchschauen, und dann nicht mal einem Postboten auf die Schliche kommen. Wie wenig Gespür haben sie dann wohl erst für die Patienten?

«Wenn Sie ganz fest dran glauben, sind Sieʼs irgendwann»

Ich las Postels Buch «Doktorspiele» vor etwa 15 Jahren. Wenn man ihn also so schon etwas kennt, fällt einem auf, dass er fast wortwörtlich in Versatzstücken, die man schon aus anderen Interviews kennt, spricht: «Sie werden sich bei uns sicher wohlfühlen», «Ich bin ein Hochstapler unter Hochstaplern», Felix Krull, das Doktorarbeitsthema – als hätte er eine Art Drehbuch zu befolgen. Meint er das so, oder ist er inzwischen nicht selbst längst Teil einer neuen Rolle geworden, ein PR-Mann in eigener Sache, mit Katze, Pfeife und Twitter-Kanal?

Ich für meinen Teil ziehe es weiter vor, von echten Ärzten behandelt zu werden, ohne diesen gleichwohl alles zu glauben. Auch wenn Postel beteuert, dass stets Kollegen die Arbeit machten, wenn es ernst wurde: Theoretisch hätten unter seiner Ägide Pa­tienten geschädigt werden können, wenn er allein und im Notfall falsch reagiert hätte. Postel macht es sich also etwas arg einfach mit seinem Motto: «Wenn es aussieht wie eine Ente, watschelt wie eine Ente, schnattert wie eine Ente – dann ist es eine Ente.» Bei ihm ist die Ente eben schlicht der Psychiater. «Wenn Sie ganz fest dran glauben, sind Sieʼs irgendwann», meint er. Dass man es auch dann nicht «ist», weiss Postel natürlich. Er hatte keine Wahnvorstellung, tatsächlich ein Arzt zu sein. Aber er hat die perfekte Mimikry hinbekommen, mit Fachjargon und richtigem Habitus: Er wählte bevorzugt klassische, aber zugleich etwas sportliche Kleidung. Wie sie zu einem jungen Akademiker eben passt.

Aufgeflogen ist Postel letztlich, weil ihn die Eltern einer Ärztekollegin erkannten. Sie kamen aus Flensburg, wo Postel mit 24 Jahren schon einmal als Arzt praktiziert hatte und aufgeflogen war. Da hiess er noch Dr. Dr. Clemens Bartholdy. «Ein schöner Name», findet Postel immer noch: «Clemens» heisst «der Sanftmütige» und «Bartholdy» klingt nach Musik. Aber gleich zwei Doktortitel bei jemandem, der sich altersmässig als Anfang 30 ausgibt? Ich finde das stark übertrieben und auch verdächtig. Postel winkt ab. Bei der Einstellung hatte man ihn das zwar auch gefragt, wie er das hinbekommen habe. Er hatte nur schnoddrig geantwortet: «Ich habe in Bayern studiert, da wird eben noch richtig gearbeitet» – und war eingestellt. «Genau solche Leute brauchen wir hier.» Auch diesen Satz hat man von ihm schon oft gehört. Aber es klingt immer wieder gut, das muss ich zugeben. «Worauf es ankommt», so Postel, «ist nicht Wahrheit, sondern Plausibilität.» Adorno hätte ihn gehasst, denke ich mir. Für Postel gibt es ein richtiges Leben im falschen.

Am Ende wird er von der gleichen Strafkammer verurteilt, vor der er zuvor als Gutachter tätig war. Von einem Richter des Bundesgerichtshofs bekam Postel den Ritterschlag: «Postel ist besser als die professionellen Gutachter gewesen», befand Richter Armin Nack. Keines seiner Gutachten wurde später revidiert. Er kam über verschlungene Wege letztlich immer zu akzeptablen Ergebnissen. Postel gefällt das natürlich und er bemerkt schelmisch: «Ist das nicht verrückt? Da wird man von einem ranghöheren Gericht für etwas gelobt, wofür man von einem rangniedrigeren Gericht verurteilt worden ist!» Klar ist: Mit Postel als vorsitzendem Richter wäre das nicht passiert.

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