Die Welle
Drei Wochen habe ich nun in Hanoi verbracht. Mittlerweile habe ich nicht nur gelernt, dass alles – aber wirklich alles – auf einer Vespa transportiert werden kann, vom sechs Fuss hohen Kühlschrank über eine vierstöckige Goldfischzucht bis zum geschlachteten Rinderpaar; ich beherrsche nun auch beinahe die vietnamesische Coolness beim Überqueren der Strassen. Man muss sich […]
Drei Wochen habe ich nun in Hanoi verbracht. Mittlerweile habe ich nicht nur gelernt, dass alles – aber wirklich alles – auf einer Vespa transportiert werden kann, vom sechs Fuss hohen Kühlschrank über eine vierstöckige Goldfischzucht bis zum geschlachteten Rinderpaar; ich beherrsche nun auch beinahe die vietnamesische Coolness beim Überqueren der Strassen. Man muss sich einfach gehen lassen, nicht zu viel überlegen, die Dinge einfach fliessen lassen. Da ich nicht annehme, dass die Vietnamesen ihren Tag mit acht Tiger-Bieren beginnen – so viel brauchte es, damit ich mich erstmals gehen lassen konnte –, beschleicht mich der Verdacht, dass es sich dabei um eine urvietnamesische Lebenseinstellung handelt. Es geht darum, irgendwie von A nach B zu kommen und sich dabei nicht zu sehr anzustellen. Was ich zunächst nur unter Lebensmüdigkeit einordnen konnte, erscheint mir nun immer sympathischer.
Sympathie allein hilft aber bei der Umsetzung nicht. Ich lerne, aber alte Muster lassen sich so schwer abschütteln wie tollwütige Hunde. Eine Anekdote mag das verdeutlichen: Ich habe mehrere Dutzend Strassen überquert und mir in einem einigermassen anständigen Kleidergeschäft – anständig, weil es in diesem Laden eine Auswahl an Grössen für ein Kleidungsstück gab, wohingegen in den meisten vietnamesischen Geschäften Unikate verkauft werden – Jeans gekauft. An der Kasse bezahlte ich und fragte, ob es möglich wäre, das Etikett abzuschneiden. Der Verkäufer antwortete nicht, denn Zustimmung oder Widerspruch scheint in dieser Kultur ein Fremdwort zu sein. Er begann sogleich, mit den Zähnen am Faden herumzukauen, bis dieser schliesslich dem zermalmenden Gebiss nachgab. Scheren sind ja schliesslich auch nur Äusserlichkeiten, wenn’s mit den körpereigenen Werkzeugen ebenso hinhaut. Er packte meine nun etikettenfreie Hose in eine Tüte und streckte mir diese entgegen. Gelächelt wurde natürlich nicht. Auch auf ein «Adieu» wartet man hier vergebens. Es geht ja schliesslich nur um den Austausch von Dong (die vietnamesische Währung) und Hose. Von A nach B, ohne sich anzustellen. Richtig, hatte ich aber zu dem Zeitpunkt schon wieder vergessen.
Wie ich dann mit meiner Hose in der Tüte nach einem (anständigen) Kaffee Ausschau hielt, fiel mir ein anderer Verkehrsteilnehmer auf, der zappelnd auf seiner angehaltenen Vespa sass. Mit einer Hand nestelte er am Kragen seines Hemdes herum. Er zog und kratzte sich. Riss und zog, bis sich etwas löste. Bis sich der Faden mit dem Etikett löste. Er warf es auf den Boden – Kehrichtabfuhr heisst hier Strassenfegen – und gab Gas, mischte sich frei von aller Sorge in den mörderischen Verkehr, der vielleicht so einwandfrei funktioniert, weil jeder sein Ziel vor Augen hat und irgendwie durchkommen will. Von A nach B. Ohne sich anzustellen. Vor allem, wenn im dreigeschossigen Käfigturm auf dem Packträger die lästigen Hühner gackern und die Gänse schnattern.
Da war sie wieder: die Welle von Sympathie, die mich am Ufer des reissenden Verkehrsstroms überkam und auf deren Gischt ich mich zum nächsten Café treiben liess. Das nächste anständige Café – also nicht der Vietnamese, sondern der Italiener – befand sich inmitten eines mehrspurigen Verkehrskreisels. Wer wagt, gewinnt.