Die Volksseele im Rechtsstaat
Im Mai vor zwei Jahren nahm das Volk an der Urne die sogenannte «Pädophilen-Initiative» an. Damit sagte es einmal mehr deutlich Ja zu einer Vorlage, die «ein Zeichen» zu setzen gedachte: Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen, Punkt. Kritiker warnten, der Initiativtext sei mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht zu vereinen. Sie verwiesen beispielsweise auf den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, der jedem Beschuldigten das Recht auf eine richterliche Beurteilung seines Einzelfalls garantiert – ein wichtiger Schutz vor behördlicher Willkür. Doch die Warnungen fanden kein Gehör. Damit stehen Bundesrat und Parlament nun vor einem altbekannten Dilemma: Wird die Volksinitiative wortgetreu umgesetzt, werden grundlegende Verfassungsprinzipien verletzt. Erwartungsgemäss tut sich die zuständige Rechtskommission des Ständerats bei der Umsetzung der Pädophilen-Initiative schwer. Sie hat sich zu einer Lösung mit Härtefallklausel durchgerungen. Die Details sind noch offen. Eine Minderheit, angeführt von Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch, möchte die Initiative am liebsten gar nicht in einem Gesetz umsetzen und die Verfassungsnorm für die Richter als direkt anwendbar erklären.
Aus meiner Sicht ist die Mehrheit der Ständeratskommission auf dem richtigen Weg: Das Parlament muss zwar den verfassungsmässigen Initiativtext so wortgetreu wie möglich umsetzen. Aber selbst wenn die Volksseele brodelt, müssen geltende rechtsstaatliche Prinzipien eingehalten werden. In einem Rechtsstaat ist keine Macht unbegrenzt, auch die des Volkes nicht. Das Parlament muss also bei der Umsetzung von Initiativen die verschiedenen Verfassungsbestimmungen abwägen. Im konkreten Fall könnte das heissen, das bestehende Gesetz zu Arbeitsverboten für Pädophile der Initiative gemäss zu verschärfen, die Schwere eines Delikts aber trotzdem zu berücksichtigen. Eine solche solide Rechtsstaatlichkeit vermindert den Schutz unserer Kinder und anderer verletzlicher Personen nicht – im Gegenteil.