Die vielen Nullen sind das Problem
Wer weiss, wie viel die Konjunktur-, Stimulierungs- und Infrastrukturprogramme gekostet haben, die US-Präsident Barack Obama in den zwei Jahren seiner Amtszeit aufgegleist hat? Und wer erinnert sich, mit wie vielen tausend Milliarden Dollar der amerikanische Staat in der Kreide steht? Die meisten dürften bereits vor einiger Zeit damit aufgehört haben, die Nullen zu zählen. So […]
Wer weiss, wie viel die Konjunktur-, Stimulierungs- und Infrastrukturprogramme gekostet haben, die US-Präsident Barack Obama in den zwei Jahren seiner Amtszeit aufgegleist hat? Und wer erinnert sich, mit wie vielen tausend Milliarden Dollar der amerikanische Staat in der Kreide steht? Die meisten dürften bereits vor einiger Zeit damit aufgehört haben, die Nullen zu zählen. So what? Die Arbeitslosigkeit in den USA geht zurück, Chrysler, 2009 noch insolvent, peilt für 2011 die Gewinnzone an, General Motors verdient bereits wieder gutes Geld, die amerikanischen Geschäftsbanken fahren satte Gewinne ein (die sie mitunter dem «quantative easing» verdanken, dem Kauf amerikanischer Staatsanleihen durch Gratisgeld der FED, aber immerhin). Wer ist so zynisch, die allseits frohen Botschaften schon wieder schlechtzureden, bevor sie überhaupt eine Chance hatten, sich 2011 zu bestätigen?
Auch die Befindlichkeit der Europäer hat sich merklich erholt. Die Buchverluste der Banken wurden korrigiert, die Schrottpapiere sind wie von Zauberhand aus den Bilanzen verschwunden, die grossen Finanzinstitute erzielen wieder Profite, die den ehrgeizigen Aktionären aber natürlich wiederum nicht genügen. Waren Griechenland und Irland noch vor wenigen Monaten dem Bankrott nahe, geht es nun auch mit der Realwirtschaft der europäischen Länder wieder aufwärts. Der sogenannte Rettungsschirm der EU hat aller Unkenrufe zum Trotz seine Wirkung getan (wie viele Milliarden waren es schon wieder?), der Euro hat sich stabilisiert. Die Klagen der osteuropäischen Staaten über die hohen Kosten, die ihnen die Verzinsung des Fremdkapitals einst verursacht hatten, sind verstummt, Deutschland rühmt sich wieder seines Status als Exportwirtschaft, Frankreich pflegt wie zu besten Zeiten grosse welt- und finanzpolitische Ambitionen, die Briten rüsten ihre Banken auf, und Italien geht es ohnehin immer besser, als alle Nichtitaliener glauben.
Die globalen Aktienmärkte entwickeln sich im grossen und ganzen positiv, die Märkte aufstrebender Länder werfen trotz Inflation hohe Renditen ab, die Konjunkturprognosen werden auch in westlichen Volkswirtschaften ständig nach oben angepasst, so etwas wie eine Entspanntheit, ein sanfter Optimismus macht sich breit. In der Schweiz weicht die in den letzten drei Jahren kultivierte Freude darüber (oder war es Schadenfreude?), dass wir von drastischen Folgen der Krise verschont blieben, einem neuen Selbstbewusstsein. Da kann man sich auch mit einem starken Franken und einer offensiv agierenden Nationalbank arrangieren. Die Schweizer profitieren, wie alle anderen auch, von einer Weltwirtschaft, die Tritt gefasst hat, die Arbeitslosigkeit nimmt auch hierzulande weiter ab, die Gewinne zu, ebenso wie die Wachstumserwartungen und das Gefühl, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise eigentlich bloss ein herbeigeredetes, mithin selbstinduziertes und also völlig deplaciertes Schreckensgespenst war. Getrübt wird die gute Stimmung bloss durch die Bilder des verheerenden Tsunamis, der Japan hart getroffen hat. Doch sind Japaner hart im Nehmen, sie werden sich aufraffen, und ihre Volkswirtschaft wird dank «Kobe-Effekt» von den neuen Investitionen in den Wiederaufbau profitieren, jedenfalls die erstarkende Weltwirtschaft nicht wirklich in Mitleidenschaft ziehen.
Alles ist gut. Die Normalität ist wieder hergestellt. Wie konnten wir bloss so verrückt sein, sie schlechtzureden?
Was, wenn es sich genau umgekehrt verhält: nichts ist gut, und wir sind gerade dabei, das Nichts wieder schönzureden? Die Normalität, schrieb sinngemäss der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, ist der wahre Wahnsinn.
Die Schrottpapiere der Banken sind nicht verschwunden, die Realwirtschaft hat sich nicht erholt, sondern ist bloss mit Gratisgeld vollgepumpt, die Stimulierungsprogramme stimulieren nicht die Produktivität, sondern bloss die Inflation. – Über alledem schwebt das Damoklesschwert der realen Zahlen. Denn seit wann haben Nullen die Kraft, Probleme zu lösen?